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Wandelnde und militante Bibliothek

Zum fünften Mal fand in Wien am 1. Mai die MayDay-Parade statt

| Johannes von Hösel

Mit dem leicht alarmistischen Slogan "Noch zu warten ist Wahnsinn" wurde in diesem Jahr zur Wiener MayDay-Parade mobilisiert.

Der Satz stammt aus dem umstrittenen Pamphlet des Unsichtbaren Komitees, „Der kommende Aufstand“, und findet sich als titelgebende Liedzeile in einem Musikvideo, mit dem einige Aktivistinnen und Aktivisten über YouTube zur Demo der Prekären aufgerufen hatten. (1)

Die Parade fand zum fünften Mal in Wien statt. Nach der ersten MayDay-Mobilisierung 2005 hatte es auch in den drei darauf folgenden Jahren Paraden mit unterschiedlichen Routen und verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten in Wien gegeben. In den letzten beiden Jahren war hingegen nicht zur MayDay-Demo aufgerufen worden. Gerade in Kreisen, die es auf die Sensibilisierung gegenüber Ausbeutung auch durch unbezahlte Arbeit abgesehen haben, schien eine schleichende Reduktion der Mobilisierungsarbeit auf reine Demo-Dienstleistung besonders untragbar. Man setzte zwei Jahre aus und veranstaltete als Initiative PrekärCafé diverse inhaltliche Veranstaltung zu neuen Arbeitsverhältnissen, Prekarisierung und sozialen Bewegungen.

Der Neustart indes kann als gelungen bezeichnet werden

Zehn Jahre nach der ersten MayDay-Parade in Mailand, mit der der Kampf- und Feiertag den neuen Arbeits- und Lebensverhältnissen angepasst und der sozialdemokratisch-parteikommunistischen Folklore entrissen werden sollte, versammelten sich in Wien wieder etwa 4.000 Leute, um gegen die Prekarisierung und für „ein schönes Leben für alle“ auf die Straße zu gehen.

Die in Italien angestoßene und Mitte des vergangenen Jahrzehnts als EuroMayDay zu einiger kontinentaler Demonstrationspracht gelangte Bewegung wird von einem Sammelsurium undogmatisch-linksradikaler Gruppen und Initiativen getragen.

Dass die Bewegung in Italien ihren Anfang nahm, hat vor allem theoriepolitische Gründe: Der Postoperaismus, eine an die linksradikale „Arbeiterautonomie“, den Operaismus (operaio = Arbeiter) der 1960er Jahre anknüpfende Strömung, hatte entscheidenden Einfluss auf das Entstehen der Bewegung. Denn im Fokus postoperaistischer Theoriebildung stehen die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse. Kommunikation, fürsorgende und kognitive Fähigkeiten sind demnach zentrale Aspekte der kapitalistischen Wertschöpfung. Diese findet längst nicht mehr nur in Fabrik und Büro statt, sondern überall.

Die hegemoniale Form der Arbeit sei inzwischen „immateriell“, beschreiben postoperaistische TheoretikerInnen wie Maurizio Lazzarato, Paolo Virno, Angela Mitropoulos und nicht zuletzt die Autoren von „Empire“, Antonio Negri und Michael Hardt.

Besonders jungen, im kulturellen Feld tätigen Leuten müsste diese Analyse plausibel erscheinen, bildet sie doch ihren flexiblen und mobilen Lebensalltag ziemlich treffend ab. Aber Flexibilisierung ist selbstverständlich ein längst über diese Milieus hinaus spürbarer, neoliberaler Imperativ.

Gegen das Gebot, sich mit Haut, Haar und einem Lächeln permanent zu Markte zu tragen, forderten die Demonstrierenden selbstbestimmte Zeiten und Räume – inklusive des Rechts auf Bewegungsfreiheit für Asylsuchende. Dieses Recht wurde am Tag vor der Demo auch in Österreich, per Parlamentsbeschluss zum so genannten „Fremdenrechtspaket“, eingeschränkt.

In Wien, wo die Sozialdemokratische Partei alljährlich am 1. Mai noch immer 100.000 Menschen auf die Straße bringt, sind die radikalen Konsequenzen aus jener Analyse allerdings – wie überall – eine Minderheitenposition.

Diese Minderheit ist ganz ihrem Anspruch nach recht bunt, ein Kinderwagen-Block zog neben der Clowns Army her, eine Pink and Silver-Gruppe fehlte ebenso wenig wie verschiedene trotzkistische Gruppen und Ansätze eines Book Blocks: der letzte Schrei aus Italien, ausgestoßen von im letzten Jahr streikenden Studierenden in Form von Schutzschildern, auf deren einfarbiger Grundierung AutorIn und Titel des jeweiligen Lieblingsbuches vor sich hergetragen werden.

Von mehreren verwendet, entsteht so eine militante und wandelnde Bibliothek. Die Vielfalt ist quasi programmatisch, die Bewegung hat keine SprecherInnen und ist strikt horizontal organisiert.

Der Philosoph Gerald Raunig hob daher in seinem Buch „Tausend Maschinen“ (Wien 2008) den repräsentationskritischen – und in dieser Anti-StellvertreterInnenpolitik sicher auch libertären – Impetus der Bewegung hervor. (2) Für Raunig bestand „die wohl wichtigste Frage der Euromayday-Bewegung“ damals in der schwierigen Überwindung der „lokalen Fixierungen“, also in der Umsetzung ihrer Transnationalisierung.

Politisch gesehen dürften allerdings auch die lokalen Ausweitungen der Bewegung zu ihren zentralen Herausforderungen gehören, und zwar in sozialstruktureller Hinsicht: über die Milieus der Kultur- und SozialarbeiterInnen hinaus auf die Vorstadtkids, Supermarktverkäuferinnen und andere marginalisierte Mehrheiten.

Ein guter Ratgeber ist das eingangs zitierte Unsichtbare Komitee dabei übrigens ganz sicher nicht. Denn der „kommende Aufstand“ soll sich demnach sogar fernab jener Leute abspielen, die hier wieder eine antikapitalistische Mobilisierung in Gang gebracht haben: „Besonders zu meiden sind“, schreibt das Unsichtbare Komitee, „die kulturellen Milieus und die aktivistischen Milieus. Sie sind die zwei Sterbeanstalten, in denen alle Revolutionswünsche traditionell auf Grund laufen.“

In Wien jedenfalls bekam man am 1. Mai 2011 zwischen Wallensteinplatz, wo die Demo begann, und dem Denkmal für Markus Omofuma (3), an dem sie endete, einen anderen Eindruck.

(1) www.youtube.com/watch?v=iyTBIrSyFcw, zum Buch "Der kommende Aufstand" vgl. die Besprechung "Gegen die Militarisierung des linken Diskurses!" von Philippe Kellermann, in: GWR Nr. 355, Januar 2011.

(2) Vgl. "Libertäres Gefüge Mayday", GWR Nr. 330, Sommer 2008, und "Kunst und Revolution. Interview mit Gerald Raunig über die Pariser Commune, das Prekariat und den EuroMayDay, GWR Nr. 299, Mai 2005.

(3) Markus Omofuma war ein Asylsuchender aus Nigeria, der bei der Abschiebung am 1. Mai 1999 von österreichischen Polizisten getötet worden war, die ihm Mund und Nase mit Klebeband verklebt hatten. Seit 2003 erinnert ein von der Künstlerin Ulrike Truger gestalteter Gedenkstein am Wiener Museumsquartier an Omofuma und den institutionellen Rassismus, dem er zum Opfer fiel.