Die traurigsten Delfine retten, die Tragödie in Somalia stoppen und den "War on Drugs" beenden - alles zwischen Aufstehen und Frühstück, mal nebenbei. Das ist grob umrissen, was "Avaaz" (1) als "Produkt" anzubieten hat. Avaaz ist eine Online-Plattform, deren Primärzweck es ist, mit vielen hunderttausend Stimmen politische Entscheidungen weltweit zu beeinflussen. Auf einen flüchtigen Blick sieht das alles "gut" aus, vor allem "gut gemeint". Aber - ein zweiter Blick lohnt sich, wie immer, auch wenn Avaaz gerade eher dafür steht, den zweiten Blick sein zu lassen…
„Avaaz – Die Welt in Aktion“ wird vielen schon bekannt sein. Die Kampagnen, die von Avaaz ausgehen, bekommen politisch engagierte Menschen früher oder später mit, vor allem über FreundInnen, die Aufrufe weiterleiten, per Mail oder über Netzwerke wie Facebook und Twitter, die Avaaz direkt bedienen kann.
Doch was ist das eigentlich, „Avaaz“?!
Avaaz („Stimme“ auf Farsi, Hindu und Urdi) wurde Anfang 2007 als Kind der US-Organisationen „Res Publica“ (2) und „MoveOn.org“ (3) gegründet.
Während „Res Publica“ eher im Hintergrund arbeitet und – bis zur Schaffung von Avaaz – thematische Schwerpunktarbeit etwa zu Sierra Leone oder Darfur leistete, ist „MoveOn.org“ eine in den USA bekannte Plattform, die, ähnlich wie Avaaz, politische Kampagnen (und Fundraising vor allem für Wahlkampfzwecke) primär über das Internet betreibt. MoveOn.org ist dabei so etwas wie der außerparlamentarische Web 2.0-Arm der Demokraten. Entsprechend finden sich in den Lebensläufen der Avaaz-MacherInnen (dabei dreht sich vieles um Ricken Patel, Geschäftsführer von Avaaz) Verbindungen zur Rockefeller- und Gates-Foundation, aber auch zu anderen international agierenden Polit-Organisationen wie der „International Crisis Group“ (mit Joseph Fischer im Beirat und Volker Rühe als externer Berater). (4)
Unabhängig davon, wie scharf sich konkrete Kritik an den vorgenannten Institutionen formulieren lässt, ist zunächst klar: Wir haben es hier mit einer Organisation zu tun, die in jedem Fall die Idee repräsentiert, dass Gutes „von Oben“ kommt oder kommen muss. Graswurzlerisch ist hier zunächst einmal – gar nichts.
Marketing statt Information
Wer sich von einer Avaaz-Kampagne angesprochen fühlt, kann seine Daten auf der Website hinterlassen und damit für die Kampagne stimmen (oder spenden (5)) – fortan zählt man zu den z.Z. ca. 10 Millionen „Mitgliedern“. (6) Und angesprochen fühlt man sich schnell. Denn so professionell der politische Hintergrund der Plattform ist, so professionell ist auch das Marketing. Möglichen Kampagnen werden Testläufe vorangeschickt, die das Thema und dessen Wortumsetzung innerhalb einer Mail statistisch auswerten. (7) Avaaz weiß am Ende, was die Menschen anspricht und auf welche Weise die Kampagne aufbereitet werden muss.
Das alleine gereicht noch nicht zu einem Vorwurf; wie oft wünscht man sich, dass politisch kluge Texte auch ansprechend geschrieben wären, um so mehr MitstreiterInnen zu gewinnen. Hier verhält es sich aber dann doch etwas anders: Durch den Marketingtest haben politische Anliegen, für die „die Massen“ kein Interesse haben, praktisch keine Chance, in einer Kampagne zu münden. So sehr Avaaz betont, dass viele der Kampagnen auf Vorschläge von „Mitgliedern“ zurückzuführen seien, so wenig ist Avaaz dabei demokratisch oder gar basisdemokratisch organisiert. Zwar lassen sich Vorschläge machen und sollen auch „Mitgliederumfragen“ stattfinden, welche Ziele unterstützenswert seien (8) – aber auch diese Instrumente sind dem Marketing zuzuordnen; eine Kontrolle der ausführenden Organe findet nicht statt, von (ab)wählbaren Posten einmal ganz zu schweigen.
Hier ist auch ein erster eklatanter Unterschied zu den Kampagnen-Instrumenten von Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace oder ähnlichen zu sehen, die das Mittel der (niedrigschwelligen) „ich auch“-Kampagne als ein (ergänzendes) Mittel neben der eigentlichen thematischen Arbeit betrachten. (9)
Rein ins Thema, raus, und weiter
Der zweite Unterschied zu Organisationen, die auch zum Mittel der Massenkampagne greifen, liegt in der – bei Avaaz gerade nicht gegebenen – kontinuierlichen Arbeit zu einem konkreten Thema oder Themenspektrum. Avaaz kümmert sich montags um die traurigsten Delfine, mittwochs um Rupert Murdoch und am Wochenende um Tibet. Bei einem solchen Spektrum kann (und will) Avaaz keine dauerhaft begleitende politische Arbeit leisten.
Die rechtfertigende Begründung von Avaaz hierfür ist, dass politische Entscheidungen eine lange Vorlaufzeit, aber nur eine kurze Entscheidungsfindungsphase haben.
Avaaz sieht sich in der Pflicht, zu dem Datum, an dem es darauf ankommt, zu unterstützen. Das ergibt durchaus Sinn, aber vor allem dann, wenn die Massen, mit denen man ein Ziel erreichen möchte, über diese Zielerreichung hinaus eigentlich nicht weiter gefragt sind. Wo Kampagnen von A.I. oder Greenpeace zumindest auch zur fortgesetzten Partizipation einladen, endet die Partizipation bei Avaaz bei der Stimmenabgabe.
Allerdings beginnt sie auch erst da. Gerade deshalb – weil eben die „Mitglieder“ sich nicht mit dem zur Abstimmung stehenden Thema, welches meist auch noch eine schnelle Reaktion erfordert, auseinandersetzen konnten – ist die wechselhafte Themenauswahl sehr gefährlich. Viele der Kampagnen klingen zunächst gut, manchen würde man auch inhaltlich Erfolg wünschen. Und gerade bei Menschen, die politisch weniger fest verankert sind, kann so schnell ein etwas beliebiger Eindruck einer „tut Gutes“-Organisation entstehen – sicherlich das Hauptziel der Fremdwahrnehmung von Avaaz.
Doch was, wenn Avaaz plötzlich nicht so Gutes tut? Das mag im Einzelfall durchaus diskussionswürdig sein (10), aber wenn – zugegebenermaßen im Tenor der ganzen westlichen Welt – ein Krieg gegen Libyen mit dem Euphemismus „Flugverbotszone“ beworben wird (über 1.2 Millionen UnterzeichnerInnen (11)), dann ist Schluss mit lustig.
Slacktivism (12) und Erfolge…
Im 21. Jahrhundert haben die Möglichkeiten der globalen elektronischen Vernetzung neue Wege bereitet. Die schnelle und mit Mitteln der Zensur nicht immer zu stoppende Kommunikation unter Oppositionellen etwa bereitet den alteingesessenen Herrschern schon etwas Kopfzerbrechen. Informationen sind zugänglicher und von zentralen Kanälen unabhängiger erreichbar. Die Frage ist, ob eine Plattform wie Avaaz auch zum Kapitel „Demokratisierung durch das Internet“ zu zählen ist.
Und hier ist doch eher das Gegenteil zu attestieren. Auf der einen Seite drängt sich die Frage auf: Welche nachhaltigen politischen Erfolge kann eine Plattform erringen, deren „Druckmittel“ darin besteht, dass x-tausend Menschen im Internet geklickt haben. (13)
Das kann dann etwas ausrichten, wenn es Vorgänge betrifft, die sich zunächst eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielen und durch die weltweite Aufmerksamkeit eben doch in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden.
Bei „großen politischen Fragen“ – wie etwa der Frage, ob Libyen bombardiert wird, oder über die Zukunft Rupert Murdochs – dürften die Mächtigen sich über Klickzahlen bestenfalls mächtig amüsieren.
Avaaz betreibt durchaus beide Arten von Kampagnen, so dass zumindest gewisse Aktionen eine Weltöffentlichkeit und damit eine Diskussion und am Ende gar eventuell eine Veränderung hervorrufen.
Problematisch ist hierbei wieder der strategische Marketingansatz von Avaaz, der Avaaz im Nachhinein für jede aufgeblühte Sonnenblume verantwortlich sein lassen will
„Massaker verhindert“ titelt Avaaz unter der Rubrik „Höhepunkte – Frieden“ (sic!) zu Libyen – schlimm genug, dass Avaaz den Krieg als Erfolg proklamiert; die Darstellung aber, dass ausgerechnet Avaaz hier eine auch nur noch so kleine Rolle gespielt habe, grenzt schon an Größenwahn. Und solche Beispiele sind ohne Ende zu finden.
Bei kritischer Betrachtung überschreitet die Darstellung durch Avaaz und die implizierten „Erfolge“ regelmäßig die Grenze der Lächerlichkeit – nur dass gerade diese Darstellung auf unkritische Rezeption abstellt und damit ein weiteres Problem schafft bzw. verstärkt.
Die Rede ist von „Clicktivism“ (14) bzw. „Slacktivisim“, also der scheinbaren politischen Partizipation durch einen Klick im Internet, bei dem man meint, die Welt verbessert zu haben. Wer mit solchen Mitteln eben mal („Massaker verhindernde“) Kriege vom Zaun zu brechen in der Lage ist oder einen Rupert Murdoch stoppt – warum sollte so jemand auch noch die Arbeit auf sich nehmen, auf die Straße zu gehen? Sich Blockaden anzuschließen? Direkte Aktionen durchzuführen, die eventuell sogar im Gegensatz zur „herrschenden Ordnung“ stehen? Sich langfristig mit Themen beschäftigen, um immer wieder kritisch reingrätschen und andere ernsthaft informieren zu können? Wozu all das, wenn es doch so viel einfacher läuft?!
Es läuft eben nicht so viel einfacher. Avaaz verbessert die Welt nicht in erster Linie, es beruhigt sie viel mehr.
Allerdings gibt es für Ruhe keinen Grund. Und keinen Grund, in die Struktur und politische Ausrichtung von Avaaz zu vertrauen – einer Organisation, die ihre Mitglieder eben nicht über das Mittel der Kampagne zu politisieren versucht, sondern im Gegenteil impliziert, dass völlig entpolitisiertes Mausklicken vom Sofa aus politisches Engagement und die Übernahme von Verantwortung bedeute.
(4) Weitere Details und personelle Zusammenhänge: www.myspace.com/muenster_prollt/blog/541217375
(5) Avaaz sammelte 2009 gut 4 Mio. Dollar Spenden, davon gingen 16% für Kosten von Avaaz selbst ab.
(6) Dass Avaaz keine Bestätigung der Abstimmung (Double-Opt-In-Verfahren) per Mail verlangt, sondern nur eine Bestätigungsmail verschickt (Confirmed-Opt-In), muss angesichts der Professionalität der MacherInnen schon selbst Grund zur Skepsis geben, da auf diese Weise dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet werden.
(7) Patrick Kingsley: "Avaaz: activism or 'slacktivism'?", The Guardian, 20.07.2011. Entgegen dem vielversprechenden Titel ist der Artikel eine unterwürfige Hommage an Avaaz, die fatal an "embedded journalism" erinnert.
(8) Das Ergebnis einer solchen Umfrage von Anfang 2010 gibt es unter http://avaaz.org/de/people_power_in_2010 - für 2011 fehlt allerdings ein solcher Nachweis.
(9) Die Darstellung des Unterschiedes zu A.I. (oder Greenpeace) möge bitte nicht als Werbung für diese Organisationen aufgefasst werden.
(10) Etwa wenn Avaaz im Januar 2011 zum Konflikt an der Elfenbeinküste schreibt: "Ouattara … is doing what he can do for peace" () und dabei verschweigt, dass der jetzige Präsident der Elfenbeinküste keineswegs seine Hände in Unschuld, sondern doch eher in Blut wäscht (Johannes Dieterich: "Ein mittelprächtiger Guter", Frankfurter Rundschau, 05.04.2011).
(11) www.avaaz.org/de/libya_no_fly_zone_1 ; vgl. auch http://jghd.twoday.net/stories/warnung-vor-avaaz-no-fly-libyen
(12) "Die Zusammensetzung aus 'slacker' (engl. für rumhängen, nichts tun, lustlos sein) und 'activism' bezeichnet Menschen, die eigentlich zu faul sind, den Arsch hoch zu kriegen, aber andererseits doch aktiv sind. Allerdings nur bei solchen Aktionen, die wenig Anstrengung erfordern. Beispiel: einer Facebok-Gruppe beitreten, Armbändchen oder Buttons mit (politischen) Botschaften tragen oder an 'niedrigschwelligen' Demonstrationen teilnehmen, die nicht viel Aktionismus verlangen (Buy Nothing Day oder World Earth Hour)." [szenesprachenwiki.de]
(13) "Wenn unter einer Million Petitionsunterzeichnern keine zehn Aktivisten sind, die so schnell keine Ruhe geben, dann ist die Millionenzahl Makulatur." Stefan Münz: "AVAAZ - global-mediale Kampagnen als politische Lösung?", http://webkompetenz.wikidot.com/blog:109
(14) Ein guter - von Avaaz unabhängiger - grundlegender Artikel zum Thema: Micah White: "Clicktivisim is ruining leftist activism", The Guardian, 12.08.2010