Als Papst Benedikt XVI. Anfang November 2010 Spanien besuchte, zeigte er sich besorgt. Spanien sei zwar immer ein sehr katholisches Land gewesen, es habe aber, "wie wir in den dreißiger Jahren gesehen haben", auch einen "starken und aggressiven Säkularismus" hervorgebracht.
In Spanien muss man kein/e HistorikerIn sein, um zu wissen, dass Joseph Ratzinger mit diesem Ausspruch auf die Zweite Republik (1931-1939) und die Zeit des Bürgerkrieges (1936-1939) anspielte.
Mit verschiedenen Gesetzen war damals versucht worden, den im europäischen Vergleich extrem großen Einfluss der katholischen Kirche auf Politik und Kultur zu brechen: ihren Grundbesitz zu enteignen, sie aus dem Banken- und vor allem aus dem Bildungswesen zu verdrängen. Das größte Trauma aus der Sicht der Kirche blieben aber wohl die antiklerikalen Ausschreitungen zu Beginn des Bürgerkrieges. In den revolutionären Wirren wie auch Strategien der Linken gegen den Putsch unter General Franco wurden Kirchen geplündert und in Brand gesetzt und auch Geistliche ermordet.
Wenn die liberale Tageszeitung El País den Besuch Ratzingers mit den Worten kommentiert, der Papst „belebe das Phantasma des Antiklerikalismus“, scheint das selbst ein Versuch zu sein, die Wogen glatt zu halten. (1) Denn um ein bloßes Phantasma handelt es sich kaum.
Dass der Antiklerikalismus real war, zeigt auch die Arbeit des Künstlers Pedro G. Romero „Archivo F.X.“.
Das ungewöhnliche Archiv, an dem Romero seit mehr als zehn Jahren arbeitet, war zeitgleich mit dem Papst-Besuch auf der Manifesta 8 im Südspanischen Cartagena zu sehen. (2)
Das hätte das ultrakonservative Kirchenoberhaupt noch mehr beunruhigen müssen: Indem das Archiv Bilder und Berichte aus der Zeit zwischen 1845 und 1945 versammelt, macht es deutlich, dass der Antiklerikalismus in Spanien keinesfalls ein alleiniges Phänomen der 1930er Jahre war.
Das Archiv enthält mittlerweile mehr als 6.000 Bilder, die Präsentation in Cartagena war vor allem lokalen Ereignissen in der Region Murcia gewidmet, in der Cartagena liegt. Weder die Republik noch die Spanische Revolution von 1936 waren also isolierte Phasen in Sachen anti-kirchlichen Engagements.
Romeros Archiv allerdings wäre wohl keine Kunst, wenn es die Bilder einfach nur sammeln würde. Im Feld der zeitgenössischen Kunst findet seit Jahren eine lebhafte Auseinandersetzung über das Archiv im Allgemeinen und die Tätigkeiten des Archivierens statt.
Das Archiv wird dabei nicht nur als Aufbewahrungsort von Gegenständen begriffen. Vielmehr, heißt es in einem der Standardwerke zum Thema, sei es als ein „Ort [zu verstehen], an dem sich, um mit Derrida zu sprechen, die Zeichen versammelt finden.“ (3) Die Zeichen müssen geordnet und mit Bedeutung versehen werden. Dinge aller Art, so die Grundannahme, sprechen nicht für sich, sondern erhalten und ergeben nur innerhalb ihrer Ordnung einen Sinn. Verändert sich der ordnende Kontext, wird sich auch der Sinn der Gegenstände verschieben.
Hier setzt auch Romero an und ein. Die Bilder von ausgebrannten Kirchen, eingerissenen Gemälden und beschädigten Heiligenbildern sind in seinem Archiv nicht nach dem benannt, was sie zeigen. Auch sind sie nicht chronologisch geordnet. Stattdessen hat Romero sie nach Assoziation sortiert, die ihm angesichts der Bildinhalte oder mit ihnen verbundenen Konnotationen kamen.
Beides, also die wirkliche Begebenheit und die Bezugnahme des Künstlers, ist jeweils neben bzw. unter dem Foto zu lesen. Beispiel: Das Bild von 1937 mit dem Titel „René Magritte“ zeigt eine Madonnenfigur aus Holz aus dem 15. Jahrhundert, der das Gesicht abgeschlagen und statt Jesuskind in die Arme gelegt wurde.
Wo vorher das Gesicht war, ist nun eine schraffiert wirkende Fläche, der Jesusfigur fehlt der Oberkörper, das Marienantlitz ist an deren Füßen falsch platziert. Kennt man die Bilder des belgischen Surrealisten Magritte, ist auch die Irritation durch leichtes Versetzen der gewohnten Anordnungen aus dessen Malerei durchaus wiederzuerkennen. „Arc de Triomphe for Workers“ zeigt auf einem Bild vom September 1936 eine ausgebrannte Kirche, im Vordergrund ein Rundbogen, dahinter zu sehen: Ein Loch im Dach. Benannt ist das Bild nach einer Arbeit des Künstlers Gordon Matta-Clark, der in 1970er Jahren geometrische Figuren in Gebäude schnitt.
Sein als „Anarchitektur“ bezeichnetes Werk verband, grob gesagt, eine Befragung der Form in der Moderne mit einer Kritik an der Herrschaft durch Architektur.
Beide Beispiele schaffen vielleicht schon einen Endruck von Romeros Vorgehen. So wie der originale Bildinhalt akribisch notiert ist, folgen auch die titelgebenden Assoziationen einer relativ strengen Logik. Sie stammen nämlich vornehmlich aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, und zwar aus deren gesellschaftspolitisch engagierten bzw. motivierten Teilbereichen. Romero knüpft also zwei Geschichten aneinander: Die der radikalen Bilderzerstörung, des antiklerikalen Ikonoklasmus, mit derjenigen der radikalen Bildfindung, also der avantgardistischen und postavantgardistischen Versuche, der um sich selbst kreisenden Kunstwerkproduktion ein produktives Ende zu setzen.
Der Künstler hebt somit die Bedeutung hervor, die der Umgang mit Bildern nicht nur für ästhetische, sondern auch für politische und soziale Gemeinsamkeiten hat.
Ergibt sich der Bildwitz der Archivinhalte in vielen Fällen nur unter der Voraussetzung einer Kenntnis der modernen Kunstgeschichte, reicht für andere Bild-Text-Kombinationen auch eine gewisse Vertrautheit mit der Geschichte der radikalen Linken.
Unter dem Titel „Anti-globalisación“ findet sich das Bild einer beidseitig abfotografierten 10-Centimos-Münze vom Mai 1937. Die gestanzte Schrift auf der Rückseite ist zu einem Teil abgekratzt: es fehlt das Wort „católica“, übrig bleibt „cooperativa mutúa“ („gegenseitige Kooperation“). Den in den 1930er Jahren beschlagnahmten Münzen wurde der Hinweis auf die katholische Organisation entwendet, was übrig blieb, erinnerte eher an Piotr Kropotkins „gegenseitige Hilfe“ als an christliche Nächstenliebe.
Damit findet sich im „Archivo F.X.“ auch der Anspruch auf eine andere Wirtschaftsform, der in den Protesten gegen die Welthandelsorganisation in Seattle 1999 seinen globalisierungskritischen Ausdruck auf die Straße brachte. Wie die eingekratzten Buchstaben „F.A.I.“ (für Federación Anarquista Ibérica, Iberische Anarchistische Föderation) auf einer Heiligenfigur sind auch die entfernten Lettern auf den Münzen Spuren des Sozialrevolutionären, die im neuen, künstlerischen Kontext vielleicht effektiver archiviert sind als zwischen irgendwelchen Buchdeckeln.
Während der Papst im Nachhinein den von der damaligen katholischen Kirche – mit Ausnahme der des Baskenlandes – unterstützten Aufstand der Generäle und schließlich auch die im Namen des katholischen Spanien begründete Franco-Diktatur implizit rechtfertigte, ist Romeros Archiv durchaus auch ein geschichtspolitisches Gegenmodell. Denn es klagt den Ikonoklasmus nicht an, sondern stellt ihn durch die Verknüpfung mit den wesentlichen radikalen Strömungen der modernen Kunst als Teil einer emanzipatorisch-utopischen Suche dar.
Indem es sich in die Diskussionen einklinkt, welche Rolle den Bildern bei solchen Suchbewegungen zukommt, verweist es auch auf das, was Kunst heute u.a. leisten kann: Ordnungen kombinieren und durcheinander bringen, verwirren und damit ein paar neue Bedeutungen und Sinn stiften.
(*) Ikonoklasmus (altgr. "Bild, Abbild", "zerbrechen"), Zerstörung heiliger Bilder oder Denkmäler der eigenen Religion (Bildersturm).
(1) El País, 7.11.2010, "El papa revive el fantasma del anticlericalismo", S. 7f.
(2) Die Manifesta ist eine alle zwei Jahre an unterschiedlichen Orten Europas stattfindende und von verschiedenen KuratorInnen-Teams betreute Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Die Manifesta 8 findet noch bis zum 9. Januar 2011 in Cartagena und Murcia, der Hauptstadt der gleichnamigen Region in Südspanien statt. www.manifesta8.com
(3) Beatrice von Bismarck, Hans-Peter Feldmann, Hans Ulrich Obrist, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig (Hg.): INTERARCHIVE. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld. Verlag der Buchhandlung Walther König, Lüneburg/Köln 2002.
Anmerkungen
Pedro G. Romero: Archivo F.X.
Auf der Manifesta 8 (9.10.2010-09.01.2011) ist der Hauptteil der Arbeit Romeros im Centro Social de Santa Lucia, Cartagena, zu sehen. Teile daraus finden sich auch im Internet: