"Die spinnen, die Franzosen" entblödete sich ein Kommentator des "Spiegel" (43/10, S. 130) nicht, in Umkehrung eines Spruchs von Asterix' Freund Obelix zu fragen ("Die spinnen, die Römer"), und mit ihm fragte die gesamte bürgerliche Presse Deutschlands: Wie können die sich nur wegen so einer kleinen Rentenreform so echauffieren? Die bürgerliche Presse übersah dabei meist, dass die französischen ArbeiterInnen endlich von ihrem zynischen Herrscher Sarkozy die Schnauze voll hatten. Die Rentenreform war da nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dazu wurde kolportiert, die Bewegung könne nur solche Formen annehmen, weil in Frankreich keine Massengewerkschaften existierten wie in Deutschland, was bei rund acht Prozent gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich die Gewerkschaften den Radikalen ausliefere. Nichts könnte falscher sein. Wenn die Streikbewegung dieser Tage an Radikalität verliert, dann liegt das gerade an intergewerkschaftlichen Absprachen und reformistischen Taktiken der Gewerkschaftsführer. Für die Radikalisierung sorgen in Frankreich gerade die Gewerkschaftsbasis und die Unorganisierten. In dieser GWR blicken wir in zwei Übersetzungen aus der französischen libertären Wochenzeitung "Le Monde libertaire" auf das französische Streikgeschehen der letzten Wochen zurück. Ein Beitrag von Ende Oktober, auf dem Höhepunkt der Streiks, befasst sich mit Marseille, wo sich die Bewegung beispielhaft spiegelte; ein zweiter von Anfang November zieht eine vorläufige kritische Bilanz. (GWR-Red.)
Es ist schwer, alle aktuellen sozialen Bewegungen in Marseille zu beschreiben. Über einige wird überregional berichtet, andere erscheinen kaum in den Medien. Die Stärke dieser Bewegungen macht aus, dass sie sich nicht auf Kämpfe innerhalb ihrer Branche beschränken, sondern allen gemeinsam ist, dass sie gegen die reaktionäre Rentenreform kämpfen.
Eine Tour der Kämpfe
Zuerst gab es die punktuellen Streiks („grèves ponctuelles“: von den Gewerkschaften festgesetzte Streiktage in größerem zeitlichen Abstand, meist an Dienstagen/Donnerstagen unter der Woche oder Samstagen am Wochenende; d.Ü.).
Sie schafften es, von Mal zu Mal mehr Leute auf gewerkschaftsübergreifender Basis zu versammeln (d.h. die Funktionäre aller Gewerkschaften arbeiteten in einem Bündnis zusammen, unter Führung der kommunistischen CGT und der sozialdemokratischen CFDT, und verfassten gemeinsam Aufrufe; d.Ü.). Natürlich ließen es die an sonnigen Samstagen stattfinden Demonstrationen auch zu, dass Privatfamilien dazukamen, aber die Streiktage unter der Woche waren deshalb nicht weniger machtvoll.
Ich übergehe jetzt mal den Streit um die TeilnehmerInnenzahlen – die Polizeiangaben liegen systematisch um den Faktor zehn unter denen der Gewerkschaften -, denn alle sind sich über eine Tatsache einig: Die Mobilisierungen haben bis jetzt (Ende Oktober; d.Ü.) zu immer mehr TeilnehmerInnen geführt.
Aber die punktuellen Streiks wären früher oder später erlahmt, darum sind die ArbeiterInnen zum unbefristeten Streik übergegangen („grève reconductible“: unbefristeter oder fortgesetzter Streik; hier wird auf einer Versammlung an jedem Tag über die Fortsetzung des Streiks am Folgetag entschieden; d.Ü.).
Die Ankündigungen dazu trafen täglich ein, aus allen Branchen, und vor allem nach dem 12. Oktober, ein Datum, das zu einem Wendepunkt in der Mobilisierung wurde. Es ist nicht überraschend, dass in den Berufen, in den Frauen überrepräsentiert sind (und in denen sie oft genug nur prekäre Arbeitsverträge haben), oder in Berufen, die körperliche Robustheit verlangen (Lokführer usw.), das Hinausschieben des Renteneinstiegsalters auf das Leben der ArbeiterInnen unmittelbare Auswirkungen hat.
Während die gewerkschaftsübergreifende Funktionärsfront hauptsächlich auf punktuelle Streiks oder Demos außerhalb der Arbeitstage orientiert, finden für die ArbeiterInnen an der Basis und in den Betrieben die Aktionen und die Streiks tagtäglich statt.
So haben die Angestellten der Steuerbehörden ihren Streik zwischen dem 12. und 16. Oktober fortgesetzt, den sie eine Woche zuvor begonnen hatten; die KollegInnen vom Finanzamt haben am 13. Oktober morgens ihren 24-stündigen Streik fortgesetzt; die Angestellten der städtischen Verwaltung und städtischer Einrichtungen (besonders die Kantinenarbeiterinnen) setzen seit dem 23. September täglich ihren 24-stündigen Arbeitsausstand fort und haben bereits angekündigt, dass sie ihn bis zum 23. Oktober nicht aufheben wollen.
Dasselbe gilt für ihre Kolleginnen der umliegenden Städte Istres, Port-de-Bouc, Miramas und Port Saint-Louis; die Lohnarbeiter des Ölterminals im großen Meereshafen von Marseille sind seit dem 27. September im unbefristeten Streik; die Hafenarbeiter von Marseille und Fos (Öl- und Chemiehafen westlich von Marseille; d.Ü.) haben ihre Entscheidung erneuert, ihre Arbeit an Wochenenden auszusetzen; die Arbeiter von Boluda, einer Schlepperfirma, sind in unbefristetem Streik wie auch die Matrosen der SNCM (Mittelmeer-Fährgesellschaft nach Korsika); bei der SNCF (französische Staats-Eisenbahnen; d.Ü.) stimmen jeden Morgen alle Angestellten über die Fortsetzung des Streiks ab.
Im schulischen Erziehungswesen von Marseille hat eine Vollversammlung am 12. Oktober für einen unbefristeten Streik gestimmt und weitergehende Aktionen beschlossen; GymnasiastInnen haben seit dem 14. Oktober die Zugänge zu einem runden Dutzend Gymnasien blockiert.
Die Blockaden, welche die Wirtschaft am schwersten treffen, sind die Hafenblockaden: 40 Frachtschiffe liegen in Fos vor Anker, 20 vor Marseille und drei Lastkähne in der Rhone.
Im Hafenbecken von Marseille liegen zwei Containerschiffe und zwei Cargo-Frachter an der Leine, drei weitere warten in der Bucht. Vier Autofährschiffe nach Korsika, die durch die Streikbewegung der Matrosen betroffen sind, haben ihre Aktivitäten eingestellt. Die anderen Schiffe ihrer Fährgesellschaften liegen blockiert vor Korsika.
Hier wird ein sensibler Punkt im Funktionieren einer Wirtschaft getroffen. Das beweist schon die Schwadron der mobilen Gendarmerie, welche die Blockade eines Öllagers von Fos am Samstag, den 16. Oktober, um 3 Uhr 30 morgens durchbrochen hat.
Doch davon angestachelt haben die Hafenarbeiter nur beschlossen, alle Zugänge zum großen Meereshafen von Marseille zu blockieren. Keine Handelsware kommt da im Moment rein noch raus.
Am Samstag, den 16. Oktober, finden unzählige Vollversammlungen statt, um die Fortsetzung der Streiks für die Woche ab dem 18. Oktober zu beschließen. Es stehen schöne Kampftage bevor, denn die Müllarbeiter beginnen zu streiken (ihr Streik sollte drei Wochen dauern und zwischendurch den Einsatz von Militär und speziellen Sicherheitskommandos zur Müllräumung hervorrufen; d.Ü.), die studentischen Vollversammlungen an der Uni beginnen, und die der PostbeamtInnen, die natürlich nicht vergessen werden dürfen.
Analyse der Bewegung
Trotzdem wäre es verkehrt, in Euphorie zu verfallen. Es gibt Streitigkeiten und nicht jede/r ist mit dem unbefristeten Streik einverstanden, auch wenn viele ihn fordern.
Zuerst ist die Mentalität der Gewerkschaftsfunktionäre, die sich gewerkschaftsübergreifend treffen, zu beklagen. Ihre Aufrufe sprechen lediglich von der Fortsetzung der Mobilisierung zu Demonstrationen, ohne offen den unbefristeten Streik zu erwähnen. Sie bevorzugen die symbolischen Aktionen am Ende des Tages – Fackelzüge gegen die Rentenreform – oder am Ende der Woche: die Samstagsdemos.
In den Vollversammlungen besonders des Erziehungswesens sehen wir immer wieder dieselben Gesichter, wenn es darum geht, die Debatten zu organisieren.
Sie haben die langjährige Erfahrung, jene Vorschläge zu übergehen, die ihnen nicht ins Konzept passen, und sie spielen sich gegenseitig die Bälle zu, um eine Entscheidungsabstimmung zu erzwingen.
Die anwesenden AnarchistInnen und revolutionären SyndikalistInnen tun alles, damit der Kampf selbstorganisiert wird, aber die Maschinerie der BürokratInnen läuft solide und gut geölt. Wenn ein syndikalistischer Genosse eine Arbeitsgruppe vorschlägt, ist niemand dagegen, aber wenn diese Arbeitsgruppe dann Vorschläge unterbreitet, werden sie so zurechtgebogen, dass die machtbesessenen Politbüros ihre Arbeit fortsetzen können, die Selbstverwaltung des Kampfes zu unterminieren.
Übrigens ist es kein Zufall, dass wir an diesen Manipulationspunkten unter anderen die AktivistInnen der NPA (Neue Antikapitalistische Partei; trotzkistische Partei, früher hieß sie LCR, Revolutionär-kommunistische Liga; d.Ü.), der Front de Gauche (Wahlbündnis der KPF, Kommunistische Partei Frankreichs; d.Ü.) und etwas zurückhaltender auch der LO (Arbeiterkampf: eine weitere trotzkistische Partei; d.Ü.) am Werke sehen.
Heute ist die gewerkschaftsübergreifende Front eine Bremse für die Ausweitung des Streiks. Die ArbeiterInnen streiken in der Regel einfach los, doch zu viele warten auf ein Zeichen ihrer Gewerkschaftsfunktionäre, um mitzumachen. Als Beispiel nenne ich den Streik der Kantinenarbeiterinnen, die sich seit dem 23. September in um sich greifenden Streiks befinden, aber ohne ihre beiden größten Gewerkschaften FO (Force Ouvrière – sozialdemokratisch-trotzkistisch) und CGT. Darum sind gleichzeitig mehr als die Hälfte der Kantinenarbeiterinnen nicht im Streik.
Besonders die FO spielt hier oft eine Verwirrung stiftende Rolle. Wenn diese Gewerkschaft einen Kongress abhält, laden ihre Funktionäre auch schon mal als besonderen Gast den Bürgermeister von Marseille, M. Gaudin ein, einen reaktionären UMP(die Partei Sarkozys; d.Ü.)-Mann, der dem Opus-Dei-Orden nahe steht. Und heute, wo sie die schärfsten RednerInnen auf den Vollversammlungen stellen, die zum Generalstreik aufrufen, organisiert aber kein FO-Syndikat einen unbefristeten Streik.
Man musste drei Wochen lang warten, bis sie sich schließlich dazu entschieden hatten, mitzumachen.
Die ersten Hindernisse für die Mobilisierung bleiben die Unternehmer und die Polizei. Wir haben schon gesehen, wie Letztere mobilisiert wurde, wenn es sich darum handelte, einen Streik zu brechen (bei den Öllagern am Hafen).
Die Ersteren wiederum haben bewusst Lügen verbreitet über zu hohe Löhne für die Hafen-Kranführer, um dadurch deren Streikbewegung unpopulär zu machen. Mittlerweile mussten sie mit ihren wahrheitswidrigen Behauptungen wieder zurückrudern und zugeben, dass sie zu weit gegangen waren. Aber die Verwirrung war schon gesät worden.
Was die in Marseille mit Inbrunst geführten Kämpfe um die Zahl der DemoteilnehmerInnen betrifft, hat eine Polizeigewerkschaft der FO die Zahlen der Präfektur in Zweifel gezogen und sie der Manipulation geziehen. Es ist tatsächlich so, dass die erste Sorge dieser Gewerkschaft nicht etwa ist, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, sondern dass die Polizei womöglich nicht mehr als glaubwürdig gilt.
Perspektiven
Was können wir aus alledem schließen? Die Entschlossenheit der Streikenden ist nach wie vor intakt. Am Dienstag, den 19. Oktober soll in ganz Frankreich gestreikt werden, am Donnerstag, den 21. Oktober an der Uni Aix-Marseille, und unzählige Aufrufe zum unbefristeten Streik werden ohne Unterlass veröffentlicht!
Kämpfen wir also weiter an unseren Arbeitsplätzen und in den Vollversammlungen. Sorgen wir dafür, dass sie durch die streikenden ArbeiterInnen selbst organisiert werden. Vergessen wir nicht die direkten Aktionen, um unsere Entschlossenheit unter Beweis zu stellen. Tun wir alles, damit der Streik nach den Herbstferien weitergeht.
Anmerkungen
Übersetzung aus Le Monde libertaire, Nr. 1610, 28.10.-4.11.2010, S. 4-5: Lou Marin