Graswurzelrevolution (GWR): Stellt euch bitte kurz vor.
Perihan: Ich heiße Perihan Zeran, bin 43 Jahre.
Ünal: Ich heiße Ünal Zeran, 39 Jahre alt, war früher in migrantischen Selbstorganiserungszusammenhängen aktiv und bin heute Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Migrationsrecht.
GWR: Wie war das 1985 – gab es einen zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft oder von staatlicher Seite?
Ünal: Damals war ich 14 Jahre alt und ging aufs Gymnasium.
Mit Beginn der „geistig-moralischen Wende“ unter der Kohlregierung wurden die Programme verstärkt, die sogenannten Gastarbeiter durch Prämienzahlungen zum Verlassen der Bundesrepublik zu bewegen. Dabei wurde erklärt, dass es zu viele Ausländer gäbe. Außerdem gab es zunehmend viele rassistische Übergriffe mit erheblichen Verletzungen oder Tötungen seit Anfang der 80er in Hamburg. Es gab eine Neonaziszene, die sich stärker formierte. Viele Nazigrößen wie Worch, Wulff, Kühnen und Rieger stammen ja aus Hamburg.
Perihan: In den 80er Jahren wurde begonnen, die Anwesenheit der MigrantInnen zu einem unlösbaren Problem zu erklären, sie zu kriminalisieren.
So wurde als Beispiel die zweite Generation auf einem Titelbild des „Spiegel“ als Zeitbombe bezeichnet. Der institutionelle Rassismus und die daraus folgende Ausgrenzung wurde besonders deutlich in der Gesetzgebung: Es gab Einschränkungen bei der Familienzusammenführung, den Arbeitserlaubnissen für hier aufgewachsene Kinder und Jugendliche mit 16 Jahren. Außerdem gab es Rückkehrprämieren für Familien, damit sie freiwillig zurückkehren.
Es wurde bekannt, dass einige von den Rückkehrerinnen, junge Frauen und Mädchen, Suizid begannen hatten. Sie wollten zurück nach Deutschland, aber dies war ihnen nicht erlaubt. Daraufhin wurde ein Gesetz für diese Altersgruppe erlassen, wo ihnen zugestanden wurde, innerhalb von zwei Jahren in die BRD zurückzukehren. Die Ausländerbehörde hatte damals ihren Sitz am Hauptbahnhof im Biberhaus. Die Warteräume dort waren permanent überfüllt. Es bildeten sich bereits am frühen Morgen Schlangen, um überhaupt eine Nummer zu erhalten, damit die Menschen ihre Angelegenheiten regeln konnten. Im Winter war es besonders schrecklich, weil die Menschen stundenlang draußen in der Kälte stehen mussten.
Die allgemein politische Stimmung war, die MigrantInnen werden nicht mehr gebraucht, sie sind überflüssig und stellen für die deutsche Gesellschaft eine Bedrohung dar. Junge MigrantInnen wurden in gering entlohnte Berufe verwiesen, Frauen in den Friseurberuf, Männer in Autowerkstätten.
Viele Kinder mit vermeintlichen Sprachproblemen oder für LehrerInnen nicht verständlichen Verhaltensweisen wurden in die sogenannten Sonderschulen vermittelt. Die Wohnungssuche war schwierig, woran sich heute nicht wirklich etwas geändert hat. Gesellschaftliche Ausgrenzung fand alltäglich statt, auch in Jugendzentren und Discos. Manche Kneipen trugen Schilder mit der Aufschrift „Ausländer dürfen nicht rein“! Dazu die damals berüchtigten Stadtteile wie Lohbrügge, Hamm und Horn.
GWR: Was hat die Ermordung von Ramazan Avci 1985 für euch bedeutet? War es ein Einschnitt für das Leben in der deutschen Dominanzgesellschaft?
Ünal: Die Ermordung von Ramazan Avci war ein Wendepunkt in der Migrationsgeschichte. Dies geschah fünf Jahre nach dem Militärputsch in der Türkei und viele politisch Aktive waren damals nach Deutschland geflohen. Ihre Orientierung war daher sehr heimatzentriert. Zudem herrschten in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände. Die kurdische Bevölkerung hatte den bewaffneten Kampf aufgenommen.
Deutschland wurde bis dahin stets als Ort wahrgenommen, wo Menschenrechte und staatlicher Schutz gewährt wurden.
Im Gegensatz zur Türkei wurde die BRD als sicher betrachtet. Und plötzlich sah man sich hier mit etwas konfrontiert, was einige Faschismus nannten. Konkret sah ich eine Bedrohung und ich weiß, dass alle sich gegenseitig warnten, bestimmte Orte zu meiden oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.
Perihan: Die Repressalien und die Hetze gegen MigrantInnen hatten zur Folge, dass die Gewalt eskalierte: Mehmet Kaymakci und Ramazan Avci wurden in Hamburg Opfer rassistischer Gewalt. Angst und Wut waren die Reaktionen.
Vor den Ermordungen von Ramazan Avci und Mehmet Kaymakci war die gesellschaftlich-politische Atmosphäre aufgeheizt gegen die sogenannten Ausländer. Besonders unter den männlichen Jugendlichen hatte sich herumgesprochen, dass es besser ist, bestimmte Stadtteile und Örtlichkeiten nicht alleine aufzusuchen. Sie formierten sich in Gruppen, um sich vor Angriffen zu schützen. Bestimmte Discos, Häuser der Jugend oder Kirchliche Jugendtreffs wurden gemieden oder nur in Gruppen besucht.
Der Alltag war für mich und viele Freunde bedrohlich geworden, abends trauten sich viele nicht mehr, mit der Bahn zu fahren, in Bergedorf standen viele Skinheads herum, bedrohten MigrantInnen und griffen auch an.
GWR: Habt ihr an der ersten großen antirassistischen Demonstration am 15. Januar teilgenommen?
Perihan: Ich persönlich habe damals nicht teilgenommen, in den folgenden Jahren organisierte das Volxhaus der Türkei Demos, zu denen ich gegangen bin. Ich erinnere mich, dass mein Vater zu der Demo gegangen ist. Zuhause waren wir aufgebracht, fühlten uns bedroht.
Ünal: Ich war nur an der großen Demonstration mit bis zu 15.000 Personen beteiligt. Dies rief in mir ein Gefühl von Stärke hervor. Das geht mir heute immer noch so, wenn viele Menschen zusammen kommen, um zu protestieren.
GWR: Haben sich neben organisationsgeübten türkischen Exilorganisationen auch EinwandererInnen aus anderen Ländern beteiligt?
Perihan: Auf die Ermordung von Ramazan Avci reagierten Tausende von MigrantInnen mit direkter Betroffenheit. Das führte dazu, dass zum ersten Mal ein Bündnis von allen bestehenden Organisationen wie Kulturvereinen, Sportvereinen, Moscheen, linken Gruppierungen aus der Türkei zusammenkam. Das war einmalig, weil die politischen Gruppierungen sonst gegeneinander agierten.
Nun waren sie durch die politische Notwendigkeit gezwungen, zu der sogenannten Ausländerfeindlichkeit politisch Stellung zu nehmen.
Damals wurde der Begriff Ausländerfeindlichkeit verworfen und Rassismus als Begriff verwendet. Das war eine wichtige politische Entwicklung, da bei der gesellschaftlichen Analyse und Kritik der Rassismus ins Zentrum der politischen Diskussionen gestellt wurde.
Die migrantischen Vereine und politischen Organisationen orientierten sich in ihrer Politik nicht mehr auf die politischen Zustände in ihren Herkunftsländern, sondern gegen die rassistischen Verhältnisse in Deutschland.
Solidarität von anderen migrantischen Organisationen war kaum vorhanden. Im Gegenteil: Man wollte nicht zu den Kanaken dazugehören.
Ünal: Ich hatte mich aufgrund meines Alters bei den Jugendlichen orientiert und dort war die Beteiligung gemischt. Wie es auch nach den Protesten von Mölln und Solingen der Fall war. Wir waren gegen Nazis und hatten keine ideologische Orientierung.
GWR: Habt ihr euch in der damaligen Kontroverse, ob Moscheen und dem türkischen Staat nahestehende Organisationen mitmachen dürfen, positioniert?
Perihan: Der Protest wurde von der Community der EinwanderInnen aus der Türkei getragen. Es waren Arbeitervereine, Moscheen, Kulturvereine und viele nicht organisierte Menschen aus der Türkei. In dieser Zeit gab es noch keine staatsnahen Organisationen in diesem Bündnis. Es wurde sichtbar, dass bei Rassismus bei den Opfern nicht nach Schichtzugehörigkeit, Religion und auch nicht nach politischen Ideologien unterschieden wird.
Ünal: Ich kann diese Frage nur auf die späteren Proteste bezogen beantworten. Grundsätzlich finde ich jede Form von Protesten gegen Unterdrückung richtig. Es können auch Analogien hergeleitet werden. Die Rassisten fragen nicht nach der Religion oder der Herkunft oder ob jemand politisch links oder rechts steht, wenn sie jemanden angreifen. Dennoch können Unterschiede nicht negiert werden. Eine Zusammenarbeit aufgrund eines bestimmten Ereignisses bedeutet nicht, dass die Unterschiede nicht wahrnehmbar sein dürfen. Die gemeinsame Klammer ist die Betroffenheit. Mehr darf von punktuellen Bündnissen nicht erwartet werden.
GWR: Wie fandet ihr die Selbstverteidigungsansätze, wie die Jugendgangs, die sich gegen Skinheads zusammengeschlossen haben?
Ünal: Ich hatte Freunde, die sich bei den Champs oder Bombers organisiert hatten. Dies fand ich richtig. Es war auffällig, dass den Neonazis staatlicherseits mit viel Verständnis begegnet wurde.
Der Anteil dieser Gangs am Zurückdrängen der Neonazis wird von der deutschen Antifa, die mehr auf Recherche und Strukturanalyse aus ist, bis heute unterschätzt. Es findet kaum Anerkennung. Es ist eine soziale Frage, warum es diese Gangs gegeben hat. Die deutsche Antifa hat es bis heute nicht verstanden, diese Gangs in irgendeiner Form einzubinden, und überschätzte oft die eigenen Beiträge am Verdrängen der Neonazis. Später wurde der Satz der Autonomen legendär: Euer Mut, unsere Köpfe im Kampf gegen die Rassisten. Das drückt das Selbstverständnis mancher Antifas aus.
Perihan: Die Jugendgangs in den 80ern betrachten wir als Vorreiter. Sie standen für Selbstorganisierung als MigrantInnen. Die bekannteste Jugendgruppe waren die Wilhelmsburger Türken Boys, die WTB! Nach Wilhelmsburg traute sich kein Nazi.
Aus dieser Bewegung, in dieser Zeit haben sich unterschiedliche Organisationen und Initiativen formiert. Es entstand die Türkische Gemeinde Hamburgs. Von den Organisationen aber war das Volxhaus der Türkei in den Jahren danach die treibende und bestimmende Kraft, die Selbstorganisierung von MigrantInnen forderte. Dort ging es politisch heterogen zu, Aktive verschiedener linker Gruppierungen aus der Türkei formierten sich zusammen, um gegen den Rassismus zu kämpfen. Angelehnt an Kämpfe aus anderen Ländern wurde kontrovers diskutiert.
Das Volxhaus hatte die Besonderheit, viele linke Strömungen zusammen zu bringen. Somit entstand eine einmalige politische Kraft, auch in den theoretischen Auseinandersetzungen über den Rassismus.
GWR: Was ist geblieben von den Protesten? Die türkische Gemeinde? Antirassistische Selbstorganisierung?
Perihan: Es entstanden Zeitschriften wie die Basamak, eine politische Jugendzeitschrift, später auch Köxüs, beide herausgegeben in Hamburg. Es entstanden auch in anderen Städten Bewegungen von MigrantInnen: Antifacist Gençlik in Berlin, Café Morgenland in Frankfurt, um nur zwei zu nennen. In dieser Zeit sind viele politische Organisationen und Widerstandsformen im antirassistischen Kampf entstanden. Das politische Bewusstsein, das Interesse an Selbstorganisierung hatte sich verfestigt. Die Missstände und rassistische Politik staatlicher- und gesellschaftlicherseits wurden zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen.
Ünal: Die Proteste wurden von einem Bündnis getragen, aus dem sich später einige linke Vereine und Organisationen zurückzogen. Die Türkische Gemeinde Hamburg und später die Türkische Gemeinde Deutschland sind die Früchte dieser Protestbewegung. Hakki Keskin war einer ihrer aktiven Protagonisten. Die ideologischen Unterschiede waren auf Dauer zu groß, um als Bündnis gemeinsame Aktivitäten zu planen und fortzuführen. In den selbstorganisierten Ansätzen wurde der Rassismus als Unterdrückungsform in den eigenen politischen Ansätzen stärker benannt.
GWR: Warum ist, wenn überhaupt über rassistische Angriffe und Todesopfer geredet wird, nur die Ex-DDR nach 1989 Thema und nicht die Situation in der West-BRD vor 1989?
Ünal: Das gehört zum Geschichtsbild der BRD. Den Rassismus will man lieber als ostdeutsches Phänomen verorten, als einen Versuch der Identitätsfindung von desorientierten Jugendlichen nach der Abschaffung der DDR.
Perihan: Für uns hat es keine Relevanz, ob die Rassisten im Osten oder Westen leben.
Diese Unterscheidung der Westen oder der Osten hatte nur für die bundespolitische Regierungsebene eine manipulative Bedeutung. Der Westen hat versucht, sich aus der politischen Verantwortung zu ziehen, um in der Weltöffentlichkeit den Imageschaden, den Deutschland erlitt, zu begrenzen. Es ist bekannt, dass die Neonaziszene bundes- und europaweit organisiert ist.
Allerdings ist der Rassismus nicht gleichzusetzen mit den Neonazis. Rassismen sind in allen politischen Parteien und gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen verbreitet.
Die Unterscheidung von Nazis und rassistischem Verhalten ist wichtig. Denn die Nazis sind aus politischer Überzeugung dieser Ansicht. Die meisten Parteien, Organisationen und Personen haben den Anspruch, nicht rassistisch zu sein. Mit denen sind wir in der Auseinandersetzung. Rassismus lässt sich nicht auf Nazis reduzieren, Rassismus ist eingebettet in die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in der Art und Weise, wie die Menschen zueinander stehen. Der gesellschaftspolitische Status eines Einzelnen, also die gesellschaftliche Verortung ist maßgebend dafür, wer rassistisch diskriminiert wird.
GWR: Hat sich der Rassismus in Gesellschaft und Staatsapparat denn verändert?
Ünal: Das Wort Rassismus war seinerzeit verpönt. Verniedlichend wurde von Ausländerfeindlichkeit oder Xenophobie gesprochen. Auch die politische Linke musste viel über Rassismus in den eigenen Reihen und paternalistische Ansätze lernen. Mitte der 90er Jahre gab es ein politisches Bewusstsein, eine Auseinandersetzung mit Rassismus.
Das ist zurückgedrängt worden, weil viele sich aus den politischen Aktivitäten zurückgezogen haben.
Der Staatsapparat war bemüht, den Rassismus aus der öffentlichen Wahrnehmung zurück zu nehmen, und in den Medien sind auch kaum noch Meldungen über rassistische Übergriffe zu verzeichnen. Das Imageproblem, was Deutschland befürchtet hat, wurde erfolgreich angegangen. Außerdem wurde mit dem Islam ein neues Feindbild auserkoren, mit ähnlich rassistischen Zuschreibungen wie früher pauschal gegen Ausländer. Sogar viele Linke übernehmen dieses Feindbild Muslime.
Perihan: Nun, der Rassismus verändert sich in seiner Ausdrucksform, aber nicht in seinem Wesen. Heute wird nur noch selten die zweite oder dritte Generation der ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei stigmatisiert, sondern der antiislamische Rassismus ist vordergründig. Es findet eine differenzierte Form der rassistischen Diskriminierung statt. Die MigrantInnen werden in „gute“ und „schlechte“ aufgeteilt.
Die dritte Generation der MigrantInnen wird auf dem Arbeitsmarkt aber trotzdem, obwohl sie zu den gesuchten FacharbeiterInnen gehören, systematisch abgelehnt.
Das Gesetz der Staatsbürgerschaft ist verändert worden, ein Teil der MigrantInnen kann sich einbürgern lassen und elementare Bürgerrechte wahrnehmen – wie wählen und gewählt werden. Dadurch werden nicht die rassistischen Ausgrenzungen bekämpft, aber trotzdem ist es ein wichtiger Meilenstein im antirassistischen Kampf.
Allerdings sind viele MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus, obwohl sie bereits viele Jahre hier leben. Außerdem ist das Asylgesetz verschärft worden, was auch Auswirkungen auf Asylsuchende in der BRD hat.
Viele AsylbewerberInnen sind in den 90ern durch Brandanschläge und Naziangriffe ermordet wurden, in Hoyerswerda, Lübeck und vielen anderen Orten. Durch Sammelunterkünfte in kleine Ortschaften wurden diese Taten begünstigt.
Seit 2006 akzeptiert Deutschland, dass es ein Einwanderungsland ist, was es bis dahin verleugnet hat. Immer wieder aufs Neue werden Feindbilder von MigrantInnen geschaffen und die gesellschaftliche Hetze gegen MigrantInnen geschürt.
Jetzt ist wieder so eine Zeitenwende, die von Sarrazin ausgelöste Diskussion: Es ist wieder soweit, dass wir uns rechtfertigen müssen, integrationsunwillige MigrantInnen zu sein.
Wieder findet eine Verallgemeinerung statt und Ängste werden geschürt, durch hochrangige Politiker. Wir beobachten dies mit Sorge und fordern alle auf, sich gegen diese rassistische Diskriminierung zu positionieren, bevor diese Hetze wieder Gewaltopfer von Neonazis zur Folge hat.
GWR: Um in der deutschen Dominanzgesellschaft eine Stimme zu haben, gibt es heutzutage eine Organisierung über die Religionszugehörigkeit zum Islam. Warum nicht als EinwandererInnen?
Ünal: Das ist in der Tat eine Schwäche. Vermutlich weil sich die Ausgrenzung des Islam am offensichtlichsten zeigt, orientieren sich viele daran. Bis auf The Voice gibt es keine mir bekannte Initiative, die selbstorganisiert und herkunftsunabhängig den Rassismus thematisiert. Dort muss es aber wieder hin. Was einmal möglich war, kann wieder ermöglicht werden.
GWR: In eurem Aufruf zur Gedenkkundgebung wird explizit der antimuslimische Rassismus genannt. Was sagt ihr zu der Kritik, dass der zunehmende Antiziganismus, die Abschiebungen in den Kosovo und der Antisemitismus bei euch fehlen?
Ünal: Der Aufruf ist überwiegend positiv aufgenommen worden und zwar von unterschiedlichsten Strömungen der Linken.
Es ist kein Manifest, in der eine Initiative sämtliche Unterdrückungsformen benennt. Das kann kein DIN-A4 Aufruf leisten. Das bedeutet nicht, dass wir es nicht sehen. Der Aufruf ist anlassbezogen zu betrachten.
Ich würde mir wünschen, dass die Linke sich mit dem antiislamischen, antimuslimischen Rassismus beschäftigt. Sollen sie Position beziehen und nicht um den heißen Brei reden.
Die Angriffe und Brandsätze gegen Moscheen, Beleidigungen von Muslimen sind kaum Thema.
Die Linke ignoriert eine gesellschaftliche Entwicklung, tut sich schwer, sich zu äußern.
Ich bin Atheist. Mir geht es nicht darum, ob die Opfer Moslems, Schwarze oder Christen aus Ägypten sind. Es geht um gesellschaftliche Herrschaftsinstrumente und die Infragestellung von Machtverhältnissen. Was für eine Gesellschaft will ich?
Im Redebeitrag auf der Kundgebung wurden die Suizide in den Abschiebehaftknästen in Hamburg thematisiert und auch die Mauer um Europa, Frontex, die Abschiebungen der Roma. Ich suche nicht das Haar in der Suppe, sondern bewerte die Suppe.
GWR: Was plant ihr an weiteren Aktivitäten?
Ünal: Wir werden uns darauf konzentrieren, unsere Forderung auf die Agenda zu bringen, die Umbenennung des Platzes und die Anbringung einer Gedenktafel oder eines Kunstobjektes, das die rassistischen Hintergründe der Tat benennt. Das hat einen symbolischen Wert, der nicht zu unterschätzen ist.
Auch die Forderung einer Straßenumbenennung unter Antikolonialismusaspekten unterstützen wir. Da ist eine sich ergänzende Zusammenarbeit möglich.
Die Partei Die Linke soll unsere Forderungen sogar in ihr Wahlprogramm für Hamburg aufgenommen haben. Wir wollen bundesweit mit Gruppen kooperieren, die rassistischer Opfer gedenken. So waren Leute aus der Initiative bei der Gedenkveranstaltung zu dem Lübecker Brandanschlag und haben dort einen Redebeitrag gehalten. Wir werden in den rassistischen Diskurs intervenieren, wenn es nötig und für uns möglich ist. Ziel muss es bleiben, trotz unterschiedlicher ideologischer Sozialisation die Klammer des gemeinsamen Widerstandes nicht zu verlieren, ohne sich als Subjekte zu negieren und handlungsfähig zu bleiben.
GWR: Glaubt ihr, dass sich die Umbenennung des Bahnhofsplatzes an der Landwehr in Ramazan-Avci-Platz durchsetzen lässt?
Ünal: Ja, mit Hartnäckigkeit und kreativen Protesten. Wir werden da dran bleiben.
Perihan: Wenn wir es schaffen, viele zu erreichen, die ein Denk-Mahn-Mal für die Opfer der rassistischen Gewalt fordern, ist es möglich.
Seit 1990 sind mehr als hundert Menschen der rassistischen Gewalt zum Opfer gefallen. Es ist notwendig, dass wir der Opfer gedenken.