Mit ihrer "Danke"-Titelseite zum 50. Jahrestag des Mauerbaus hat die marxistische Tageszeitung "junge Welt" (jW) deutlich das Gesicht gezeigt, das sie schon immer hatte. Unter dem Foto bewaffneter DDR-Kampfgruppenangehöriger vor dem Brandenburger Tor druckte das Blatt sein ganz spezielles Dankeschön unter anderem für "28 Jahre Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe". (1)
Hohenschönhausen ist nicht nur irgendein beliebiger Stadtbezirk von Berlin, sondern war von 1951 bis 1989 das zentrale Gefängnis der Stasi, in dem auch physisch gefoltert und die Häftlinge psychologisch zermürbt wurden.
Einer der Einsitzenden war der bekannte Dissident und Reform-Sozialist Rudolf Bahro.
Hubertus Knabe ist der Sohn des „Die Grünen“-Mitbegründers Wilhelm Knabe, der sich ab 1978 intensiv für die Freilassung Bahros eingesetzt hatte. Seit 2001 ist der von der jW geschmähte Hubertus Knabe Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen, in der über die Verbrechen der DDR-Diktatur informiert wird. Indem die jW sich positiv auf „28 Jahre Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe“ bezieht und sich für den alten Betrieb als Stasigefängnis bedankt, lebt sie heute noch unverhohlen ihren Hass gegenüber den Menschen aus, die dem Sozialismus als DissidentInnen ein menschliches Antlitz geben wollten.
Die als Dankeschön deklarierte Rechtfertigung der DDR-Diktatur hat für viel Ärger gesorgt und zu Boykottaufrufen innerhalb der Linkspartei geführt. Hierdurch aufgeschreckt, haben sich 30 Bundestagsabgeordnete der Linkspartei mit der jW solidarisiert und Sanktionen wie Anzeigenboykott abgelehnt. Sogar ein „kritischer“ Satz gegenüber der jW findet sich in ihrer Stellungnahme: „Die Titelseite, mit der die junge Welt zum 50. Jahrestag des Mauerbaus aufgemacht hat, fanden wir unhistorisch, unpassend und geschmacklos.“ – Das Gegenteil ist jedoch richtig: Ist es nicht ein Zeichen für eine sehr bemerkenswerte historische Kontinuität, wenn eine Zeitung, die jahrzehntelang das Sprachrohr der hyperstaatstreuen „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) war, auch noch 22 Jahre nach dem Fall der Mauer von dem Chefredakteur Arnold Schölzel geleitet wird? Eben jener Schölzel (2), der es auch heute noch völlig richtig findet und in einem Dokumentarfilm bekräftigt, bis 1989 als eingeschleuster Stasi-Mitarbeiter in einer studentischen Oppositionsgruppe (unter anderem über Wolfgang Templin) Informationen weitergeleitet zu haben? Am Ende dieser Entwicklung landete Templin – in Hohenschönhausen! Passender geht’s nicht.
Die jW kritisiert detailreich, kontinuierlich und scharf die Versäumnisse und verpassten Chancen von Regierungsbeteiligungen der Linkspartei. Das macht sie bei den Regierungssozialisten, die sich wie zum Hohn teilweise auch noch „Emanzipatorische Linke“ nennen, äußerst unbeliebt. Mit dem Aufruf die jW zu boykottieren, sowie Medienpartnerschaften und Anzeigenschaltungen aufzukündigen, nutzt die „Emanzipatorische Linke“ die langherbeigesehnte günstige Gelegenheit, den Einfluss unliebsamer innerparteilicher KonkurrentInnen zurückzudrängen. Die Boykottaufrufe lassen den autoritären Charakter ihrer InitiatorInnen deutlich hervortreten. Sie wollen einfach eliminieren, was ihnen im Wege steht. Auch das hat in dieser Partei Tradition.
Unter anderem im Sommer 2006 haben wir in der Graswurzelrevolution (Nr. 310) ausführlich die unkritische Nähe der jW zu autoritär regierten Staaten und Despoten kritisiert. Selbst vor fünf Jahren noch hat die jW auf ihrer Wissenschaftsseite Werbung für Atomkraft gemacht und gleichzeitig vor den „tödlichen Gefahren“ von Biogasanlagen gewarnt. Das war keine Satire, sondern ernst gemeint. Kaum eine Peinlichkeit wurde von dieser Zeitung ausgelassen.
Und doch sind in der jW auch wichtige Artikel zu finden, die man in anderen Zeitungen vergeblich sucht. Es gibt nur noch drei bis vier halbwegs akzeptable Tageszeitungen auf dem Markt. Für viele kritische JournalistInnen bestehen kaum noch Betätigungsmöglichkeiten in konventionellen Medien. Nur deswegen schreiben Viele in der jW. Den anrüchigen Teil der jW müssen sie notgedrungen in Kauf nehmen, wenn sie überhaupt noch etwas für ein größeres Publikum schreiben wollen. Auf den täglichen Doppelseiten der jW kann man auch interessante Artikel lesen, die es in pseudoliberale Gazetten nicht mehr geschafft haben. Von daher hat die jW immer noch auch eine nicht zu unterschätzende Funktion bei der Herstellung von Gegenöffentlichkeit. Allerdings wird dieser Wert durch eine ganze Reihe dubioser Artikel in Frage gestellt, die gleich nebenan stehen. Qualitätsjournalismus sieht anders aus.
Es ist erstaunlich, dass 22 Jahre nach dem Fall der Mauer allen Ernstes wieder unter Linken diskutiert werden muss, ob diese Grenze ein legitimes Mittel zur Sicherung angeblich sozialistischer Errungenschaften war. Zu einer klaren Ablehnung des eingemauerten „Sozialismus“ kann sich in Internetforen, Blogs und Mailgroups ein Teil der Linken immer noch nicht durchringen! Dieses Armutszeugnis macht kenntlich, wie groß die Defizite in ihrem demokratischen Bewusstsein heute tatsächlich noch sind.
Glücklicherweise ist diese verschroben-autoritäre Linke gesamtgesellschaftlich so marginal, dass sie auf absehbare Zeit keine Gelegenheit haben wird, uns ihre Vorstellungen von Mauer-Sozialismus aufzuzwingen.
In der jetzt stattfindenden Diskussion versucht sich die jW als das Opfer darzustellen, dem durch Parteirechte das Leben schwer gemacht wird. Jetzt sieht sie plötzlich die Pressefreiheit in Gefahr, während sie andererseits selbst die Meinungen ihrer langjährigen AutorInnen, die sich in ausführlichen kritischen Artikeln zur jW-Krise äußern wollten, nicht abdruckte. Erst vier Wochen später dokumentierte diese „hochaktuelle“ Tageszeitung auf einer Sonderseite einige wenige kritische Zuschriften. Hiermit offenbarte sie ähnliche Probleme mit Realitätswahrnehmung und Kritikverarbeitung, wie sie bei nordafrikanischen Despoten kurz vor ihrem Fall vorgekommen sind. Schölzels Stigmatisierung von Kritik an der jW als „Krawall“ (10.9.2011) bezeugt die mangelnde Lernfähigkeit führender Figuren dieses Blattes.
Diejenigen jedoch, die „Maßnahmen“ gegen die jW fordern, werden sich fragen lassen müssen, wie laut und wie eifrig sie in der Vergangenheit protestiert haben, als Zeitungen wie zum Beispiel taz, Frankfurter Rundschau, ZEIT und Jungle World Kriegseinsätze im Ausland oder die Hartz IV-Gesetze schöngeredet haben. Die BoykotteurInnen würden mit ihren Maßnahmen nicht nur den DDR-nostalgischen und autoritären Teil der jW treffen, sondern auch das kleine bisschen noch existierender Gegenöffentlichkeit mitzerstören.
Letztendlich bleibt für uns Libertäre festzustellen, dass nur noch sehr wenige Medien existieren, die unser ureigenes Anliegen einem größerem LeserInnenkreis einigermaßen korrekt vermitteln. Um diesen Missstand zu beheben, sollten wir selbst etwas zur Verstärkung unserer eigenen Medien tun, um in Zukunft weniger vom Wohlwollen Anderer abhängig zu sein. Dies wäre für uns ebenfalls eine wichtige Lehre, die aus der jW-Krise zu ziehen ist.
(1) Zum Thema siehe auch Anne Seecks lesenswerten Artikel: 50 Jahre Mauerbau: "DANKE" JUNGE WELT, www.scharf-links.de/52.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=17949&tx_ttnews[backPid]=56& cHash=74a969f5d6