transnationales / antirassismus

Odyssee durch Europa

Ein Leben unter menschenunwürdigen Umständen: Unbegleitete Flüchtlingskinder und Jugendliche

| Karl Kopp

Minderjährige Flüchtlinge in den griechischen Elendshaftlagern an der Grenze zur Türkei, obdachlose afghanische Jungen in der Athener Innenstadt, den griechischen Fährhäfen Igoumentisa und Patras, in den Straßen von Rom, von Paris und Calais - die Liste hässlicher Orte in Europa, wo Kinderrechte und Flüchtlingsschutz nicht existieren, ließe sich beliebig fortsetzen.

Diese Orte sind Ausdruck einer beschämenden europäischen Flüchtlingspolitik, die in jedem Dokument die Kinderrechte hochhält, in der Praxis aber zulässt, dass Tausende allein fliehende Kinder und Jugendliche entrechtet und schutzlos durch Europa irren. Entlang ihrer innereuropäischen Fluchtrouten werden diese unbegleiteten Minderjährigen erneut Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Europa vergießt bestenfalls Krokodiltränen.

Europa antwortet nicht

Wieso sind Minderjährige gezwungen, ihr Leben sogar innerhalb Europas erneut aufs Spiel zu setzen, um zu ihren Verwandten und Freunden in anderen europäischen Staaten zu gelangen? Wieso existieren keine sicheren Wege für diese besonders Schutzbedürftigen, keine grenzübergreifenden europäischen Schutzmechanismen, um Obdachlosigkeit, Ausbeutung, Gewalt und Haft innerhalb Europas zu verhindern?

Wieso werden selbst unbegleitete Kinder und Jugendliche häufig wie ein Stückgut wieder an den Ort der Einreise oder des Transits zurückverfrachtet, weil es eine technokratische Asylzuständigkeitsregelung so vorsieht?

Milad, ein afghanischer Flüchtlingsjunge, beschreibt den rücksichtlosen Umgang europäischer Staaten mit alleinfliehenden Minderjährigen so: „Dublin II bedeutet: Sie spielen Fußball mit uns, schießen uns von einem Land zum anderen, spielen mit uns und verschwenden unsere Zeit.“

Der geographische Zufall: Einreise über Griechenland

Seit 2008 sind über 10.000 alleinflüchtende Minderjährige, wie Milad, über Griechenland eingereist. Sie wurden alle eine Zeit lang inhaftiert und danach in die Obdachlosigkeit und ins Elend geschickt. In Griechenland existiert kein Schutzsystem für sie. Sie versuchen verzweifelt, über Italien oder immer häufiger über die Balkanroute – von Mazedonien nach Ungarn – in ein anderes europäisches Land auszureisen.

Frontex, die europäische Grenzagentur, berichtete im Dezember 2010, dass im Jahr 2008 etwa 15.700 alleinflüchtende Minderjährige in der EU Asyl beantragt haben. Von 2009 lagen noch keine belastbaren Zahlen vor – bezeichnend für den europäischen Umgang mit Flüchtlingskindern. In Norwegen wurden 2009 1.672 Asylgesuche von Minderjährigen aus Afghanistan registriert, in Schweden waren es 780. Alle diese Kinder mussten den langen Weg von Griechenland alleine zurücklegen. Einige starben auf dem Weg. Erstickten in LKWs oder wurden von der Wagenladung zerquetscht.

Dublin ist Teil des Problems

Die Dublin II-Verordnung eröffnet den meist in Griechenland gestrandeten Kindern keinen Weg, sicher weiterzureisen. Ein afghanischer Junge wird, wenn er es lebend bis nach Deutschland schafft, nicht nach Griechenland zurücküberstellt.

Aber es gibt kaum einen gangbaren Weg, den Jungen legal nach Deutschland zu bringen. Bei einem unbegleiteten Minderjährigen, so die Verordnung, ist der Mitgliedstaat, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält, für die Prüfung seines Antrags zuständig. Aber selbst wenn alle Voraussetzungen auf dem Papier erfüllt sind, zeigt sich, dass die griechischen Verhältnisse aktuell legale Überstellungen der Kinder praktisch unmöglich machen:

Beispiel

Die Mutter dreier afghanischer allein in Griechenland ankommender Kinder lebt in Deutschland. Die deutschen Behörden sind bereit zur Aufnahme. Die personell völlig unterversorgte Dublin-Einheit in Athen schafft es irgendwann, die notwendigen Papiere nach Deutschland zu übermitteln. Dieses Verfahren dauert über acht Monate. In der Zwischenzeit sind die Kinder in Athen privat untergebracht und durch Spendenmittel versorgt worden. Ohne diese Unterstützung hätten diese drei Kinder die Wartezeit in Athen nicht durchgestanden. Lebt kein Familienangehöriger in einem anderen Dublin-Staat, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig. Die Folge dieser Regelung ist naheliegend: Diejenigen Kinder und Jugendliche, die die Aussichtslosigkeit eines Schutzbegehrens in Griechenland erkennen, werden alles versuchen, einen Asylantrag dort zu vermeiden.

Brüssel: Ein Herz für Flüchtlingskinder

„Europa muss unverzüglich Maßnahmen hinsichtlich der unbegleiteten Minderjährigen ergreifen“, erklärte Cecilia Malmström, EU-Kommissarin für Inneres, am 6. Mai 2010 bei der Vorstellung ihres „Aktionsplanes für unbegleitete Minderjährige“. Die EU-Kommission ist sichtlich bemüht, die Schutzstandards für Flüchtlingskinder anzuheben. Sie stellt zahlreiche europäische Gesetzeslücken fest.

Nicht für alle unbegleiteten Minderjährigen wird ein Vormund bestellt. EU-Richtlinien regeln dies nur im Zusammenhang mit Asylsuchenden.

Die EU-Kommission zeigt Problembewusstsein bezüglich des „Verschwindens unbegleiteter Minderjähriger“ innerhalb Europas. Kinder, die eigentlich unter der Obhut nationalstaatlicher Behörden stehen sollten, „fallen [wieder] in die Hände von Menschenhändlern, andere versuchen, zu ihren Familienangehörigen oder Gemeinschaften in anderen Mitgliedstaaten zu gelangen und/oder landen schließlich in der Schattenwirtschaft und leben unter menschenunwürdigen Umständen“.

Reformvorschläge zu Dublin II

Die Kommission setzt auf die laufende zweite Etappe der Vergemeinschaftung. Ihre Vorschläge würden die Lage von Flüchtlingskindern verbessern.

Die Inhaftierung von unbegleiteten Minderjährigen soll EU-weit verboten werden: Künftig soll in der Dublin II-Verordnung zwingend vorgeschrieben werden, dass „das Wohl des Kindes in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten“ sein muss.

Die Zusammenführung soll nicht nur mit der Familie im engeren Sinne, sondern auch mit anderen Angehörigen ermöglicht werden.

Hat der unbegleitete Minderjährige „keinen Familienangehörigen oder sonstigen Angehörigen“ in einem Mitgliedstaat, so soll auch künftig der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, zuständig bleiben, mit der neu eingefügten Einschränkung: „[…] sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient“.

Dieser Hinweis auf das Kindeswohl lässt Interpretationsspielraum zu und ist ohne Präzisierung nicht geeignet, die Schutzlücke für alleinflüchtende Kinder und Jugendliche zu schließen.

Schließung des Dubliner Verschiebebahnhofes

Alleinflüchtende Kinder und Jugendliche sollten nicht mehr dem Dubliner Verschiebebahnhof ausgesetzt werden.

PRO ASYL hat bereits in einer Initiative im Frühjahr 2010 vorgeschlagen, verschiedene EU-Pilotprojekte an den Haupteinreisepunkten von Minderjährigen zu etablieren.

Dort sollte für die Flüchtlingskinder eine menschenwürdige Unterbringung vom ersten Tag ihres Aufenthaltes in Europa gewährleistet werden.

Nötig sind kindgerechte Aufnahmeplätze in Griechenland und anderswo. Für diese neuen Unterkünfte wird geschultes, erfahrenes Personal gebraucht: TherapeutInnen, SprachmittlerInnen, Personal, das in Fragen des Kinderrechts geschult ist, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.

Gemeinsam mit UNHCR ist sehr schnell abzuklären: In welchem Land Europas leben Angehörige dieser Kinder, wer kann sich im Sinne des besten Interesses für das Kind um sie kümmern. Und dann muss der sichere Transfer dorthin organisiert werden. Minderjährige, die keinerlei familiäre Bindungen in Europa besitzen, müssen nach Kriterien des Kindeswohls in andere europäische Staaten verteilt werden.

Anmerkungen

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL.