Naho Dietrich-Nemoto lebt mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann in Nordrhein-Westfalen. Sie ist in Fukushima City geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern und Verwandten leben heute noch dort. Am 28. März hat Naho Dietrich-Nemoto während einer Demonstration für die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen vor 2.000 Menschen auf dem Domplatz Münster eine bewegende Rede gehalten, die wir hier dokumentieren (1). (GWR-Red.)
Seit dem großen Erdbeben in Japan kann ich oft nicht aufhören, an Händen und Beinen zu zittern. Die Angst im Gesicht meiner Eltern; die Verlorenheit im Gesicht meines Neffen; meine Schwester, mit den Nerven am Ende; die Angst aller vor der radioaktiven Strahlung. Egal, was ich mache, ich kann nicht aufhören, daran zu denken.
Es ist nicht einfach für mich, hier zu sprechen. Es tut mir im Herzen weh, über das Schicksal meiner eigenen Familie zu reden. Aber als ich meiner Mutter davon erzählte, hat sie mir Mut gemacht. „Ja, ich finde das toll, erzähle bitte, wie es uns geht.“ Deswegen stehe ich jetzt hier, weil ich nicht will, dass so etwas wieder passiert, egal ob in Japan, Deutschland oder irgendwo auf dieser Welt.
Meine Heimat Fukushima ist wunderschön, mit einer reichen Natur. Es gibt dort 2.000 Meter hohe, grüne Gebirgsketten, große, blaue Seen. Und Vögel singen. Die Sonnenstrahlen glänzen. Im Frühling blühen die Kirschen, im Sommer reifen überall Pfirsiche. Aus dem Meer geht morgens eine glühend rote Sonne auf.
Vielleicht können wir nie mehr ohne tiefe Angst im Herzen Pfirsiche aus meiner Heimat essen, so wie früher. Früher bin ich jeden Sommer ans Meer gefahren und habe dort Fische der Saison gegessen. Vielleicht kann ich dort nie wieder in meinem Leben hingehen.
Die betroffenen Menschen, die ihr ganzes Leben dort verbracht haben, können nicht einfach von dort wegziehen. Viele Menschen haben keine andere Wahl, als auf dem verseuchten Land weiter zu leben. Es gibt keinen Ort, wo sie hingehen könnten, weil Japan auch sehr dicht bewohnt ist.
Die meisten Japaner konnten sich nicht vorstellen, das so etwas passiert. Wir haben den Betreibern des Atomkraftwerkes vertraut. Obwohl ich tief im Inneren Bedenken hatte, muss ich zugeben, dass ich deren Versprechen total akzeptiert hatte: „Unsere Atomkraftwerke sind absolut sicher. Unsere Technologie ist auf dem höchsten Niveau.“
Ich hoffe, dass Japan jetzt umdenkt und die Regierung die Verantwortung für ihr Volk wahrnimmt.
Ich frage alle Menschen, die für Atomkraft sind: Haben Sie sich jemals vorgestellt, dass Ihre Familie in der Nähe eines Atomkraftwerkes lebt und im Falle eines Unfalls langsam durch Radioaktivität kontaminiert wird?
Haben Sie sich jemals vorgestellt, dass Ihre einzige Heimat, die Erde und das Wasser so verseucht werden, dass man nie mehr mit ruhigem Herzen dort leben kann? Wollen Sie dann immer noch dieses Atomkraftwerk, das ständige Lebensgefahr bedeutet? Dann ziehen Sie bitte mit Ihrer geliebten Familie dorthin und leben Sie dort.
Ich hoffe, dass Deutschland beweist, dass es auch ohne Atomkraft geht, und andere Länder diesem Vorbild folgen. Denn Deutschland ist nicht mehr weit vom Ausstieg aus der Atomkraft entfernt.
Ich will nicht, dass so etwas noch einmal jemandem passiert. Ich glaube, um das zu verhindern, gibt es keinen anderen Weg, als alle Atomkraftwerke abzuschalten.
(1) Naho Dietrich-Nemotos Rede vom 28.3.2011 ist jetzt auch als Filmdokument zu sehen unter: www.youtube.com/watch?v=2QhLxUeNzsU