Michael Bakunin. Konflikt mit Marx. Teil 2: Texte und Briefe ab 1871. Einleitung Wolfgang Eckhardt. Ausgewählte Schriften 6, Karin Kramer Verlag, Berlin 2011, 1.240 Seiten, 78 Euro
Ein Gerücht geht um in Europa. Es lautet, die europäische Arbeiterbewegung sei von Beginn an in zwei Lager gespalten gewesen: die Marxisten und die Anarchisten. Zwei mächtige und homogene Strömungen, an deren Spitze jeweils ein starker Mann gestanden hätte, dessen Genialität und Geistesgröße alles andere überragte. Und die politischen Differenzen, die diese beiden „Titanen“, also Karl Marx und Michael Bakunin, damals miteinander austrugen (so das Gerücht), seien von solch enormer weltgeschichtlicher Bedeutung gewesen, dass wir uns bitte bis in alle Ewigkeit mit ihnen beschäftigen müssen.
Nach diesem Schema wird die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert und speziell die Geschichte der Ersten Internationale seit jeher erzählt. Soeben ist ein weiteres Buch erschienen, diesmal als sechster Band der im Karin Kramer Verlag erscheinenden Reihe von Ausgewählten Schriften Bakunin (vgl. Vorabdruck in GWR 355). Wegen des enormen Umfangs wurde es auf zwei Halbbände aufgeteilt.
Es besteht aber Anlass zur Hoffnung, dass damit nun endlich ein Schlusspunkt unter dieses Narrativ gesetzt wird. Denn die klare Erkenntnis aus den von Wolfgang Eckhardt zusammengetragenen Dokumenten und Quellen lautet: Einen solchen „Kampf der Giganten“ hat es nie gegeben. Letztlich ist die ganze Geschichte eine Erfindung von Marx und noch mehr von Friedrich Engels, die ihr eigenes Scheitern im Hinblick auf die Internationale einfach Bakunin und seinen angeblichen Intrigen in die Schuhe geschoben haben, anstatt sich die Frage zu stellen, weshalb ihre politischen Vorschläge und Analysen von der großen Mehrheit der europäischen Arbeiter und Arbeiterinnen nicht aufgegriffen oder rundheraus abgelehnt wurden.
In seiner 670 Seiten starken Einführung zeichnet Eckhardt detailliert die Ereignisse nach, schafft Querverbindungen, umreißt die Konfliktlinien und schafft damit überhaupt erst die Möglichkeit, dass von heute aus verstehbar wird, worum es damals ging.
Was die Quellentexte selbst betrifft, so umfassen nur gut die Hälfte der Seiten tatsächlich Texte von Bakunin selbst, der Rest sind Texte von anderen, Briefe, Rundschreiben, Stellungnahmen, Statuten, Kongressprotokolle.
Das Geschehen umfasst die Jahre 1871 bis 1873 (die Jahre davor bilden Band 5 der Reihe). Die Diskussionen jener Zeit sind vor allem deshalb interessant, weil hier erstmals der Begriff „Anarchismus“ eingeführt wurde in dem Sinne, wie er später in die Geschichte der politischen Ideen Eingang gefunden hat: als Name für eine sozialrevolutionäre Bewegung, die sich gegen die Übernahme staatlicher Strukturen und die Beteiligung an parteipolitischen Prozessen aussprach und stattdessen auf die Selbstorganisation von unten nach oben setzte und den Pluralismus von Ideen innerhalb der Arbeiterbewegung akzeptierte und sogar positiv bewertete.
Denn genau darum drehten sich die Konflikte im Kern: Marx und Engels wollten den symbolisch starken Verband der Internationale dazu bewegen, sich für die Bildung politischer Arbeiterparteien einzusetzen, konnten dafür aber keine Mehrheit finden.
In Deutschland, wo die Sozialdemokratie bereits auf diesem Weg war, war das Interesse an einer internationalen Vernetzung gering und die Internationale praktisch bedeutungslos. Auch in England, wo die Gewerkschaften 1864 noch maßgeblich an der Gründung der Internationale beteiligt gewesen waren, ging das Interesse an Internationalität im Zuge ihrer Einbindung in nationale politische Strukturen zurück.
In den Ländern hingegen, in denen die Internationale als Organisation prosperierte, stand der Großteil der Arbeiterbewegung parteipolitischen Aktivitäten skeptisch bis ablehnend gegenüber. Und zwar aus sehr unterschiedlichen Gründen.
Prinzipielle Ablehnung von Staatlichkeit in Italien und Spanien spielte dabei ebenso eine Rolle wie eine eher regionale (statt nationale) Orientierung in der Schweizer Juraregion, die Erfahrungen aus der Pariser Kommune, deren Flüchtlinge sich zum Großteil in der Schweiz organisierten, oder umfassendere kulturell-emanzipatorische Ansätze einzelner Sektionen oder Vordenkerinnen und Vordenker.
Es wäre interessant gewesen, wenn man diese Fragen und Differenzen miteinander in einen fruchtbaren Austausch gebracht hätte, um daraus Orientierungen und Bündnisse für antikapitalistische, sozialrevolutionäre Projekte und Bewegungen zu gewinnen.
Doch dazu kam es nicht – und dass das wesentlich die Schuld von Engels und Marx ist, zeigt Wolfgang Eckhardt überzeugend. Die beiden initiierten ab Sommer 1871 einen peinlichen ideologischen Kleinkrieg gegen alle Andersdenkenden, und als sie einsehen mussten, dass sie sich nicht durchsetzen würden, haben sie die Internationale als Organisation zerschlagen.
Natürlich hatte es auch vorher schon inhaltliche Differenzen gegeben – etwa zwischen englischen Großgewerkschaften und französischen Minisektionen, oder zwischen emanzipatorischen Vertretern von Geschlechtergerechtigkeit und proudhonistischen Antifeministen, oder auch zwischen rein ökonomischen und größeren kulturellen Ansätzen. Diese Differenzen waren bis dahin auf internationalen Kongressen auch inhaltlich diskutiert worden, und unterschiedliche Ansichten und Strömungen standen nebeneinander.
Doch nun versuchten Marx und Engels zunehmend mit formalen Tricks, die Gremien der Internationale auf ihre Linie zu trimmen. Im September 1871 organisierten sie statt eines Kongresses nur eine kleine Konferenz in London, bei der die Befugnisse des Generalrats (und damit ihr eigener Einfluss) erheblich vergrößert wurden. Viele Sektionen erkannten diese Beschlüsse nicht an, woraufhin der Generalrat Ausschlussverfahren gegen sie einleitete.
Der nächste internationale Kongress im September 1872 wurde in Den Haag einberufen, um die Teilnahme der Sektionen aus Italien, Spanien, der Schweiz wegen der teuren Anreisekosten zu erschweren, während gleichzeitig fingierte Mandate für Marx-treue Delegierte aus dem nahe gelegenen England und Deutschland beschafft wurden.
Der Widerstand gegen dieses „autoritäre“ Vorgehen formierte sich überall, nicht nur in Italien, in Spanien oder in der Jura-Schweiz, wo der „marxistische“ Einfluss ohnehin gering war, sondern auch etwa in Belgien und am Ende sogar bei Teilen der englischen Internationalemitglieder.
Beim Lesen der Dokumente kann man nur den Kopf schütteln über Marx und Engels, wobei letzterer in diesen fatalen Bemühungen wohl die Hauptrolle spielte. Und zwar nicht so sehr den Kopf schütteln über die Überheblichkeit, mit der sie ihre eigenen politischen Analysen und Einschätzungen für die einzig wahren und legitimen hielten. Sondern vor allem darüber, wie realitätsblind sie waren und wie falsch sie die Stimmung in der Internationale eingeschätzt haben.
Am Ende blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Generalrat in das praktisch unerreichbare New York zu verlegen und alle kritischen Personen (unter anderem Bakunin und James Guillaume von der Juraföderation) sowie Sektionen (die Italiener, die Spanier, die Jurassier) aus der Internationale auszuschließen, was faktisch einer Zerschlagung der Organisation gleichkam.
Michael Bakunin hatte an all diesen Ereignissen nur wenig Anteil. Seit er von Genf nach Locarno umgezogen war, hatte er kaum noch Einfluss auf die Schweizer Internationale.
In Spanien war zwar der Anstoß zur Gründung von Internationale-Sektionen von einem Freund Bakunins, Giuseppe Fanelli, ausgegangen, doch die Gruppen entwickelten sich schon bald völlig eigenständig. In Belgien oder gar England hatte Bakunin keine Rolle gespielt, und auch zu den französischen Kommuneflüchtlingen in der Schweiz, die die Generalratsbeschlüsse sehr aktiv bekämpften, gab es keinen Kontakt. Höchstens in Italien hatte er Einfluss.
Umso absurder, dass sich der ideologische Kleinkrieg von Engels und Marx vorwiegend auf eine Verleumdungskampagne gegen Bakunin stützte.
Alle, die ihre Auffassungen nicht teilten, wurden als „Bakunisten“ abgestempelt und viel Energie darauf verwendet, zu „beweisen“, dass Bakunin ein Konspirateur, ein Sektengründer, ein Verbrecher sei.
Natürlich hatten diese Vorwürfe für die Beteiligten keine Plausibilität – sie wussten ja, dass es ihre eigenen Ideen waren, für die sie eintraten, und nicht irgendwelche teuflischen Einflüsterungen Bakunins.
Man fragt sich, was Marx und Engels mit diesem Vorgehen bezwecken wollten. Waren sie tatsächlich der Überzeugung, dass Bakunin die Wurzel allen Übels sei? Oder hofften sie, die Diffamierung Bakunins könnte die Tatsache kompensieren, dass ihre politische Linie nicht mehrheitsfähig war? Diese Fragen bleiben bis heute unbeantwortet, und vielleicht müssten sich marxistische Forscher einmal damit beschäftigen.
Was aber vor allem jetzt aussteht, ist der Auftrag, der sich aus der Analyse Eckhardts ergibt: Wenn Marx und Engels nicht die maßgeblichen Akteure der Internationale waren (jedenfalls im Hinblick auf die inhaltlichen Themen) – wer dann?
Einige Anhaltspunkte finden sich in den Quellen: In erster Linie wäre da wohl James Guillaume zu nennen, theoretischer Vordenker der Jurasektionen, der beim Haager Kongress offenbar einen sehr guten Eindruck hinterlassen hat. Er bemühte sich sehr (übrigens gegen die ausdrückliche Empfehlung Bakunins), eine Zusammenarbeit mit belgischen und englischen, generalratskritischen Delegierten auf die Beine zu stellen. Interessant wäre auch, zu erfahren, warum John Hales und Georg Eccarius in England, Urgesteine der Internationale, sich jetzt plötzlich gegen Marx und Engels stellten. Bestimmt nicht, weil sie bakunistischen Verführungen erlegen waren. Aber warum dann? Worum ging es ihnen?
Mehr erfahren würde man gerne auch über die Diskussionen unter den Kommuneflüchtlingen, zu deren führenden Köpfen die feministische Schriftstellerin André Leo und ihr Lebensgefährte Benoit Malon gehörten, beide langjährige Internationalemitglieder.
Oder über Eugène Hins in Belgien, der in den hier dokumentierten Quellen immer nur wegen seiner „russischen Frau“ erwähnt wird – der Anlass für Marx, ihm eine Konspiration mit Bakunin zu unterstellen. Hins gehörte auf den frühen Kongressen zur Minderheit derjenigen, die das Recht der Frauen auf Erwerbsarbeit unterstützten. Für welche Ideen stand er sonst noch?
Nicht nur die Forschung zu den bedeutenden Protagonisten und Protagonistinnen der Arbeiterbewegung ist unter die Räder gekommen, weil man sich ganz auf den angeblichen Wettstreit zwischen Marx und Bakunin konzentrierte. Auch die inhaltlichen Konfliktlinien wurden teilweise falsch gezogen. Die Fixierung auf den „großen Streit“ verdeckt nämlich, dass Marx und Bakunin an zahlreichen Punkten durchaus einer Meinung waren – viele andere Internationale aber nicht.
Zum Beispiel in der Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit mit republikanischen Kräften: Sowohl Marx als auch Bakunin lehnten das kategorisch ab, aber viele andere befürworteten größere Bündnisse.
Zwischen André Leo und Bakunin ist ein Streit darüber dokumentiert, bisher wurde das aber noch nie erforscht. Ein anderer wichtiger Punkt ist auch das Verhältnis von Frauen und Männern. Das war eines der umstrittensten Themen in der Internationale, aber in der Geschichtsschreibung fällt es unter den Tisch – weil sowohl Marx und Bakunin es für uninteressant hielten.
Beide hatten zur „Frauenfrage“ eine pragmatische, instrumentelle Haltung, sie waren weder radikale Frauenfeinde wie die von Proudhon beeinflussten Internationalisten, noch engagierten sie sich aktiv für eine egalitäre Politik, wie es die fortschrittlichen, emanzipatorischen Gruppen taten.
Eine traurige Gemeinsamkeit zwischen beiden ist schließlich auch der polemische und diffamierende Grundton, mit dem sie sich wechselseitig ebenso wie andere politische Gegner beschimpften. Die ganzen „Lumpen“, „Kanaillen“, „Ochsen“ und sonstigen rhetorischen Wendungen sind zwar zunächst amüsant zu lesen, aber schon bald kann man diesen Diskussionsstil nicht mehr ertragen.
Und man fragt sich, ob der Einfluss der sozialistischen Idee in Europa nicht größer hätte sein können, wenn sie weniger rüpelhafte und sich selbst überschätzende Helden gehabt hätte.