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„Wir sind den Diktator losgeworden, aber nicht die Diktatur“

Repression im (nach-)revolutionären Ägypten

| Andreas Speck

Am 7. März, wenige Wochen nach der Abdankung des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak, schrieb Maikel Nabil Sanad diesen Satz in einem ausführlichen Artikel auf seinem Blog (1). In diesem Artikel analysierte er detailliert die Rolle des ägyptischen Militärs während und nach der Revolution und kam zu dem Schluss, dass das Volk und das Militär niemals "eine Hand waren" - wie es während der Revolution so oft hieß.

Maikel hatte daran immer seine Zweifel. So beschrieb er z.B., wie am 28. Januar 2011, als die Polizei auf die hunderttausende DemonstrantInnen im Tahrir-Platz schoss, das Militär die Polizei immer dann mit Nachschub an Munition versorgte, wenn diese verschossen war.

Dies zeugt nicht gerade von Neutralität. Und auch Amnesty International berichtete, dass während der Revolution AktivistInnen vom Militär festgenommen und gefoltert wurden (2). Auch Maikel Nabil Sanad wurde am 4. Februar von Soldaten festgenommen und gefoltert, kam aber nach 27 Stunden wieder frei (siehe GWR 357, März 2011).

Die Fragwürdigkeit der Rolle des Militärs lässt sich aber auch an den Personen festmachen. So ist Mubaraks Verteidigungsminister Muhammad Tantawi jetzt als Vorsitzender des „Supreme Council of the Armed Forces“ Ägyptens de-facto Machthaber.

In den US-Dokumenten, die Wikileaks zugespielt wurden, beschreibt der US-Botschafter in Ägypten Tantawi als „in erster Linie um die nationale Einheit besorgt“ und er „befürchte, Reformen könnten politische und religiöse Gräben in der Gesellschaft vertiefen„.

Es hieß, der Verteidigungsminister habe sich stets gegen politische Änderungen gesperrt, weil er befürchtete, die Regierung könnte dadurch an Macht einbüßen (3). Bezeichnend dafür ist auch, dass Tantawis Spitzname unter Mubarak „Mubaraks Pudel“ war.

Das Militär ist in Ägypten ebenfalls ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Viele Unternehmen, besonders solche im Wasser- und Olivenölgeschäft, in der Zement- und Bauindustrie oder im Tourismus, befinden sich in den Händen pensionierter Generäle. Und diese sollen nun die Revolution voranbringen?

Repression nach der Revolution

Maikel Nabil Sanad beschreibt in seinem Bericht, dass die Armee schon kurz nach der Resignation das Ziel verfolgte, den Tahrir-Platz von DemonstrantInnen zu befreien. Zunächst verbot das Militär am 12. Februar das Fotografieren am Tahrir-Platz, wohl um leichtere Handhabe gegen Personen zu haben, die die Übergriffe des Militärs festhalten wollten.

In den folgenden Wochen kam es wiederholt zu gewaltsamen Angriffen der Polizei auf DemonstrantInnen, die auf dem Tahrir-Platz aushielten. Und am 9. März wurde der Tahrir-Platz nach einer Demonstration gegen die Vorschläge zur Verfassungsreform ebenfalls gewaltsam geräumt. Mehr als 190 Personen wurden vom Militär festgenommen und teilweise im nahe gelegenen ägyptischen Museum oder in Militärgefängnissen gefoltert. Die Zeit berichtete, dass Schlägertrupps die Protestierenden unter den Augen des Militärs brutal verprügelten (4).

Sie quälten mich mit Elektroschockern an Beinen und Brüsten und sprachen mich mit obszönen Namen“ an, berichtete die Aktivistin Salma al-Husseini Guda. In dem Militärgefängnis, in das sie gebracht wurde, mussten sich die weiblichen Gefangenen nackt ausziehen und eine Untersuchung ihrer „Jungfräulichkeit“ über sich ergehen lassen. Wer als nicht unberührt eingeordnet wurde, dem wurde eine Anzeige wegen Prostitution angedroht. Während dieser Erniedrigungen seien die Opfer gefilmt worden (5).

Ende März schließlich verabschiedete die Übergangsregierung ein neues Gesetz, das jede Art von Protest verbietet, wenn er das reibungslose Funktionieren von Institutionen oder der Wirtschaft beeinträchtigt.

Das Gesetz war keine vier Stunden alt, da wandte das Militär es bereits an und räumte die Besetzung der Kairoer Universität. Die Studierenden hatten mit Streiks die Absetzung der Dekane und Professoren gefordert, die vom alten Regime eingesetzt worden waren (6).

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet, dass General Etman, der Chef der Abteilung für moralische Angelegenheiten des Supreme Council of the Armed Forces, am 22. März einen Brief an ägyptische Zeitungen schickte, in dem er diese anwies, „keine Artikel/Nachrichten/Presseerklärungen/Beschwerden/Anzeigen/Fotos mit Bezug zur Armee oder der Führung der Armee zu veröffentlichen, es sei denn nach Konsultation mit der Abteilung für moralische Angelegenheiten und dem militärischen Geheimdienst, da dies die kompetenten Organisationen für die Bewertung solcher Angelegenheiten sind, um die Sicherheit der Nation zu schützen„. (7)

Eine weitere Eskalation folgte am 8. April. Es war die größte Demonstration seit der Abdankung Mubaraks, und die DemonstrantInnen forderten nicht nur, dass Mubarak vor Gericht gestellt werden soll, sowie dass die von ihm eingesetzten Provinzgouverneure abgelöst werden sollten, sondern viele der DemonstrantInnen forderten ebenfalls den Abgang Tantawis sowie eine zivile Übergangsregierung.

In der Nacht vom 8. auf den 9. April stürmte das Militär erneut den Tahrir-Platz. Mindestens zwei Menschen wurden dabei erschossen, zahlreiche verletzt (8).

Am nächsten Tag wurde der symbolträchtige Platz erneut besetzt, doch am 12. April wiederum geräumt. Und wieder waren es Schlägertrupps, die das Militär dabei unterstützten und Menschen an das Militär auslieferten (9). In den Straßen in der Nähe des Tahrir-Platzes wurden in den folgenden Stunden oft wahllos Menschen festgenommen (10).

Auch wenn Hosni Mubarak und seine Sohne am 13. April in Untersuchungshaft genommen wurden (11), so kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass das Militär wenig Interesse an einem radikalen Wandel hat.

Der Fall Maikel Nabil Sanad

Vor diesem Hintergrund ist die Festnahme und Verurteilung des pazifistischen Bloggers und Kriegsdienstverweigerers Maikel Nabil Sanads zu drei Jahren Haft wegen „Beleidigung des Militärs“ von besonderer Bedeutung. „Die Verurteilung Maikel Nabils ist eine klare Botschaft der Armee, dass jeder Zivilist, der sich negativ über das Militär äußert, verhaftet wird„, sagt Adel Ramadan, Anwalt in der ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte, die Teil des Verteidigungsteams des Bloggers war (12).

Maikel wurde am 28. März von Militärpolizei in seiner Wohnung festgenommen, und zunächst wurde seine Inhaftierung für 15 Tage angeordnet, während ihm der Prozess gemacht wurde. Als Prozessbeobachter der War Resisters‘ International flog der Autor dieses Artikels am 2. April nach Kairo, doch wurde nicht nur ihm, sondern auch Maikels FreundInnen und UnterstützerInnen die Teilnahme an den Verhandlungen im Militärgericht in Nasr City in Kairo verweigert. Auch wenn der Prozess fast zwei Wochen dauerte – normalerweise dauern Prozesse vor dem Militärgericht nur wenige Minuten – so kann trotzdem nicht von einem fairen Prozess gesprochen werden.

Erstens fand der Prozess meist unter Ausschluss der interessierten Öffentlichkeit statt.

Zweitens hatten Maikel und sein Verteidigungsteam kaum Zeit, eine effektive Verteidigung vorzubereiten. Drittens hätte Maikel als Zivilist nicht vor ein Militärgericht gestellt werden dürfen.

Unerhört waren jedoch die Umstände der Verurteilung selbst. Seiner Familie und den AnwältInnen wurde am 10. April mitgeteilt, dass die Urteilsverkündung auf den 12. April vertagt wäre. Nachdem sie den Gerichtssaal verlassen hatten, wurde Maikel dann aber – in Abwesenheit seiner Familie und seiner AnwältInnen – zu drei Jahren Haft verurteilt. Nur über den Anruf einer anderen Person, die ihren ebenfalls inhaftierten Bruder im Gefängnis besuchte, erfuhr Maikels Familie von der Verurteilung.

Doch selbst dann noch wurden sie weiter belogen. Ihnen wurde am nächsten Tag gesagt, dass Maikel ins Gefängnis von Toura gebracht worden sei. Ein ihn bewachender Soldat erlaubte ihm jedoch – heimlich – über sein Handy seinen Bruder anzurufen und ihm mitzuteilen, dass er sich im Gefängnis von El-Marg befindet.

In einer Nachricht, die er aus dem Gefängnis schmuggeln konnte, teilte er seinen FreundInnen mit, dass er festgenommen wurde, um ihn zum Schweigen zu bringen. Und in einem herausgeschmuggelten Artikel schreibt er: „Ich spüre den Willen, mir nach der Verurteilung Schaden zuzufügen. Glaubt den wertlosen Behauptungen der Armee über Selbstmordversuche nicht. Der Military Council ist für meine Sicherheit und mein Wohlergehen bis zu meiner Freilassung verantwortlich.(13)

Nach der Revolution ist vor der Revolution

Die Ereignisse der letzten Wochen und seine eigene Festnahme und Verurteilung bestätigen, was Maikel in seinem Blog und auf seiner Facebook-Seite schrieb: dass die Revolution es bisher nicht geschafft hat, die Diktatur selbst zu beseitigen.

Die nächsten Tage und Wochen werden für die Zukunft der ägyptischen Revolution von besonderer Bedeutung sein. Es geht um die Frage, ob es dem Militär und den Kräften des alten Regimes gelingt, den Wandel – oder so wenig davon wie möglich – zu kontrollieren und zu manipulieren, oder ob es den Menschen Ägyptens, denen es – motiviert durch die Revolution in Tunesien – gelungen ist, Mubarak zum Abdanken zu zwingen, gelingen wird, die Macht des Militärs in die Schranken zu weisen.

Die Revolution ist bisher noch nicht erfolgreich – aber sie ist auch noch nicht gescheitert.

Doch die jetzige Phase der Revolution ist wesentlich komplizierter, und es stellt sich für die ägyptischen RevolutionärInnen die Frage, wie sie mit relativ schwach ausgeprägten Organisations- und Entscheidungsstrukturen diese schwierige Phase der Revolution meistern können.

Für uns ist es wichtig, jetzt nicht die Aufmerksamkeit zu verlieren, sondern in dieser schwierigen Phase die ägyptische Revolution mit internationalem Druck zu unterstützen. Eine Kampagne für die Freilassung von Maikel Nabil Sanad ist dafür ein gutes Mittel (14).

(1) Eine überarbeitete englische Version des Artikels findet sich auf der Webseite der War Resisters' International unter http://wri-irg.org/node/12484. Eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit

(2) Amnesty International: Ägypten: Militär muss Folter endlich stoppen, www.amnesty.de/presse/2011/2/17/aegypten-militaer-muss-endlich-folter-stoppen, Zugriff am 13.4.2011

(3) Tagesanzeiger: Der falsche Mann für ein modernes Ägypten, 16.2.2011, www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Der-falsche-Mann-fuer-ein-modernes-gypten/story/22268323

(4) Die Zeit: Foltervorwürfe gegen Ägyptens Armee, 29.3.2011, www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/aegypten-proteste-folter, Zugriff am 13. April 2011

(5) N-TV: Ägyptens Revolution schlägt ihre Kinder, 16. März 2011, www.n-tv.de/politik/Demonstranten-Militaer-foltert-article2862156.html, Zugriff am 13. April 2011

(6) taz: Das Ende der Küsse, 2. April 2011, www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2011/04/02/a0024&cHash=697f0b5b1b, Zugriff am 13. April 2011

(7) Human Rights Watch: Egypt: Blogger's 3-Year Sentence a Blow to Free Speech, 11. April 2011, www.hrw.org/en/news/2011/04/11/egypt-blogger-s-3-year-sentence-blow-free-speech, Zugriff am 13. April 2011

(8) FAZ: Tote auf dem Tahrir-Platz, 9. April 2011, www.faz.net/s/Rub87AD10DD0AE246EF840 F23C9CBCBED2C/Doc~E7659B27821 214D27878381BF70095A42~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Zugriff am 13. April 2011; siehe auch: Kristin Jankowski: Ich kann nicht verstehen, warum sie Patronen gegen uns einsetzen. Linke Zeitung, 12. April 2011, www.linkezeitung.de/cms/index.php? option=com_content&task=view&id=10897&Itemid=1, Zugriff am 13.4.2011

(9) Private Nachricht von Augenzeugen aus Ägypten an den Autor

(10) Kristine Jankoswki: "Gehe nicht nach draußen. Es werden willkürlich Leute in Downtown festgenommen", Linke Zeitung, 13.4.2011, www.linkezeitung.de/cms/index.php ?option=com_content&task=view&id=10903&Itemid=1, Zugriff am 13.4.2011

(11) Die Welt: Ägyptens Jugend feiert die Verhaftung der Mubaraks, 13. April 2011, www.welt.de/politik/ausland/article13165359/Aegyptens-Jugend-feiert-die-Verhaftung-der-Mubaraks.html, Zugriff am 13. April 2011

(12) ebenda

(13) Maikel Nabil Sanad: Fleeing thoughts from the military prison, 12. April 2011, http://wri-irg.org/node/12764, Zugriff am 13.4.2011

(14) Mehr Infos dazu (auf Englisch) unter http://wri-irg.org/node/12750. Die WRI wird sich um eine deutsche Übersetzung bemühen.

Anmerkungen

Andreas Speck war GWR-Koordinationsredakteur und ist seit 1999 Mitarbeiter im Londoner Büro der War Resisters' International. Kairo besuchte er vom 2. bis 7. April 2011.