Wenn man sich in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft so umschaut, möchte man meinen, es gebe in Deutschland keine Anarchismusforschung.
In den USA, in Kanada und Britannien hat die Erforschung anarchistischer und anarchosyndikalistischer Bewegungen rund um den Globus eine seit den 1960er Jahren nicht mehr gekannte Dynamik erreicht.
Seit der libertäre Anthropologe David Graeber die Antiglobalisierungsbewegung in die Nähe des Anarchismus gerückt hat, nimmt auch die Diskussion um anarchistische Organisationsformen in der soziologischen Bewegungsforschung international zu. Postmoderne Theoretikerinnen und Theoretiker loten Möglichkeiten und Grenzen des Anarchismus als Option für eine zukunftsfähige linke Politik aus.
Fast im Wochentakt erscheinen neue Arbeiten. Benedict Anderson sah „eine mittlere Lawine exzellenter Studien“ über den Köpfen der Interessierten niedergehen.
Nur an deutschen Universitäten schläft man noch den Schlaf des (Selbst)Gerechten. Eine ernstzunehmende historische Anarchismusforschung zu Spanien ist hierzulande im Grunde seit den Arbeiten von Walther L. Bernecker nicht mehr unternommen worden. Während auf der iberischen Halbinsel mittlerweile sogar an Eliteuniversitäten des Opus Dei Doktortitel für Forschungsarbeiten zum spanischen Anarchismus vergeben werden, erscheinen in Deutschland allenfalls hier und da einmal vereinzelte Publikationen.
Oft sind es wohlmeinende, dem aktuellen Forschungsstand aber kaum entsprechende Amateurversuche aus dem anarchistischen Umfeld, die hartnäckig jene altbekannten Heldenmärchen erzählen, die es libertären Revolutionsnostalgikern so mollig warm und wohlig in ihrer Gesinnung machen können.
Wenn es in Deutschland aber zur Zeit auch keine ernstzunehmende universitäre Anarchismusforschung gibt, so bedeutet dies nicht, dass es keine Anarchismusforscher gäbe. Einer der besten ist Dieter Nelles, der mit seinen Arbeiten zum deutschen Anarchosyndikalismus einen Standard gesetzt hat, der den Vergleich mit der internationalen Anarchismusforschung nicht zu scheuen braucht.
Nun ist in Spanien ein von Carlos García und Harald Piotrowski zusammengestellter und erarbeiteter Band erschienen, der ein wenig bekanntes Kapitel der Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs aufschlägt: die Anwesenheit deutscher Anarchosyndikalistinnen und Anarchosyndikalisten im revolutionären Barcelona, namentlich der 1933 gegründeten Gruppe Deutsche Anarchosyndikalisten (DAS), der während des Bürgerkriegs unter anderem der Schriftsteller Carl Einstein angehörte.
Kernstück des Buches ist ein über hundert Seiten starker Aufsatz von Nelles, der bereits 2008 in französischer Sprache erschien und den er für die spanische Übersetzung überarbeitet und mit neuem Material ergänzt hat. Dieser Text wird eingerahmt von einem erkennbar älteren Text von Ulrich Linse und insgesamt acht neu erarbeiteten Beiträgen der Herausgeber, die sich zu einem schlüssigen Ganzen fügen. „Antifascistas alemanes en Barcelona (1936-1939)“ [‚Deutsche Antifaschisten in Barcelona (1936-1939)‘] ist somit eine innovative Mischung aus Sammelband und Monographie: eine wissenschaftliche Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg und ein Dialog von Texten, die sich gegenseitig ergänzen und vervollständigen. Dabei wird rasch deutlich, dass der Band trotz seines durchgängig hohen Niveaus ohne den Beitrag von Nelles wohl nur die Hälfte wert gewesen wäre. Es ist ein Jammer, dass die deutsche Forschung solch einen informierten Fachmann über den Umweg einer spanischen Veröffentlichung (wieder)entdecken muss. Aber wer wollte sich beklagen? Besser so als nie.
Nelles untersucht, gestützt auf eine Fülle von historischen Primärquellen (namentlich privaten Briefen, wie etwa jenen des deutschen Anarchosyndikalisten Helmut Rüdiger), das Schicksal deutscher Anarchosyndikalistinnen und Anarchosyndikalisten, die sich in den Jahren 1936-1939 an den revolutionären Kämpfen in Spanien beteiligten oder zur Front abrückten, um die Truppen Francos zu bekämpfen. Er bleibt dabei so eng wie möglich am Material. Nelles entwirft fast so etwas wie das politische Stimmungsbild des Sommers 1936: ein Bild hoher Hoffnungen, aber auch kleinlicher Zerwürfnisse, Eifersüchteleien und Konflikte. So stand es z.B. um das Verhältnis zwischen in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) organisierten, internationalistisch orientierten Anarchosyndikalisten (wie Arthur Lehning oder dem erwähnten Helmut Rüdiger) und der spanischen Confederación Nacional del Trabajo (CNT) als dem stärksten Verband der IAA nicht zum Besten. Für Rüdiger war die CNT eine „sozialistische Bewegung mit nationalem Charakter“, die sich um nichtspanische Verbände wenig schere.
Kenntnisreich und kritisch erläutert Nelles, dass hinter solchen Vorwürfen zwar einerseits oft (auch) gekränkte Eitelkeiten und persönliche Animositäten verborgen gewesen seien, dass aber andererseits die CNT-Verantwortlichen wenig dafür getan hätten, ihren Ruf als etwas überhebliche, an den Dingen außerhalb Spaniens nicht wirklich interessierte Iberomanen zu korrigieren. Ein Vertreter der CNT definierte das Verhältnis seiner Gewerkschaft zum Internationalismus so: „Wir in Spanien machen die Revolution. Ihr macht sie nach. Das ist unser Internationalismus.“
Auch Nelles Darstellung der Kontroversen sowohl innerhalb der pro-republikanischen Milizeinheiten als auch zwischen den Einheiten der unterschiedlichen politischen Fraktionen (namentlich der Anarchisten und der Kommunisten) um die Frage der Militarisierung gehört zum Besten, was zu diesem Thema bislang zu lesen war.
García und Piotrowski räumen in ihrer Einleitung freimütig ein, dass Nelles Aufsatz am Anfang ihres Projekts gestanden habe. Dennoch liegt die Stärke von „Antifascistas alemanes en Barcelona“ vor allem in der Zusammenstellung der sich ergänzenden Beiträge mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten und Perspektiven. Auch Ulrich Linses Text ist klug ausgewählt und aufschlussreich. Er ist vor allem deshalb wertvoll, weil er den politischen, sozialen und geistesgeschichtlichen Kontext beschreibt, der das Verhältnis deutscher und spanischer Anarchosyndikalisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte. So hatte, um nur ein Beispiel zu nennen, der Sturz des deutschen Kaiserreichs 1918 Deutschland für eine Weile ähnlich attraktiv für spanische Arbeitsmigrantinnen und Migranten gemacht, wie es 1936 das revolutionäre Spanien für deutsche Flüchtlinge war. Die Kontakte zwischen der Arbeiterschaft beider Länder bestanden demnach schon vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, und sich wandelnde politische Herrschaftsverhältnisse zogen sich verändernde Migrationsbewegungen nach sich, die teils politisch, teils ökonomisch begründet waren. Proletarische Solidarität war oft nicht die Verwirklichung einer revolutionären Utopie, sondern schiere Überlebensnotwendigkeit.
García und Piotrowski wenden sich detailliert der Rolle der DAS während des Bürgerkriegs zu. Sie stützen sich dabei, ähnlich wie Nelles, auf zum Teil neues Material. Militärisch fiel der Beitrag deutscher Anarchosyndikalisten in Spanien nicht ins Gewicht. Dafür leisteten sie, wie García und Piotrowski nachweisen, einen wichtigen Beitrag, Strukturen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Barcelona auszuheben.
Nationalsozialistische Geheimdienste hatten mithilfe patriotischer Vereine, kultureller Einrichtungen und einer großen nationalsozialistischen Diaspora ein Spinnennetz der Überwachung über die Stadt gesponnen, in dem sich (schon vor dem Bürgerkrieg) immer wieder flüchtige deutsche Arbeiteraktivistinnen und Aktivisten verfingen.
So konnte es geschehen, dass deutsche Flüchtlinge von ihrem eigenen Konsulat (!) an die spanische Fremdenpolizei verraten wurden, wenn ihre Gesinnung den Machthabern in Berlin nicht gefiel. 1936 schob Helmut Kirschey, Mitglied der DAS, persönlich den nationalsozialistischen Konsul mit dem Gewehr im Anschlag die Gangway eines Schiffes hinauf, das ihn außer Landes bringen sollte.
Nach der Niederlage der linksrevolutionären Arbeiterbewegungen in Deutschland und fortgesetzter politischer Schikanen muss diese Szene im Hafen von Barcelona für die vertriebenen deutschen Anarchosyndikalisten ein Triumph gewesen sein.
García und Piotrowski analysieren die keineswegs unproblematische Auflösung nationalsozialistischer Strukturen in Barcelona an konkreten Beispielen, lassen auch die diplomatischen Verwicklungen nicht außer acht und wenden sich abschließend den Auseinandersetzungen zwischen DAS und stalinistischen Kommunisten zu, die für viele der Erstgenannten grausam endeten.
„Antifascistas alemanes en Barcelona“ gehört zu den besten und differenziertesten Veröffentlichungen zum Spanischen Bürgerkrieg, die in den letzten zwei Jahren erschienen sind.
Obwohl keiner der Beiträger unzulässig vom Thema abschweift und die Argumentation eng an den Quellen erfolgt, ist das Buch mehr als „nur“ die Geschichte einer winzigen Gruppe junger, deutscher Anarchosyndikalisten in Spanien.
Ausgehend vom geschichtlichen Detail entsteht ein genaues, fundiertes und faszinierendes Bild der revolutionären Prozesse in Barcelona, das frei ist von heroisierendem Pinselstrich oder schwarz-roter Monochromie.
Ein umfangreich kommentiertes, biographisches Personenregister am Ende des Bandes sorgt dafür, dass das Buch auch als praktisches Referenzwerk für künftige Forschungen verwendet werden kann. Man kann nur hoffen, dass „Antifascistas Alemanes“ bald ins Deutsche (rück)übersetzt wird.
Nelles, Dieter, Ulrich Linse, Harald Piotrowski, Carlos García, Antifascistas alemanes en Barcelona (1933-1939). El Grupo DAS: sus actividades contra la red nazi y en el frente de Aragón, (Sintra), Barcelona 2010, 426 Seiten
Anmerkungen
Nachtrag der GWR-Red.:
Eine ins Deutsche übersetzte Version des Buches "Antifascistas alemanes en Barcelona (1933-1939)" erscheint voraussichtlich 2012 im Verlag Graswurzelrevolution. Vorbestellungen bitte direkt an: buchverlag@graswurzel.net