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Die VoBo-Bewegung und der Zensus 2011

1983 musste die geplante Volkszählung aufgrund der Proteste gestoppt werden und 1987 fand ein massenhafter Boykott der "Volksaushorchung" statt. Und heute? Wo bleibt die Bewegung gegen Mikrozensus und Volkszählung 2011?

| Bernd Drücke

Ab Mai soll in Deutschland eine Volkszählung, der "Zensus 2011", durchgeführt werden (vgl. GWR 356).

80.000 „InterviewerInnen“ wollen dann bis Ende 2011 bundesweit rund 20 Millionen Menschen ausfragen, mit bis zu 186 Fragen pro Haushalt. Mit dem „Zensus 2011“ steht eine massenhafte Sammlung von persönlichen Daten bevor. Millionen Menschen sollen gezwungen werden, Religionszugehörigkeit, Familienumstände, Einkommen und vieles mehr bloß zu legen. Das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird mit Füßen getreten.

Wenn wir etwas gegen diese staatlich verordnete Zwangsmaßnahme tun wollen, lohnt sich die Erinnerung an die Volkszählungsboykottbewegungen der 1980er Jahre.

Der Stopp der Volkszählung 1983

Im Jahre 1983 wollte der Staat eine groß angelegte Volkszählung durchführen und die gesamte Bevölkerung der damaligen Bundesrepublik durchleuchten und erfassen.

Dieser Plan führte bundesweit zu Massenprotesten. Bürgerinitiativen gingen vor Gericht und durch alle Instanzen.

Die breite Verweigerungswelle und schließlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stoppten die Volkszählung 1983. Der Datenschutz wurde erstmals als Grundrecht anerkannt. Den BürgerInnen wurde ein Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ versprochen. Eine Sammlung von nicht anonymisierten Daten auf Vorrat und zu unbestimmten Zwecken schloss das Gericht aus.

Das war ein großer Erfolg für die bundesweite Volkszählungsboykottbewegung.

Die Kohl-Regierung hat das allerdings als schallende Ohrfeige empfunden. Und so setzte der damalige CSU-Bundesinnenminister Zimmermann alles daran, 1987 eine „nachgebesserte“ Volkszählung durchzusetzen.

Die VoBo-Bewegung 1987

Das Kürzel „VoBo-Ini“ kennt heute kaum noch jemand. Es steht für „Volkszählungsboykott-Initiative“. 1987 war diese Abkürzung in aller Munde, denn in der gesamten Bundesrepublik hatten sich „VoBo-Inis“ gebildet, die gegen die Pläne der Regierung agitierten.

„VoBo“, das war in vielen Städten eine große, basisdemokratisch organisierte Soziale Bewegung, in der sich von AnarchistInnen bis Grünen, von ArbeiterInnen, Arbeitslosen bis StudentInnen ein breites gesellschaftliches Spektrum zusammentat, mit dem gemeinsamen Ziel, das „Volksverhör“ zu stoppen oder zu boykottieren.

Eigene Erfahrungen

Ich engagierte mich von 1986 bis 1988 in der VoBo-Ini „Münster-Mitte“, einer von zehn Stadtteilinitiativen in Münster. Die Initiativen organisierten Diskussionsveranstaltungen, Solikonzerte, informierten Interessierte über die Problematiken des „Volxverhörs“ und richteten Sammelstellen für nicht ausgefüllte Volkszählungsbögen ein.

Im April 1987 hatte unsere Ini in der Altstadt, am „Spiegelturm“, einen Infostand aufgebaut. Wir verteilten Info-Materialien aus dem Umwälzzentrum, Volkszählungsboykott-Flyer, Spuckis und Broschüren wie „Vorsicht Volkszählung“ und „Restrisiko Mensch“.

Letztere dienten den staatlichen Behörden nun als Vorwand für eine bundesweite Einschüchterungs- und Kriminalisierungswelle. In den Büchern wurde u.a. empfohlen, die Kennnummern aus den Erhebungsbögen zu entfernen, damit die Identitäten von BoykotteurInnen nicht rekonstruiert werden können.

Da diese Bögen aber Eigentum des Staates seien, das nicht beschädigt werden dürfe, wurde der Aufruf zum Schnibbeln von den Behörden kurzerhand zur Straftat erklärt. Dazu diente den Angestellten von Zimmermann der berüchtigte, auch heute noch nicht abgeschaffte Gummi- und Gesinnungsparagraph 111 StGB („Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“).

Im Rahmen der Vorbereitungsphase zur Volkszählung bzw. zum Boykott wurden zwischen Mai und Juli 1987 bundesweit Büros von VoBo-Initiativen, Zeitungsredaktionen und einige Buchläden durchsucht.

Dabei wurden neben den schon erwähnten Publikationen aus dem Kölner Volksblatt Verlag auch unzählige Flugblätter beschlagnahmt. Gegen mehrere Projekte, die Tipps zur Unkenntlichmachung der Fragebögen veröffentlicht bzw. ausgelegt hatten, wurden Ermittlungsverfahren nach § 111 StGB eingeleitet.

Mein Prozess

Ich hatte zum ersten Mal – zusammen mit den anderen BetreiberInnen des Infostandes – ein Ermittlungsverfahren am Hals.

Mein Prozess am 11.11.1987 wurde zu einem Happening.

Gleich zu Beginn drohte der Richter, den Saal zu räumen, weil sich einige ProzessbesucherInnen zunächst geweigert hatten, sich zu erheben.

Da die Gründe für den Boykott, die ich damals vorgetragen habe, zu einem großen Teil auch 2011 noch aktuell sind, hier einige Zitate aus meiner Verteidigungsrede vom 11.11.1987:

„Ich boykottiere die Volkszählung und betrachte es als mein … Recht, meine Meinung frei zu äußern und Informationen an andere weiterzugeben … Eine Reidentifizierung der Gezählten ist selbst bei anonymisierten Datensätzen möglich …

Besondere Brisanz erhält die Volkszählung 1987 im Zusammenhang mit den bereits verabschiedeten Sicherheitsgesetzen. Die Perfektionierung staatlicher Datensammelapparate, der Ausbau von Geheimdiensten und die zunehmende elektronische Ausrüstung der Polizei lassen in der Bundesrepublik einen Überwachungsstaat entstehen. Schleppnetzfahndung, maschinenlesbarer Personalausweis, maschinenlesbarer Reisepass, das computerlesbare Kraftfahrzeugkennzeichen und der Datenaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten schaffen ein Datennetz, in das jede Bürgerin und jeder Bürger jederzeit ohne eigenes Zutun hineingeraten kann.

Bislang beschäftigten sich Verwaltungs- und Ermittlungsbehörden (zumindest offiziell) nur dann mit den Bürgerinnen und Bürgern, wenn ein konkreter Anlass oder Verdacht besteht.

Nun geraten die Menschen schon in die Ermittlungstätigkeit wie Raster- und Schleppnetzfahndung wegen ihrer Hautfarbe, Haarfarbe, weil sie ihre Stromrechnung z.B. in bar bezahlen oder anderer ‚verdächtiger‘ objektiver Merkmale. Mehr davon werden bei der Volkszählung gesammelt. Ohne eigenen Einfluss und ohne es zu merken, kann so jeder Mensch in dieses Computernetz geraten. Die Datenverwertung und Datenlöschung sind der Kontrolle der Erfassten entzogen. Harmlose Daten gibt es nicht.

Die Flüchtlinge und Emigranten in der Bundesrepublik müssen seit Jahren erfahren, welch existenzgefährdende Konsequenzen der staatliche Zugriff auf ihre Daten haben kann. Etwa wenn die Ausländerbehörde aufgrund gespeicherter Informationen im Ausländerzentralregister die Aufenthaltsgenehmigung versagt. … Ausländer sind nicht nur durch die menschenfeindliche Ausländer- und Asylpolitik bedroht, … sondern auch der direkten Verfolgung und illegalen Erfassung durch Neonazis ausgesetzt …

Gewaltfreier Widerstand ist Maxime des Handelns und Denkens. Undemokratische Gesetze können diesen Widerstand auf Dauer nicht brechen und beweisen seine Rechtmäßigkeit…“

Während meiner langen Rede saß der Richter kopfschüttelnd und mit zunehmend rot anlaufendem Kopf auf seinem Platz, um am Ende herauszuplatzen: „Das würde doch alles im Chaos enden, wenn alle so dächten wie sie!“

Mehrmals drohte er, den bis auf den letzten Platz gefüllten Saal zu räumen, weil es lautstarke Protestäußerungen aus dem Publikum gegeben hatte: „Ich habe auch boykottiert!“

Der Richter war so empört, dass er beim Strafmaß schließlich über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus ging.

Der Protest gegen die Volkszählung 1987 ist für mich mit wichtigen Erfahrungen verknüpft.

Es war ein schönes Gefühl, dass wir die Volkszählungsboykottkampagne mit so vielen Menschen kollektiv und solidarisch vorantreiben konnten.

Wir haben unzählige Infoblätter und Broschüren unter die Leute gebracht und eine Gegenöffentlichkeit herstellen können. Die Solidarität, die ich damals insbesondere im Zusammenhang mit meinem Prozess erlebt habe, war großartig.

Was regt sich gegen den „Zensus 2011“?

Verglichen mit den großen Volkszählungsboykottbewegungen der 80er Jahre gibt es bisher noch keine relevante Kampagne gegen den „Zensus 2011“.

Das hat sicher mehrere Gründe. Viele wissen noch gar nicht, was zwischen Mai und Dezember 2011 auch auf sie persönlich zukommt. In Zeiten von Facebook, Vorratsdatenspeicherung, Google Street View, grassierender Kameraüberwachung und elektronischem Personalausweis ist es schwieriger geworden, sich gegen den Ausbau des Überwachungsstaates zu stemmen. Die Erfassung ist heute umfassender als 1987.

Deshalb hat sich Fatalismus breit gemacht.

Da sollten wir gegensteuern und aufklären. Mit dem „Zensus 2011“ steht eine gigantische Sammlung von persönlichen Daten bevor. Durch die Zwangsbefragung entstehen problematische Personenprofile. Wie schon 1987 hat die NPD ihre Mitglieder aufgefordert, sich bei den „InterviewerInnen“ einzureihen, um AntifaschistInnen und illegalisierte MigrantInnen ausfindig zu machen.

Die Befragung durch unbekannte „InterviewerInnen“ ist dabei nur eine Seite der Schnüffelei.

Im Hintergrund werden Informationen u.a. aus den Melderegistern, von Finanz- und Arbeitsämtern mit den Ergebnissen der Befragung zusammengeführt und unter einer eindeutigen Nummer gespeichert.

Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht eine solche Ordnungsnummer 1983 verboten. Ob die versprochene Sicherung und Anonymisierung dieser Datenmassen gelingen wird, ist fraglich. Bekanntlich blüht der Handel mit persönlichen Daten.

Wissen ist Macht. Je mehr der Staat über uns weiß, umso schwieriger wird es für uns, das System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu bekämpfen.

Die erhobenen und verknüpften Zensusdaten werden nicht etwa sofort nach ihrer Auswertung gelöscht, sondern bleiben bis zu vier Jahre lang gespeichert und können über die Ordnungsnummern zu heiklen Personenprofilen verknüpft werden. Die ungenügende Anonymisierung der Zensusdaten ist eine Gefahr für Informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Datensicherheit. So entsteht für einen langen Zeitraum eine zentrale Datensammlung mit erheblichem Missbrauchspotential.

Gerade für Menschen, die sich in den sozialen Bewegungen engagieren, sollte also klar sein, dass wir uns kollektiv und solidarisch gegen den „Zensus 2011“ und alle anderen Versuche, uns zu durchleuchten, engagieren sollten.

Literaturempfehlung

Mikrozensus und Volkszählung 2011 - Wieder verfassungswidrig?, Verena S. Rottmann im Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins, Berlin 2011, www.Zweitausendeins.de

Weitere Infos

www.zensus11.de
www.zensus2011.de
www.sopos.org/aufsaetze/4ca5d8703e6be/1.phtml
www.graswurzel.net/news/zensus2011.shtml