"Was war eigentlich das Patagonien des Jahres 1920? Vereinfacht gesagt, handelte es sich um argentinisches Land, das von chilenischen Tagelöhnern bearbeitet und einer Gruppe von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten ausgebeutet wurde."
So beginnt Osvaldo Bayer seinen Bericht über den Aufstand der Landarbeiter in Patagonien und seine blutige Niederschlagung durch das argentinische Militär in den Jahren 1921 und 1922.
Er benennt den ungeheuren Reichtum der Besitzenden und schildert die bittere Armut und die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Landarbeiter.
Auch nimmt er sich reichlich Zeit, das Panorama der riesigen, fast menschenleeren Weiten Patagoniens zu entfalten, und das ist wichtig für die europäischen Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts, denn nur wenn es gelingt, eine Vorstellung von den geografischen und gesellschaftlichen Koordinaten des Aufstands zu gewinnen, werden manche Ereignisse, Handlungsweisen und Reaktionen begreiflich – z.B. welche Schwierigkeiten sich bei der Organisation allein durch die enormen Entfernungen ergeben, die das Abhalten selbst einer kleineren Versammlung zu einem logistischen Großereignis machen.
Oder dass ein schlichter Demonstrationszug mit dreihundert Teilnehmern Honoratioren und Polizei der Ortschaft Puerto Deseado dermaßen mit Schrecken erfüllt, dass sie „sich in die Polizeistation flüchteten“, denn „die zwei oder drei Soldaten, die hinter [den Demonstrierenden] herliefen, trauten sich nicht, sie zu stoppen“.
Die ersten Arbeitskämpfe, wesentlich vorangetrieben durch anarchistische Agitatoren und anarchosyndikalistische Gewerkschaften, zeigen durchaus Erfolg: 1920 wird ein Abkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern geschlossen, welches höhere Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen festschreibt.
Die Arbeiter (1) triumphieren; den Unternehmern und Landbesitzern dagegen erscheint der Vertrag als Zumutung, und viele denken gar nicht daran, ihn einzuhalten. Sie setzen auf ihre Autorität und auf die Abgeschiedenheit ihrer Güter, aber auch auf bürgerwehrähnliche Zusammenschlüsse wie die „Patriotische Liga“, in denen sie sich gegen die Arbeiter organisieren. Die Arbeiter hingegen sind entschlossen, nicht nur das bereits geschlossene Abkommen, sondern auch eine Reihe neuer Forderungen durchzusetzen. Sie rufen zum Streik auf und besetzen zahlreiche große Landgüter.
Die Landbesitzer sind außer sich. Sie wenden sich an die Regierung in Buenos Aires und fordern Truppen zur Niederschlagung des Streiks an.
Zunächst kein einfaches Unterfangen: Die Regierung unter Präsident Hipólito Yrigoyen versteht sich als liberal, fortschrittlich und arbeiterfreundlich. Aber die Lobby der Grundbesitzer setzt sich durch.
Ein Kavallerieregiment unter dem Kommando von Oberstleutnant Héctor Benigno Varela wird nach Patagonien entsandt und erstickt die Rebellion im Blut. Mehr als 1.500 Arbeiter werden getötet – die meisten von ihnen regelrecht hingerichtet, nachdem sie sich bereits ergeben haben.
Aufstand in Patagonien, obschon die gekürzte, überarbeitete Version der vierbändigen Originalausgabe „La Patagonia rebelde“, enthält eine Fülle historischer Details, Ergebnis jahrelanger Recherche des Autors, eines Historikers, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die totgeschwiegenen Ereignisse vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. Er hat in den 70er Jahren zahlreiche Zeitzeugen ausfindig gemacht und befragt.
Oft kommen sie in längeren Passagen selbst zu Wort und schildern ihre Erlebnisse, teils nüchtern, teils emotional. Einzelnen Arbeiterführern wie Antonio Soto oder José Font, aber auch dem „Rächer“ Kurt Wilckens, einem deutschen Anarchisten, der Oberstleutnant Varela im Januar 1923 erschoss, werden ausführliche Porträts gewidmet.
Aufrufe, Flugblätter und Zeitungsartikel werden im Wortlaut dokumentiert und vermitteln einen lebendigen Eindruck der konkreten Forderungen und Kämpfe wie auch der sie inspirierenden Ideen und Ideale. So wird die Lektüre nie ermüdend, obschon die sperrige Sprache mit ihrer eigenwilligen Mischung aus Humor, Schnoddrigkeit, Pathos und Machismo streckenweise sehr gewöhnungsbedürftig ist. Befremdlich ist auch die schillernde Präsenz des Autors in der Handlung. Mal nimmt er entschieden und zornig Partei, mal distanziert er sich ironisch, mal ist er ganz der Fakten sammelnde Geschichtswissenschaftler. Wer sich von derlei auktorialen Launen aber nicht beirren lässt und es aushalten kann, dass seine Lesegewohnheiten gegen den Strich gebürstet werden, erhält einen einzigartigen Einblick in ein wenig bekanntes Stück argentinischer Arbeitergeschichte.
(1) Tatsächlich ist dies eine Geschichte von Männern. Frauen kommen als Handelnde so gut wie gar nicht vor, mit Ausnahme weniger Episoden von eher anekdotischem Charakter. Die meisten Landarbeiter hatten keine Familien, sie zogen auf der Suche nach Arbeit vereinzelt durchs Land und hausten, wenn sie Arbeit hatten, in Massenunterkünften; die Landbesitzer beschäftigten in der Regel nur Junggesellen.
Osvaldo Bayer: Aufstand in Patagonien. Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Boris Schöppner. Trotzdem Verlagsgenossenschaft, Frankfurt/M. 2010, ISBN 978-3-86569-910-7, 423 Seiten, mehrere s/w-Fotos, 28 Euro