1989 saß ich wegen gewaltfreier Blockaden des Mutlanger Atomwaffenlagers drei Monate lang eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Durch einige glückliche Umstände konnte ich im Gefängnis Kontakt zu Gefangenen aus dem bewaffneten Kampf bekommen. Das bot Gelegenheit zu spannenden Diskussionen. Wir sprachen u.a. darüber, wie unsere Aktionen wirken. Das Konzept der Leidensbereitschaft war meinen Mitgefangenen fremd. Ich argumentierte, dass sie selber einen großen Teil ihrer gesellschaftlichen Wirkung dadurch erzielten: „Nicht eure direkten Aktionen lösen diese breite Solidarität aus, sondern die hohen Strafen, die Tatsache dass ihr so vieles aufgebt, euer Hungerstreik – ihr nehmt bewusst Leiden in Kauf, und das spricht Menschen an, die sich sonst nicht mit den Inhalten eures Kampfes auseinandersetzen würden.“ Meine Mitgefangene widersprach: Der Gefängnisaufenthalt und der Hungerstreik, das sei kein Leiden. Das sei die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln. „Ja“, sagte ich, „genauso wie mein Gefängnisaufenthalt die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln ist. Ich bin kein Opfer, das gegen seinen Willen hier eingesperrt wurde, sondern ich bin eine Aktivistin, die diesen Weg geht, um etwas zu bewegen. Aber dieser Weg ist mit Leiden verbunden.“ Einige Tage danach war ich zum Unkrautjäten im Gefängnisgarten eingesetzt und konnte es so einrichten, dass ich unter dem Fenster meiner Gesprächspartnerin arbeitete. Ich machte mich bemerkbar, und wir setzten unsere Diskussion fort. „Ich habe noch einmal darüber nachgedacht,“ sagte sie, „du hast Recht. Es ist Leiden.“
Diese Geschichte fiel mir ein, als ich die Beiträge von Besalino und Lou Marin in der GWR 360 las. Ich möchte mit meinem Beitrag die begonnene Diskussion zum Zusammenhang von Leiden und Zivilem Ungehorsam fortsetzen.
„Ich wünschte, ich könnte jeden Menschen davon überzeugen, dass Ziviler Ungehorsam das angeborene Recht eines Bürgers ist. Er kann es nicht aufgeben, ohne aufzuhören, ein Mensch zu sein.“ Das hat Gandhi gesagt, und ich stimme ihm da zu. Dennoch: Ziviler Ungehorsam ist per definitionem ein Verstoß gegen Gesetze oder Gesetzesauslegungen. Wer Zivilen Ungehorsam leistet, sollte deshalb damit rechnen, zum Ziel polizeilicher Maßnahmen und gerichtlicher Verfolgung zu werden – möglicherweise auch zum Ziel empörter Handlungen derjenigen, die durch die Aktion in ihrem Tun gestört werden und sich im Recht fühlen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Go-Ins in Restaurants im Rahmen der US-amerikanischen BürgerInnenrechtsbewegung, die besalino beschreibt: „Wir selbst werden die Restaurants zu integrierten machen, und es wird jenen, die über die Macht des Gesetzes und der Eigentumsrechte verfügen, überlassen bleiben zu entscheiden, wie sie auf diese Neuschöpfung reagieren.“ Eben: Wer Zivilen Ungehorsam leistet, stellt damit andere vor eine Entscheidung, weiter mit dem Unrecht zu kooperieren oder diese Kooperation aufzugeben. Restaurantbesitzer_innen, die ein Schild „Whites only“ ins Fenster gestellt haben, werden mit freundlichen, höflichen und entschlossenen Menschen konfrontiert, die mit dieser Forderung nicht mehr kooperieren. Sie müssen sich entscheiden: Entweder sie akzeptieren die Integration ihres Restaurants, oder sie gehen gegen die Gäste vor. Sollten sie Letzteres tun, so setzen ihnen die Gäste keine Gewalt entgegen und laufen auch nicht weg, sondern nehmen hin, was geschieht. Sie lösen damit Empörung und Solidarisierung aus. So funktioniert aktive Gewaltfreiheit.
Burkhard Bläsi beschreibt in seinem Buch „Konflikttransformation durch Gütekraft“ (1) zwei „Säulen“, die die Wirkungskraft aktiver Gewaltfreiheit ausmachen. Er nennt sie „Paroli bieten“ und „Vertrauensaufbau“. Beides sind Rollenbrüche: Gewaltfreie Aktivist_innen verhalten sich nicht als Opfer, sie laufen nicht weg und machen sich nicht klein. Sie bieten Paroli (eigener Standpunkt, Stellung beziehen, Präsenz, Bestimmtheit, Beharrlichkeit, Inkaufnahme von Nachteilen). Sie akzeptieren aber auch nicht die Rolle des Feindes oder Gegners, sondern bauen Vertrauen auf (Nicht verletzendes Verhalten, Empathie, Ermunterung zum Perspektivenwechsel, Aufzeigen von Gemeinsamkeiten, Offenheit, positive/beruhigende Atmosphäre). Diese beiden Rollenbrüche können beim Gegenüber zu einer emotionalen Betroffenheit führen, einer Erkenntnis, dass das Gegenüber für gemeinsame Werte einsteht. Verbunden mit einem Gefühl der Sicherheit (durch den Vertrauensaufbau) führt dies zu einer Rollenverunsicherung beim Gegenüber, die letztlich zum Ausbrechen aus dieser Rolle führen kann.
Was geschieht, wenn Menschen Zivilen Ungehorsam leisten ohne Leidensbereitschaft – also ohne die bewusste Bereitschaft, die Reaktionen ihres Gegenübers auf ihre Aktion in Kauf zu nehmen? Ich sehe drei Möglichkeiten.
- Die AktivistInnen wehren sich mit Gewalt, dann handelt es sich nicht mehr um eine gewaltfreie Aktion.
- Die AktivistInnen gehen rechtzeitig weg, bevor die Polizei kommt. Das mag in manchen Fällen taktisch klug sein und ist auch keine Gewalt. Aber die spezifische Wirkung einer gewaltfreien Aktion tritt hier nicht ein. Ich selber möchte solche Aktionen nicht mit dem Begriff „Ziviler Ungehorsam“ bezeichnen, um den Begriff nicht zu verwässern.
- Die AktivistInnen erleiden die Reaktionen, ohne dazu innerlich bereit zu sein. Sie werden dadurch tatsächlich zu Opfern, zu Menschen, mit denen gegen ihren Willen etwas geschieht. Evtl. greifen sie in ihrer Hilflosigkeit selber zu Gewalt, womit wir wieder bei 1. wären.
Mir war es immer wichtig, bei Aktionen Zivilen Ungehorsams vorab zu überlegen, wie weit ich gehen möchte, welche Risiken dabei auf mich zu kommen und wie ich die – gemeinsam mit anderen – tragen kann. Gefängnisaufenthalte und Verletzungen können Teil eines Preises sein, den ich für die Veränderung zu zahlen bereit bin – ohne deshalb Groll zu entwickeln gegen diejenigen, die mir Gewalt antun. Das hat nichts mit einer Akzeptanz des Staates oder der parlamentarischen Demokratie zu tun. Als Anarchistin gestehe ich dem Staat und seinen Vertreter_innen nicht zu, über mich zu bestimmen. Aber als gewaltfreie Aktivistin rechne ich mit einer Reaktion des Gegenübers auf Aktionen Zivilen Ungehorsams und bereite mich darauf vor, die Kraft, die in diesen Reaktionen liegt, so umzuleiten, dass sie sich gegen das Unrecht wendet. Ich habe also nichts gegen diese Kraft.
Müssen gewaltfreie AktivistInnen also Heilige sein, die alles aushalten, was ihnen irgendjemand zumutet? Auf keinen Fall. Ein bewusster Umgang mit den möglichen Folgen einer Aktion bedeutet auch, dass wir uns gegenseitig darin unterstützen, einzuschätzen, wer wieviel tragen kann ohne daran zu zerbrechen. Als ich 1989 im Alter von 23 Jahren für drei Monate ins Gefängnis ging, hatte ich Angst vor dem, was kommen würde. Vor meinem Haftantritt schrieb mir Wolfgang Sternstein, ich sollte doch nochmal überdenken, ob ich die Strafe wirklich absitzen oder doch lieber bezahlen wolle; wenn ich durch den Gefängnisaufenthalt psychisch zu stark belastet würde und evtl. verbittert oder zerbrochen heraus käme, würde ich damit auch der Sache mehr schaden als nützen. Ich habe mich damals entschieden, die Strafe abzusitzen, und habe das nie bereut. Aber der fürsorgliche Brief von Wolfgang ist für mich ein gutes Beispiel dafür, dass es eben nicht darum geht, „heiligmäßig“ alles zu ertragen und sich selbst um der Sache willen zu vergessen. Wir bleiben menschlich und nehmen uns selbst und gegenseitig mit unseren Bedürfnissen und Grenzen ernst.
Wenn wir uns nun trotz drohender Konsequenzen zu einer Aktion entschieden haben, müssen wir dann auch noch „klaglos hinnehmen“, was uns geschieht? Wolfgang Sternstein schrieb dazu in seinem Beitrag in der GWR 354, „Das gilt selbstverständlich nicht für die Fälle, in denen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Seiten der Polizei missachtet wird.“ Ich würde es etwas anders sagen: Es ist wichtig und richtig, in gewaltfreien Aktionen unserem Gegenüber immer wieder einen Spiegel vorzuhalten und sie auf das ansprechen was sie tun. Das gilt besonders auch für unverhältnismäßig harte Polizeieinsätze – aber es gilt auch für eine ganz „friedliche“ Räumung, mit der eben doch der Weg für einen Atomtransport frei gemacht wird. Meine Haltung ist aber dabei nicht eine klagende (das passt für mich wieder mehr zu einem Opfer) oder anklagende, sondern ich mache die Polizist_innen oder Richer_innen oder Gefängniswärter_innen in ruhiger und unaggressiver Weise darauf aufmerksam, dass sie mir Leid zufügen bzw. dass sie zur Aufrechterhaltung eines Unrechts beitragen.
Was bringt das nun, mit einem Polizisten, einer Richterin, einer Gefängniswärterin zu reden? Was bringt der Dialog mit diesen Menschen, die doch über die Fragen, um die es uns geht, keine Entscheidungsmacht haben? Meiner Meinung nach haben sie die eben doch: Die Mächtigen sind nur mächtig, solange viele scheinbar Ohnmächtige mit ihnen kooperieren. Wenn diejenigen, die ein Unrecht konkret und praktisch durchsetzen sollen, Skrupel entwickeln, in ihrem Rollenverhalten verunsichert werden und ggf. die Kooperation mit dem Unrecht aufkündigen, dann verlieren die „Mächtigen an Macht. Jede/r, der oder die heute ein Teil des Problems ist, kann irgendwann Teil der Lösung sein.
Ich möchte auf das Verhältnis zwischen Zivilem Ungehorsam und Staat zurück kommen. Ich stimme Lou Marin zu, dass Ziviler Ungehorsam nicht zum Konzept der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie passt. Diese basiert auf der Vorstellung, dass eine Mehrheit von gewählten Vertreter_innen das Recht hat, über alle Fragen verbindlich zu entscheiden. Demgegenüber basiert Ziviler Ungehorsam auf der Idee, dass jedem Menschen ein Gewissen gegeben ist, damit er oder sie es einsetzt, und dass jede_r Einzelne das Recht und die Pflicht zum Widerstand hat, wenn eine wie auch immer zustande gekommene Entscheidung sein oder ihr Gewissen verletzt. Diese Idee korrespondiert mit einer anderen Form der Demokratie – mit einer anarchistischen Gesellschaft, in der Entscheidungen basisdemokratisch und nach dem Konsensprinzip getroffen werden. Es ist kein Zufall, dass wir uns bei gewaltfreien Aktionen nach diesem Prinzip organisieren. Insofern ist Ziviler Ungehorsam meines Erachtens zutiefst demokratisch. In einer parlamentarischen Mehrheitsdemokratie ist er ein Schritt zur Weiterentwicklung in Richtung einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft.
Es würde mich freuen, wenn alle, die gegen Stuttgart 21 auf die Straße gehen und die Bauarbeiten blockieren, sich vom Modell der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie verabschieden wollten. Ich glaube aber nicht, dass dem so ist. Kampagnen Zivilen Ungehorsams haben konkrete in absehbarer Zeit erreichbare Ziele und versuchen alle Menschen mitzunehmen, die diese Ziele teilen – ob sie nun grundsätzliche Kritik am System haben oder nicht. Wenn die S21-Gegner_innen merken, dass die vorhandenen politischen Strukturen nicht „funktionieren“, dass ihre Belange nicht berücksichtigt wurden, dann mag das bei vielen ein grundsätzlicheres Nachdenken über dieses politische System auslösen. Sie werden aber deshalb nicht alle zu Anarchist_innen. Wenn es gut läuft, dann wird die Erfahrung der eigenen Macht, das grundsätzliche Infragestellen der Legitimation von Gewalt, das Ausprobieren von basisdemokratischen Formen der Entscheidungsfindung bei den Einzelnen und in der Gesellschaft Veränderungen hinterlassen – eben jene langsamen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die wir Graswurzelrevolution nennen. (2)
„Es gibt daher eine revolutionäre und konsequente Form des Zivilen Ungehorsams und der gewaltfreien Aktion, und eine reformistische und inkonsequente“, schreibt Lou Marin.
Die Konfliktlinie, die sich in den Beiträgen von Wolfgang Sternstein, Lou Marin, besalino und meinem vorliegenden Beitrag abzeichnet, ist m.E. eine andere. Ich sehe hier auf der einen Seite eine grundsätzlich verstandene, sowohl ethisch als auch strategisch begründete Gewaltfreiheit als Lebensprinzip, wie ich sie hier vertrete, wie Gandhi und King sie maßgeblich entwickelt haben, wie Sternstein sie beschreibt, deren Wirkung Bläsi in seiner Studie untersucht. Sie wirkt unter anderem über Leidensbereitschaft und den damit verbundenen Gewissensappell. Macht entfaltet sie dadurch, dass immer mehr Menschen dafür gewonnen werden, freiwillig die Kooperation mit dem Unrecht aufzugeben. Auf der einen Seite sehe ich eine taktisch begründete Gewaltlosigkeit, bei der es darum geht, möglichst viel Macht zu entfalten, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen, dies aber mit gewaltlosen Mitteln zu tun, um dem Gegner keinen Vorwand für eine gewaltsame Unterdrückung zu liefern. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Richtungen ist eine alte, sie wurde schon in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung geführt. Ich finde es fruchtbar und wichtig sie weiter und immer wieder neu zu führen, denn jede neue Generation von Aktivist_innen kann daran wachsen, dass sie sich mit diesem Fragen auseinander setzt. Wir sollten uns dabei aber gegenseitig nicht das revolutionäre Bewusstsein und die revolutionäre Praxis absprechen. Gewaltfreiheit als Lebensprinzip ist etwas ausgesprochen Revolutionäres.
Ulrike Laubenthal
Anmerkungen
Bläsi, Burkhard, Konflikttransformation durch Gütekraft, Münster 2001, ISBN 3-8258-5731-x
Siehe hierzu meinen Beitrag „Vereinigung mit Gewissen – Ziviler Ungehorsam in Massen“ in Steinweg/Laubenthal, Gewaltfreie Aktion, Verlag Brandes und Apsel, Frankfurt 2011, ISBN 978-3-86099-689-8