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Gemeinsam bewahren oder einzeln untergehen?

Zur Situation der Freien Archive

| Jürgen Bacia

Die Neuen Sozialen Bewegungen haben eine Vielzahl Freier Archive hervorgebracht. Sie dienen der Selbstvergewisserung und Kommunikation untereinander, aber auch der Bewahrung der eigenen Geschichte. Was bedeutet es, wenn immer mehr dieser Archive in Existenznot geraten oder sich auflösen?

Lasst hundert Archive blühen

Die ersten unabhängigen Archive entstanden in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in Wohngemeinschaften und besetzten Häusern sowie in den Räumen politischer Gruppen und Zeitungsredaktionen.

In den 1980er Jahren, als die verschiedenen Gruppen und Initiativen der Neuen Sozialen Bewegungen gefestigte Infrastrukturen aufgebaut hatten, erlebte auch die freie Archivszene einen großen Zuwachs. Es entstanden Archive zu den Themen Frauen, Umweltschutz oder Antifaschismus, aber auch die ersten „Archive Sozialer Bewegungen“ für verschiedene Regionen oder Bundesländer, die ein breites Spektrum von Publikationen der politischen Linken sammelten.

Fast alle Archive verstanden sich zu dieser Zeit als Bewegungsarchive, waren also Teil einer aktiven Szene, wollten das Wissen und die Erfahrungen, die in ihren Materialien steckten, für aktuelle Anlässe nutzbar machen. Die wenigen größeren Archive dachten schon etwas weiter: Sie wollten verhindern, dass die Geschichte der linken und alternativen Bewegungen zu einer Geschichte der verschollenen Dokumente wird. Sie wurden zu Gedächtnisarchiven.

Das bekannteste Archiv der 1980er Jahre war das ID-Archiv, das eher beiläufig am Rande des „Informationsdienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten“ durch eine Fülle von Austauschabos entstanden war. Doch weil die beiden IDler in der Bundesrepublik keine angemessene Finanzierung für ihre Arbeit fanden, nahmen sie ein Angebot des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) an, brachten 1990 ihre Schätze nach Amsterdam und setzten dort unter optimalen Bedingungen ihre Arbeit fort. Für einige Jahre schien es, als entstünde der wichtigste Gedächtnisort der deutschen Neuen Linken in den Niederlanden.

Alles verändert sich…

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus, der Fall der Mauer und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hatten massive Auswirkungen auf viele Gruppen der Neuen Sozialen Bewegungen.

Die Identitätskrise vieler westdeutscher linker Gruppen verstärkte sich, während auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine bunte Alternativbewegung entstand. Überall gründeten sich Stadt- und Musikzeitungen, Frauen- und Schwulenblätter, Literatur- und Jugendzeitschriften. Daneben bildeten sich, vorwiegend in den größeren Städten, alternativkulturelle bis linksradikale Zusammenhänge, die ähnlich wie im Westen Infoläden aufbauten und entsprechende Archive anlegten.

Es entstanden Aufarbeitungsarchive, Archive des unabhängigen Frauenverbands, der Initiative Frieden und Menschenrechte, der Umweltbibliotheken und Grünen Ligen.

Die Wiedervereinigung Deutschlands liegt mehr als 20 Jahre zurück, seit der Studentenbewegung sind inzwischen mehr als 40 Jahre vergangen. In diesem Zeitraum sind zahlreiche Gruppen, Initiativen und Parteien entstanden und wieder zerfallen.

Dies ist ein normaler Prozess, weil Bewegungen nun mal die Angewohnheit haben, sich zu verändern. Gefragt werden soll an dieser Stelle des Historisierungsprozesses der Neuen Sozialen Bewegungen nach den Archiven, die diese Bewegungen hervorgebracht haben.

Wie steht es aktuell um die Bewahrung und Aufbereitung der eigenen Geschichte?

In welchem Zustand befindet sich das Gedächtnis der Bewegungen?

Auf den ersten Blick in keinem schlechten:

  • die Frauenarchive führen seit 1982 jährliche Treffen durch und haben 1994 den i.d.a.-Dachverband gegründet;

  • die Umweltbibliotheken haben ein bundesweites Netzwerk ausgebildet;

  • die entwicklungspolitischen Archive haben den Archiv3-Verbund gebildet;

  • es gibt ein loses Netzwerk von Infoladen-Archiven;

  • seit 2003 tagt im zweijährigen Turnus der Workshop der Archive von unten.

Doch schaut man genauer hin, so findet man alarmierende Zeichen dafür, dass die freie Archivszene in Gefahr ist.

Die Freien Archive in der Krise

Zur Verdeutlichung hier einige Beispiele aus den letzten Jahren:

  • das umfangreiche Archiv der BUKO-Kampagne „Stoppt den Rüstungsexport“ aus Bremen ist aufgelöst worden. Ein kleiner Teil ist im Archiv der sozialen Bewegungen in Bremen, das selbst nur ehrenamtlich aufrechterhalten wird, gelandet, ein anderer im Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg. Ein nicht unerheblicher Teil ist weggeworfen worden;

  • das Eco-Archiv aus Hofgeismar hat sich aufgelöst, die Friedrich-Ebert-Stiftung hat die für sie interessanten Teile übernommen;

  • das Archiv des Münsteraner Umweltzentrums gibt gerade seine Räumlichkeiten auf, weil der Trägerkreis die Miete nicht mehr aufbringen kann (siehe: „Das Umweltzentrum-Archiv wird dem afas angegliedert“, Artikel von Bernd Drücke, in: GWR 356, S. 3). Die Sammlung findet im Archiv für alternatives Schrifttum eine neue Heimat;

  • das AnArchiv aus Neustadt ist seit dem Tod Horst Stowassers eingelagert, seine Zukunft ist ungewiss;

  • viele Infoladen-Archive haben sich in Luft aufgelöst;

  • das FFBIZ, eines der ältesten und größten Frauenarchive, ist im Archiv Grünes Gedächtnis untergeschlüpft. Zwar besteht der eigenständige Trägerverein noch, doch es ist absehbar, dass das FFBIZ demnächst Teil des Grünen Archivs sein wird;

  • selbst das ID-Archiv in Amsterdam wird nach dem Weggang des einen bzw. der etwas dubiosen Kündigung des anderen Mitarbeiters seit vielen Jahren nicht mehr aktiv betrieben.

Diese Beispiele sind nur die Spitze eines Eisbergs. Etliche Archive aus den verschiedenen Szenen sind seit vielen Jahren eingelagert oder kaum noch nutzbar, andere haben sich verkleinert oder sind Fusionen eingegangen (wie das Alhambra-Archiv und das Dritte Welt-Info-Zentrum aus Oldenburg) – und selbst Archiven, die weiterarbeiten, geht es oft nicht viel besser als denjenigen, die aufgeben mussten. So hat das Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg (Rote Flora) in den letzten Monaten öffentlich über seine Zukunft nachgedacht, weil der bisherige Trägerkreis zu klein geworden ist, und das Berliner Archiv der Jugendkulturen stand vor wenigen Monaten vor dem Aus. Durch eine große Öffentlichkeitskampagne konnte zwar das Geld für die Gründung einer Stiftung gesammelt werden, doch die finanziellen Probleme des Archivs sind damit nicht wirklich gelöst.

Alarmierend daran ist, dass nicht nur kleine Archive aufgeben müssen, sondern zunehmend auch die großen Gedächtnisarchive, die den Anspruch haben, die Dokumente der Neuen Sozialen Bewegungen langfristig zu bewahren.

Zur Zeit sind nur wenige Freie Archive zu einem systematischen Auf- und Ausbau ihrer Sammlung in der Lage, und das Einwerben von Personen- oder Gruppen-Nachlässen bleibt die Ausnahme. Die Gründe für dieses Dilemma liegen auf der Hand: Die Projekte sind finanziell und personell überfordert, ihnen fehlen die geeigneten Räumlichkeiten, aber auch das archivfachliche Know-how sowie die technischen Hilfsmittel.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass einige große Freie Archive Anhängsel von politisch arbeitenden Gruppen sind, die ihr Selbstverständnis über Bildungs- oder Forschungsarbeit definieren. Als solche werben sie öffentliche Gelder ein – doch für die eigentliche Archivarbeit fällt dabei oft nichts ab. Teilweise werden die Archive wie ungeliebte Kinder behandelt, die man am liebsten digitalisieren und entsorgen würde. Das führt auch in links-alternativen Projekten gelegentlich zu Zwei-Klassen-Verhältnissen: Auf der einen Seite gibt es die (Forschungs-)Projekte mit bezahlten Stellen, auf der anderen die Archive mit den 400-Euro-Jobs oder den idealistischen, von Hartz IV lebenden MitarbeiterInnen.

Wie grotesk und unangemessen diese Situation ist, sollen zwei Beispiele zeigen

1. Etablierte Einrichtungen wie die Bibliothek des Ruhrgebiets oder das Institut für Zeitgeschichte planen seit langem, ihre Forschungen zu den Neuen Sozialen Bewegungen auszuweiten und eigene, diesbezügliche Archive anzulegen.

Sie stoßen bei der Materialbeschaffung allerdings schnell an ihre Grenzen, denn wer sich lange mit dem Staat, Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen herumgeschlagen hat, der gibt seine Geschichte, die ja eine Geschichte des Widerstands gegen verknöcherte oder autoritäre Strukturen ist, nicht gern in die Hände von etablierten Einrichtungen.

2. Der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA) hat in den letzten Jahren immer wieder auf die Bedeutung Freier Archive hingewiesen, weil es bei den Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen große Defizite in den staatlichen und kommunalen Archiven gibt.

2009 wurde im VdA unter Beteiligung einiger Freier Archive ein Arbeitskreis für die Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen gegründet, u.a. mit dem Ziel, die Archive fachlich zu beraten. Geld ist von dieser Seite allerdings nicht zu erwarten.

Was tun?

Vor dem Hintergrund des Geschilderten müssen einige provozierende Fragen erlaubt sein. Sind wir in der Lage, verantwortlich mit unserer Geschichte umzugehen? Wollen wir alle einzeln untergehen oder gelingt uns eine gemeinsame Lösung?

Ist es möglich, Gegenstrukturen zu schaffen gegen das etablierte Archivwesen? Sollen politische Gruppen und Initiativen ihre Unterlagen lieber wegwerfen, als sie etablierten Archiven zur Verfügung zu stellen? Müssen alternative ArchivarInnen notwendigerweise am Hungertuch nagen oder ist es legitim, für bezahlte Stellen in Freien Archiven zu kämpfen?

Die Neuen Sozialen Bewegungen brauchen ein Archiv als Auffangbecken für all diejenigen Archive, die aufgeben müssen. Dieses Archiv muss im besten Sinne des Wortes frei und unabhängig sein, es darf keinen kurzfristigen Sammelmoden unterworfen oder parteipolitisch instrumentalisiert werden, BürokratInnen dürfen nicht über das Sammelprofil entscheiden, es darf auf keinen Fall die Arbeit anderer Freier Archive unterlaufen, sondern soll sie ergänzen, entlasten und mit ihnen zusammenarbeiten.

Es muss für alle politischen, kulturellen oder sozialen Strömungen der Neuen Sozialen Bewegungen offen sein, auch wenn sie noch so politisch unkorrekt, sektiererisch oder abenteuerlich sind. Vorrangiges Ziel muss die Bewahrung der Dokumente der Neuen Sozialen Bewegungen sein – denn ohne diese Dokumente wird es in der historischen Forschung nur eine unterbelichtete Opposition geben.

Selbst das Archiv für alternatives Schrifttum, das im Laufe seines über 25-jährigen Bestehens hunderte von Sammlungen von politischen Gruppen, Redaktionen oder Personen übernommen hat, kann nicht mehr lange so weiterarbeiten wie bisher, weil es räumlich und finanziell an seine Grenzen stößt. Es könnte den Grundstock für das oben beschriebene Auffangbecken bilden.

Das Gedächtnis der linksalternativen und libertären Bewegungen droht, löchrig zu werden. Es wird höchste Zeit, die Diskussion über den Umgang mit dieser Situation zu beginnen!

Anmerkungen

Jürgen Bacia ist Mitarbeiter des Archivs für alternatives Schrifttum (afas).

Kontakt

Archiv für alternatives Schrifttum
Schwarzenberger Str. 147
47226 Duisburg
Tel.: 02065 - 747 15
Fax: 02065 - 747 37
www.afas-archiv.de
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