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Ein „Aufstand der Armen“ in England

Der Versuch einer Positionierung

| Sebastian Kalicha

Viel wurde gemutmaßt in den letzten Wochen. Ist es aufgrund von Armut, Rassismus oder der Klassenzugehörigkeit zu den Ausschreitungen in London bzw. England gekommen? Oder sind es die fehlenden SozialarbeiterInnen, die Kürzungen im Sozialbereich, die Perspektivlosigkeit am Arbeitsmarkt oder schlicht ein erhöhtes Gewaltpotential in der britischen Gesellschaft, die Londoner Jugendliche in diversen marginalisierten Stadtteilen dazu veranlasst haben, auf die Straße zu gehen und mehrere Tage lang für Schlagzeilen zu sorgen?

Ganze Heerscharen von „ExpertInnen“ beginnen nun, in unzähligen Interviews und Kommentaren nach den Ursachen zu suchen, und geben dadurch mehr von ihrer eigenen Weltsicht preis, als sie zur Aufklärung der eigentlich zu analysierenden Ereignisse beitragen.

Auf der Suche nach den Ursachen dieser Ausschreitungen scheint das Naheliegendste wieder einmal am weitesten weg zu sein: die aktiv an den Riots Beteiligten nämlich selbst zu fragen, was sie motiviert, auf die Straße zu gehen und Krawall zu machen.

So wie man den Marginalisierten schon vorher nicht zugehört hat, so entmündigt man sie auch jetzt – nach der „Revolte“ – durch all die Analysen und „ExpertInnenmeinungen“ erneut. Wie immer wird über sie geredet, niemand redet aber mit ihnen. Man sperrt sie lieber weg.

Vandalismus? Aufstand? Revolution?

Ein Team der BBC hat sie aber kürzlich sogar selbst gefragt.

Eine Gruppe vermummter Jugendlicher erklärt da dem Journalisten, dass sie eben wegen jener Perspektivlosigkeit und Armut und der Ignoranz der Mächtigen ihrer Situation gegenüber auf die Straße gehen. „Und so lange das bleibt, werden wir damit [den Riots] nicht aufhören.“

Ein „Aufstand der Armen“ mit politischen Implikationen?

AufstandsromantikerInnen sehen all ihre Träume erfüllt und spinnen etwas abenteuerlich den Faden von Griechenland über die arabische Welt nach England.

Die marxistisch-leninistische „Avantgarde“ sieht (wieder einmal) eine „vor-revolutionäre Entwicklung“, ruft dazu auf, „diese Aufstände der Armen mit einer Perspektive der Revolution zu verbinden“, an deren Spitze natürlich niemand anderes als die „revolutionäre Partei“ stehen darf, „die es heute mehr denn je aufzubauen gilt!“ (aus einer Stellungnahme der Revolutionär-Kommunistischen Organisation zur Befreiung)

Nur: Wenn das der „Aufstand der Armen“ ist und wir die Aussagen der interviewten Kids ernst nehmen, so müssen wir hier einen Widerspruch erkennen.

Der britisch-pakistanische Händler, dessen Geschäft abgefackelt wurde und der vor den Scherben seiner Existenz steht, oder die junge Britin, die aus ähnlichen Gründen wie die revoltierenden Kids eben z.B. in Tottenham und nicht in der Londoner City wohnt und die auf der Straße darauf wartet, bis die Flammen auch endlich ihre Wohnung zerstört haben, werden der Art und Weise, wie sich die verständliche Wut dieser Menschen manifestiert, wohl wenig Verständnis entgegenbringen.

Es scheint fast so, als ob die Marginalisierten endlich aufbegehren, sich nicht mehr alles gefallen lassen, auf ihre desperate Situation aufmerksam machen … und sich dabei paradoxerweise selbst den Krieg erklärt haben. Tottenham, Birmingham und andere Stadtteile brennen, nicht die Londoner City oder Chelsea (oder zumindest die Symbole der Ungerechtigkeiten in ihren eigenen Vierteln).

Friede den Hütten, Krieg den Palästen? Georg Büchners revolutionäre Maxime scheint (häufig) ins Gegenteil verkehrt worden zu sein. Den Palästen zumindest ist nicht viel passiert.

Kritische Reflexionen sind notwendig

Es geht hier aber nicht darum, Schuldzuweisungen zu machen oder von einer privilegierten Position aus Urteile zu fällen.

Ja, diese Jugendlichen haben allen Grund aufzubegehren.

Dass die skandalösen sozialen Bedingungen dieser Gegenden nach Widerstand schreien, ist unbestritten, nur, um es mit den Worten einer Anwohnerin eben jener Viertel zu sagen: „Warum geht ihr nicht zum Parlament und brennt das nieder? Warum greift ihr unsere eigene Community an?“

Die anarchosyndikalistische Solidarity Federation aus London meinte in einer Stellungnahme, es könne „keine Entschuldigungen für das Anzünden von Wohnungen und die Terrorisierung von ArbeiterInnen [geben]. Wer immer so etwas tut, hat keinen Anspruch auf unsere Unterstützung.“

Und weiter: „[A]ls Revolutionäre können wir keine Angriffe auf ArbeiterInnen, auf Unschuldige dulden. Läden abzufackeln, über denen sich Wohnungen befinden, die Transportmittel, mit denen Leute zu ihren Jobs fahren müssen, und ähnlicher Schwachsinn, sind ein Angriff auf uns selbst und sollten so entschieden bekämpft werden, wie jede Maßnahme staatlicher ‚Austeritäts‘-Politik, preistreibende Vermieter, wie Bosse, die uns unsere Arbeitskraft stehlen wollen.“

Derartige Gedanken sind deshalb wichtig, weil eine Reflexion darüber notwendig ist, weshalb es quasi kaum Solidarität mit den Riots gegeben hat, selbst, wenn ein Großteil der Bevölkerung nicht leugnet, dass diese Menschen allen Grund dazu haben aufzubegehren und das auch direkt mit der Politik der herrschenden Klasse und der durch die Banken- und Finanzwelt verschuldeten „Dauerwirtschaftskrise“ in Verbindung bringen. Diese Diskrepanz zwischen dem Unverständnis den Riots gegenüber, bei gleichzeitig vorhandenem kritischem Bewusstsein über die soziale Schieflage und wer sie verursacht, muss zu denken geben und bedarf kritischer Reflexion.

Ignoranz und „Hardlinertum“

Aus anarchistischer Sicht interessanter scheint eine Analyse der Reaktion des Staates zu sein. David Cameron macht es sich – ganz in Thatcher-Manier – in seinen Erklärungen einfach und versucht, sich als Hardliner zu profilieren: „Krank“ seien diese Teile der Gesellschaft, gegen die man mit äußerster Härte und ohne Pardon vorgehen müsse.

Nicht nur seine Analysen sind kurios (so sprach er beispielsweise auch davon, dass „mangelnde Disziplin“ an den Schulen sowie „Kinder ohne Väter“ (!) Ursachen für die Riots seien), sondern auch die Handlungen, die er setzt, grenzen ans Groteske.

Sind die randalierenden Kids erst mal als „kriminell“ abgestempelt (was u.a. aufgrund des oben erwähnten Verhaltens eben jener leider auch von vielen so akzeptiert wird), erspart man sich die Diskussion über die verheerenden sozialen und ökonomischen Verhältnisse in Londons Armenvierteln.

Und ist die öffentliche Meinung erst einmal genug eingeschüchtert von brennenden Häuserblöcken und Todesopfern, so ist auch eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse sowie eine Fahndungskampagne nach Plünderern, die Ihresgleichen sucht, kein wirkliches Problem mehr.

Das Ganze gipfelt nun in der Delogierung ganzer Familien aus Sozialwohnungen, wenn ein Angehöriger oder eine Angehörige bei den Riots verhaftet und verurteilt wurde.

Cameron weiß ganz genau, dass diese Menschen zwangsläufig in der Obdachlosigkeit enden, wenn er – wissend, dass diese Familien wohl kaum eine Wohnung am freien Markt finden werden – sagt, sie hätten „daran [an die Konsequenzen wie Delogierung] denken sollen, bevor sie mit Einbrüchen begannen“. Sippenhaftung und Kollektivbestrafung, die unweigerlich noch tiefer in soziales Elend, Verzweiflung und Kriminalität führen.

Dass derartige Aktionen „mehr Probleme verursachen, als sie lösen“, wie Isabelle Sankey von der Menschenrechtsgruppe Liberty meinte, scheint David Cameron und den Tories entgangen zu sein.

Die Demaskierung der Staatsmacht

Vor allem aber die Fahndungskampagne grenzt ans Absurde und lässt einige Schlüsse über die Natur des Staates zu, deren sich AnarchistInnen ohnehin schon immer bewusst waren. In zig Websites, Zeitungen und sogar Videoleinwänden werden die (von den Abertausenden Überwachungskameras aufgenommenen) Gesichter von Plünderern gezeigt, mit der Bitte an die Bevölkerung, diese bei der Polizei zu melden, falls man sie wiedererkennt.

Und das alles findet in Zeiten statt, in denen an der Börse Menschen wüten, die sich nicht ein Handy, einen Pullover oder einen Flatscreen, sondern Milliarden Dollar, Pfund oder Euro „gestohlen“ haben, weil sie derartige Mengen an Geld in krimineller Manier verspekuliert haben. Sah man jemals deren Gesichter auf Videoleinwänden mit der Bitte, diese bei der Polizei zu melden, sollte man sie wiedererkennen?

Wurde den Bediensteten der Londoner Börse wegen „asozialen Handlungen“ ein Räumungsbescheid zugestellt (mit dieser Begründung wurden die Sozialwohnungen geräumt)?

Hat der Staat jemals nach diesen Menschen mit derartiger Inbrunst gefahndet?

Ein Wirtschaftssystem, das eine derartige Schere zwischen Armut und Reichtum erst ermöglicht (und nicht funktioniert), wird vom Staat und den politischen MachthaberInnen mit allen Mitteln gerettet. Dessen ProtagonistInnen werden auch weiterhin unterstützt.

Für die Menschen, die daran zu leiden haben, haben sie dagegen lediglich die Repressionskeule und Bezeichnungen wie „krank“ im Repertoire. Hier demaskiert sich der Staat und zeigt auf beeindruckende Weise, wessen Interessen er vertritt.