Im Mai 2011 hat sich in Spanien eine neue Bewegung rasch ausgebreitet. Sie protestiert gegen den Umgang mit der Wirtschaftskrise seitens Regierung, Banken und Arbeitgebern. Initiiert von arbeitslosen UniversitätsabsolventInnen mithilfe von Facebook und Twitter und zahlreichen NGOs demonstrieren sie gegen missliche Arbeits- und Lebensbedingungen.
Dabei wird manchmal explizit an die anarchosyndikalistische und anarchistische Tradition angeknüpft. Sei es bei den Konzepten der Selbstermächtigung, der bei einigen Aktiven sehr grundsätzlichen Kritik am Parlamentarismus oder in der Symbolik: An der Puerta del Sol waren wohl noch nie so viele As im Kreis zu sehen wie jetzt.
Die anarchosyndikalistische spanische Gewerkschaft CGT hat die Proteste am 16. Mai, einen Tag nach den großen Demos, ausdrücklich begrüßt.
Aber wie die gesamte organisierte, traditionellere radikale Linke Spaniens, etwa Izquierda Anticapitalista oder auch die andere schwarzrote Gewerkschaft CNT, ist die CGT von dem Protest eher überrascht worden.
indignados – die Empörten
In 63 Städten entschlossen sich Mitte Mai prekär lebende Jugendliche spontan Zeltlager auf zentralen Plätzen zu errichten. Sie nennen sich indignados – die Empörten. Bis zur Kommunalwahl am 29. Mai wollten sie bleiben. „Für deine Rechte – bewege dich, dies ist der Anfang“ hieß es auf einem großen Transparent auf der Plaza de la Encarnación in Sevilla und in Málaga wurde gefordert, die Verantwortlichen der Krise sollten deren Kosten bezahlen.
Auf Plakaten wurde Emilio Botín, Besitzer der einflussreichen spanischen Banco Santander, kritisiert, als bekanntester Befürworter einer Politik des Abbaus staatlicher Sozialleistungen und ArbeitnehmerInnenrechte.
Die größte Gruppe Protestierender kampiert an der Puerta del Sol, dem wohl bekanntesten Platz Madrids.
Am 23. Mai, nach den landesweiten Kommunalwahlen, beschlossen sie, ihr Protestcamp mindestens noch eine Woche fortzusetzen, dabei aber die Mobilisierung in die Stadtteile hinein zu tragen.
In Barcelona soll das dortige, zweitgrößte Protestcamp bis in den Juni hinein fortgeführt werden, so der dortige Plenumsbeschluss. Unter großen Planen, die als Sonnensegel dienen, hat sich in Madrid rasch ein selbstorganisiertes Zeltdorf gebildet. Am Rande stehen Mülltonnen, daneben Stände, die als Infobörsen dienen, als Anlaufstellen für Leute, die Essen vorbeibringen oder sich austauschen wollen.
Es gibt eine Essens- und Getränkeausgabe, eine Küche, WCs, alles wird getragen von ad hoc gebildeten Komitees. Überall wird debattiert, „eine würdigere Gesellschaft“ wird gefordert, „eine bessere Welt“ oder auch „eine Welt ohne Banken“.
Jeden Abend um 20 Uhr findet ein großes öffentliches Plenum statt, auf dem die Forderungen diskutiert werden. Am 26. Mai war der ganze Platz gefüllt mit BürgerInnen. Ein imposanter Anblick von oben: in der Mitte des Platzes ein paar Sonnensegel und überall Menschen.
Als sich das Plenum in Arbeitsgruppen aufteilte, tagten diese auf den umliegenden Straßen.
Konkrete soziale Verbesserungen stehen dort im Mittelpunkt: eine staatliche Unterstützung für alle Langzeitarbeitslosen von mindestens 426 Euro und mehr, oder die Enteignung von Neubauten, um sie dem privaten Wohnungsmarkt zu entziehen und einen in Spanien bisher kaum vorhandenen Sektor von Sozialwohnungen für alle mit geringem Einkommen zu schaffen.
„Reale Demokratie – jetzt!“
Die Bewegung, die sich unter dem Motto „Reale Demokratie – jetzt!“ zusammengefunden hat, entstand dreieinhalb Monate zuvor. Sie ist unabhängig von Parteien oder Gewerkschaften.
Alles begann mit Diskussionen an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universität Complutense in Madrid.
„Wir haben eine schwarze Zukunft vor uns, mit wertlosen Universitätsabschlüssen und ohne Zugang zum Arbeitsmarkt“, so der Student Olmo Masa im April gegenüber der Zeitung El País, die damals als einzige größere Zeitung berichtete: „Sie bereiten uns auf die Befristung und schlechte Arbeit vor, wir werden in einem Burger King enden.“
Am Rande der ersten Demonstration der neuen Jugendbewegung am 5. April befragte El País Teilnehmende. Wer mit einem Abschluss Arbeit hatte, erzählte etwas von bis zu 12 Stunden Arbeit täglich für höchstens 1.000 Euro brutto im Monat.
Alle wohnten noch bei ihren Eltern, konnten sich keine eigene Wohnung leisten.
Diese Situation ist nicht neu – so ist Spanien bekannt für das große Ausmaß an Zeitarbeit, einen deregulierten Arbeitsmarkt.
Bereits 2004 hatte über die Hälfte der Lohnarbeitenden unter 29 einen Zeitvertrag. Tendenz: steigend.
Auch wenn die Situation der jungen Studierten besser ist – besonders bei den GeisteswissenschaftlerInnen sieht es aussichtslos aus. Viele von ihnen sind unter den 19 % der HochschulabsolventInnen, die erwerbslos sind.
Bis zur Wirtschaftskrise 2008 gab es in Spanien eine Immobilienspekulationsblase, die dann platzte. Zuvor wurde viel gebaut und zu rasant steigenden Preisen teuer verkauft.
In Spanien gibt es kaum Mietwohnungen, sondern fast nur Eigentumswohnungen.
So waren vor 2008 die Wohnungen für junge Erwachsene wegen des Preisanstiegs zu teuer, und nach 2008 sanken zwar die Immobilienpreise, aber wer keine feste Arbeit hat, kann sich auch so nichts kaufen.
Während im Jahr 2000 noch 32 % der damaligen Jungerwachsenen von 15 bis 29 Jahren eigene Wohnungen hatten, sank diese Quote bis 2010 auf 26,9 %.
Eine Besserung ist nicht in Sicht. Seit Beginn der Wirtschaftskrise wurde vielen Beschäftigten gekündigt, vorzugsweise denjenigen mit Zeitverträgen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 21 %. Von den 4,6 Millionen Arbeitslosen in Spanien ist gegenwärtig die Hälfte jünger als 34 Jahre.
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mit über 44,6 % doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Selbst in der Wohlstandsregion Katalonien stieg die Jugendarbeitslosigkeit in den letzten drei Jahren von 13,8 auf jetzt 37,8 %.
Vor einem Jahr schwenkte die sozialdemokratische Regierung unter José Luís Rodríguez Zapatero unter dem Druck der EU und der Finanzmärkte auf eine Sparpolitik zu Lasten der sozial Benachteiligten um, bei gleichzeitigen Erleichterungen für Unternehmen, neben Steuergeschenken für sie wurden die Rechte der ArbeitnehmerInnen beschnitten. Jetzt muss länger für die Rente gearbeitet werden, bei einem größeren Entlassungsrisiko.
Das eben eingeführte Begrüßungsgeld für Neugeborene wurde wieder gestrichen. Die Rentenhöhe wurde ebenso gekürzt, wie der Lohn der beim Staat Beschäftigten.
Die großen, ebenso staatsnahen wie sozialdemokratischen Gewerkschaften UGT und CCOO haben hiergegen nur halbherzig mit einem symbolischen eintägigen Generalstreik protestiert, aber mittlerweile die Heraufsetzung des Rentenalters und die Aushöhlung des Kündigungsschutzes akzeptiert.
Ihre Leitungen sind mit dem sozialdemokratischen Funktionärsapparat der PSOE verquickt und außerdem auf staatliche Subventionen angewiesen. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die neue Protestbewegung ihre Unabhängigkeit von den Gewerkschaften betont.
Die Protestcamps haben die von den Gewerkschaften angebotene logistische Unterstützung abgelehnt.
„No les votes“
Auch die beiden traditionellen großen Parteien, die PSOE und die konservative PP, gelten nicht als Hoffnung auf eine bessere Krisenbewältigung.
Dazu hat die im letzten Jahrzehnt massiv zugenommene Korruption beigetragen.
Viele Bürgermeister und Abgeordnete der PP, die bekannt ist als Partei der Bauwirtschaft, aber auch der PSOE und der bürgerlichen Regionalparteien – insbesondere der katalanischen CiU – haben bei zahlreichen Bauprojekten Schmiergelder kassiert.
Der eigentliche Skandal für viele SpanierInnen ist aber der Umgang der Parteien mit den Korruptionsfällen: Bei den Kommunalwahlen am 22. Mai standen 260 Leute auf den Listen, die entweder bereits rechtskräftig wegen Korruption verurteilt oder deswegen angeklagt sind. Auf der Homepage „No les votes“ („Wähle sie nicht“) werden alle in einer langen Liste mit den konkreten Vorwürfen aufgeführt. Zurückgetreten ist deswegen niemand. Am ehesten ist dies noch bei den fünf Beschuldigten aus der IU, der Vereinigten Linken, zu erwarten oder bei dem Beschuldigten aus dem BNG, der linksnationalen Regionalpartei Galiziens.
Die Korruption wird aber nicht als Bestandteil des kapitalistischen Marktes kritisiert, sondern als moralische Verfehlung. Dass gerade beim Wohnungsbau das meiste Schmiergeld floss, empört die von der Wohnungsnot Betroffenen besonders.
Da das spanische Wahlrecht aber große Parteien bevorzugt, haben die linke Opposition oder neue Parteien kaum Chancen: Obwohl IU bei den letzten Parlamentswahlen 2008 über 1 Million Stimmen erhielt, bekamen sie nur 2 Abgeordnetenmandate.
PSOE und PP erhielten jeweils ca. das Zehnfache an Stimmen, haben aber jeweils 169 und 152 Abgeordnete. Bei den Kommunalwahlen am 22. Mai gab es beim landesweiten Gesamtergebnis einen auffälligen Anstieg der ungültigen Stimmen und der leeren Stimmzettel von 689.471 bei den Kommunalwahlen 2007 auf 973.518. Das entspricht 4,24 % der abgegebenen Stimmen.
Die große Gewinnerin der Kommunalwahlen ist die konservative PP, die sich von 36,01 % auf jetzt 37,51 % verbessern konnte, während die sozialdemokratische PSOE für die unsozialen Sparmaßnahmen der Zentralregierung abgestraft wurde: Sie fiel von 35,31 % auf 27,79 % und verlor die Mehrheit in zahlreichen Kommunen, Großstädten und Regionen.
Eine historische Niederlage, mit dem schlechtestem Wahlergebnis der PSOE bei Kommunalwahlen seit der Wiedereinführung der Demokratie in Spanien 1978. Die IU konnte zwar zulegen, aber weniger als die PP: Von 5,54 % auf jetzt 6,31 %.
Zwei regionale Besonderheiten sind bei diesen Kommunalwahlen herausragend gewesen: zum einen, dass das linksnationale Bündnis Bildu im Baskenland die zweitmeisten Stimmen (313.231) erhielt und die meisten Kommunalmandate gewann. Das Bündnis war erst 10 Tage vor der Wahl vom Verfassungsgerichtshof zugelassen worden, nachdem zuvor Polizei, Staatsanwaltschaft und oberster Gerichtshof einhellig ihr Verbot wegen angeblicher Tarnkandidatur eines baskischen Terrorismus betrieben hatten, weil es von der ETA gesteuert werden würde. Denn auf den Bündnis-Listen fanden sich neben bürgerlichen Nationalisten der Partei EA, Baskische Solidarität und Alternatiba, einer Abspaltung der IU, auch viele KandidatInnen aus dem Spektrum der als vermeintliche ETA-Partei verbotenen Batasuna.
Batasuna war immer auch für ihre Institutionenkritik und ebenso wie EA und Alternatiba für ihre Ablehnung von Sozialabbau bekannt, und so war es durchaus glaubhaft, dass Bildu zum Abschluss ihres Wahlkampfes erklärte, dass die Forderungen der Bewegung „Reale Demokratie – jetzt!“ von ihnen vorbehaltlos unterstützt und auch die ihren sein würden.
Zum Zweiten ist es bemerkenswert, dass die PP in der Region Valencia ihre absolute Mehrheit ohne Stimmeneinbrüche behaupten konnte: Die Mannschaft um den Spitzenkandidaten Francisco Camps steht derzeit im Mittelpunkt mehrerer Anklagen wegen Korruption.
Zwei Tage vor der Wahl wurde bekannt, dass sein Kabinettschef wegen der Finanzierung des letzten Kommunalwahlkampfes 2007 aus Schmiergeldkassen angeklagt wird.
Die konservativen WählerInnen scheint das nicht zu stören, das rechtsnationale und erzkatholische Milieu steht weiterhin geschlossen zur PP.
Der bei den Wahlen siegreichen PP ist die neue Bewegung suspekt. Ihre Spitzenkandidatin für die Region Madrid, Esperanza Aguirre, erklärte, unterbrochen von Rufen aus dem Publikum: „Dies hier ist die Demokratie, nicht die Leute von der Puerta del Sol!“, auf der Wahlkampfabschlussveranstaltung der PP in Madrid: „Der Wahltag ist der Tag der wahren Rebellion, der echten Demokratie.“ Nachdem sie sich zum wiederholten Male für den Ausschluss des baskischen Parteienbündnisses Bildu von den Wahlen ausgesprochen hatte, brüllten ihre AnhängerInnen „Bildu raus, Bildu raus!“.
Auch der Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von Madrid, Alberto Ruiz-Gallardón, ließ den „Stolz auf unsere Demokratie“ hochleben und wehrte die Kritik der neuen Bewegung ab: Madrid sei die „Hauptstadt einer großen Nation“ und das Wahlrecht sei „wunderbar“.
Esperanza Aguirre, die gerne abstruse Verschwörungstheorien über Linke verbreitet, legte nahe, die Bewegung „Reale Demokratie Jetzt!“ sei vom Geheimdienst im Auftrag der sozialdemokratischen Zentralregierung ferngesteuert. Ihr Beleg: Warum sonst wurde das Protestcamp an der Puerta del Sol, also vor dem Sitz ihrer Regionalregierung errichtet, nicht 500 Meter weiter vor dem Bundesparlament?
„Ohne Haus, ohne Arbeit, ohne Rente, ohne Angst“
Zur ersten Demonstration unter dem Motto: „Ohne Haus, ohne Arbeit, ohne Rente, ohne Angst“ am 5. April in Madrid rief das an den Unis entstandene lockere Netzwerk „Jugend ohne Zukunft“ auf: „Wir bekämpfen ein Land der Prekarität, der Arbeitslosigkeit und der Privatisierung unserer Bildung“ hieß es in ihrem ersten Manifest. 2.000 Teilnehmende riefen: „Hier kommt die prekäre Jugend!“
Als einige Hundert von ihnen nach der Demo anfingen, große Verkehrstrassen zu blockieren, griffen sofort Sonderkommandos der Polizei ein, lösten die Blockade mit Gewalt auf, es gab 13 Verhaftungen.
Auch wenn die neue Bewegung Wert darauf legt, keine Anführer zu haben, trat doch schon im April der 26-jährige erwerbslose Anwalt Fabio Gándara als Sprecher auf, der diese Funktion auch im Mai ausübt: Er erklärte, sie seien offen für alle, die unter der Krise leiden. Und am 15. Mai würden sie wieder auf die Straße gehen.
Mehr als 400 Gruppen schlossen sich dafür zur Plattform „Reale Demokratie jetzt!“ zusammen, u.a. Attac, die große Umwelt-NGO Ecologistas en Acción, der landesweite Zusammenschluss der Arbeitslosen, die Plattform Betroffene der Wohnungshypotheken und Jugend ohne Zukunft.
Über Gruppen auf Facebook und via Twitter wurde zu Treffen in zahlreichen Städten aufgerufen. Ein Manifest wurde diskutiert. Dort wird zu einer „ethischen Revolution“ aufgerufen – mit Verweis auf die Korruption in der Politik: „Anstatt das Geld über Menschen zu stellen, sollten wir es wieder in unsere Dienste stellen.“
Ähnlich diffus wirkt etwa die Kritik an der „Gier nach Macht“. Der Reichtum von „wenigen Menschen“ wird dem „Rest in Armut“ gegenübergestellt, Ursache sei das „veraltete und unnatürliche Wirtschaftsmodell“. Vom Kapitalismus wird geschwiegen, dafür die „Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern“ kritisiert.
Das Manifest ist ein Einfallstor für Projektionen auf böse BankerInnen und SpekulantInnen. Viel zu tun für radikale Linke, die hier mitdiskutieren und für eine radikale Kapitalismuskritik eintreten.
Die Stärke der neuen, diffusen Bewegung liegt darin, gegen unerträgliche prekäre Verhältnisse zu protestieren und diese ins Zentrum ihrer Debatte und Forderungen zu stellen.
Den Camps auf den Plätzen gingen Demonstrationen am 15. Mai voraus. In über 50 Städten demonstrierten unter dem Motto „Wir sind keine Handelsware der Politiker oder der Banker“ insgesamt etwa 150.000 Leute, die meisten davon in Madrid: 40.000, gegen die antisozialen Reformen, gegen Regierungen „in den Händen von Bankern“, für Grundrechte auf bezahlbare Wohnungen, die freie persönliche Entwicklung oder den „Zugang zu den Basisgütern, die für ein gesundes und glückliches Leben notwendig sind“.
Es wurde gerufen: „PP und PSOE sind die gleiche Scheiße“ oder „diese Krise bezahlen nicht wir!“
Auf einem Plakat stand: „Es gibt nicht genug Brot für die vielen Chorizo“, die verbreitete spanische Paprikasalami – es fehlt eben an lebensnotwendigem Gütern.
Auf den Demos waren keine Nationalfahnen zu sehen, dafür etliche im rot-gelb-lila der spanischen Republik in rot und schwarz-rot.
Gerufen wurde auch „Ein aufrechtes Spanien ist wie ein Island mehr“, in Anspielung auf die Weigerung Islands, hohe Zinsforderungen aus der Finanzkrise zu begleichen.
Der Professor Carlos Taibo brachte in seiner Rede die Kritik auf den Punkt: „Für die Mehrheit immer niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, weniger soziale Rechte, überall Prekarität, und die am stärksten Betroffenen hiervon sind die Jugendlichen, die Frauen und die Einwanderer.“
In einigen Zeitungen wurden die DemonstrantInnen als „antisistemas“ bezeichnet, das Synonym für Autonome.
Eher linksliberale Medien betonten, es habe nur kleine Gruppen von „antisistemas“ und „ultraizquierdas“, Linksradikale, bei den Demos gegeben – aber diese hätten Müllcontainer angezündet, Schaufensterscheiben eingeschmissen und anderes städtisches Mobiliar zerstört.
In Madrid wurden von der Polizei 24 Demoteilnehmende verhaftet. Fünf Minderjährige wurden rasch freigelassen, die anderen 19 bis auf einen dem Haftrichter vorgeführt.
Verhaftet wurden die meisten von ihnen, als Polizeieinheiten Sitzblockaden auflösten. Dabei gingen diese hart vor: „Sie haben uns mit Gewalt weggetragen“, erklärte Julio, 21 Jahre, gegenüber El País.
„Sie haben ohne Vorwarnung auf die Leute, die auf der Straße saßen, eingeschlagen“, so der Demonstrant Seth in El País.
Auch Gummigeschosse wurden eingesetzt, um die Sitzblockade aufzulösen. Aber die Repression ging nach hinten los. Spontan fanden sich hundert Leute zusammen und begannen mit dem ersten Protestcamp an der Puerta del Sol. Dank Internet verbreitete sich die Nachricht schnell.
Die Polizei löste am 17. Mai nicht gerade zimperlich das Camp um 5 Uhr morgens auf. Wenig später waren auf YouTube Filme von der brutalen Räumung eingestellt.
Am selben Abend wurde das Camp von viel mehr Leuten neu aufgebaut. Bis zu 30.000 waren nun tagsüber dort, und eben auch in vielen anderen Städten. Am 19. Mai dekretierte die spanische Wahlaufsichtskommission ein Verbot für die am Wochenende geplanten Demonstrationen, Versammlungen und eine Fortführung der Camps der Bewegung „Reale Demokratie – Jetzt!“: Sonst wäre der Wahlablauf gestört. Ministerpräsident José Luís Rodríguez Zapatero hat sich hinter das Verbot gestellt: Vor der Wahl müsse es die übliche Pause der Politik „zum Überdenken der Wahlentscheidung“ geben.
Er versprach aber gleichzeitig, Behörden und Polizei würden „mit Bedacht vorgehen“, also nicht in jedem Fall Versammlungen mit Zwangsmitteln unterbinden.
Zapatero hatte hier sicher auch vor Augen, dass der repressive Kurs der vorherigen Tage der Bewegung enormen Zulauf und Solidarität verschafft hat. Die Generalsekretärin der konservativen PP, Dolores de Cospedal, und ihr Parteivorsitzende, Mariano Rajoy, forderten im Wahlkampf eine Räumung der Camps.
Die Bewegung erwiderte auf die Verbote, die Camps fortführen zu wollen und am Wahlwochenende zu demonstrieren.
Die an der Puerta del Sol Versammelten beschlossen dies mehrmals auf ihren Plena.
Um dem Verbot der Wahlkommission den Wind aus den Segeln zu nehmen, haben sie beschlossen, nicht zur Wahl bestimmter Parteien und auch nicht offen zum Wahlboykott aufzurufen, sondern zur Reflexion. Aber die Camps sollen aufrecht erhalten werden, auch über den Wahlsonntag hinaus.
Der sozialdemokratische Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba hat sich hinter die Polizei gestellt: Die gewalttätigen Räumungen der Straßenblockaden und der Camps seien ebenso „maßvoll“ gewesen wie das Vorgehen gegen Demonstrierende.
Rubalcaba hat persönlich die Leitung der Polizeieinsätze am Wahlwochenende übernommen und dafür gesorgt, dass die Camps und Demos nicht polizeilich verfolgt wurden, solange sie friedlich blieben. Dass war in ganz Spanien der Fall, so dass die Camps den Wahltag überdauert haben.
Beeindruckend, wie viele Internetuser sich dem Protest anschließen
Das Hashtag #spanishrevolution war Ende Mai weltweit auf Twitter die Nummer 1. Auf der gleichnamigen Website gingen im Sekundentakt die Tweets ein.
Wie die Bewegung sich weiterentwickelt, ist offen. Der Soziologe Antonio Alaminos von der Universität Alicante hat treffend bemerkt: „Die jungen Spanier und viele Europäer zeichnen sich dadurch aus, dass sie wie ihre Eltern leben wollen, in einer kapitalistischen Konsumwelt. Nicht sie wollen dies beenden, es ist der Kapitalismus, der mit ihnen bricht.“
Und gegen diesen Bruch hilft kein Manifest für eine gerechtere Marktwirtschaft ohne gierige Banker.