"Nach dem [Ausschluss]Verfahren kam einer der Beteiligten zu mir und sagte: 'Weißt du, du bist gar nicht so übel. Du hast dich soweit ziemlich gut verteidigt, auch wenn dein Fall hoffnungslos ist. Ich gebe dir einen Tipp. Du bist kein Sozialist. Du bist ein Anarchist.' Also fragte ich ihn: 'Wo kann ich die finden?'"
Sam Dolgoff (1902-1990), gebürtiger Weißrusse, der seinem vom Kriegsdienst flüchtenden Vater in die USA folgte, hatte ein bewegtes Leben, wie seine nun auch in deutscher Sprache vorliegenden Memoiren eindrucksvoll zeigen. Als „ausgebeuteter Lohnsklave“ und aufgrund seines „rebellischen Temperaments“, für die „Botschaft des Sozialismus“ empfänglich, wird er 1919 Mitglied der Young People’s Socialist League (19).
Da in den Zusammenhängen der Sozialistischen Partei allerdings „nicht das geringste Fünkchen revolutionären Geistes“ existiert habe und sich alles um die parlamentarische Agitation – den „Wahlschwindel“ (22) – drehte, beschließt Dolgoff seinen Austritt, wobei man ihm mit einem Ausschlussverfahren zuvorkommt.
Von hier an datiert Dolgoffs „Mitgliedschaft“ in der anarchistischen Bewegung, gekennzeichnet durch zahlreiche Aktionen: Organisationsgründungen, Zeitungsprojekte, gewerkschaftliche Kämpfe etc. – immer durch den Versuch gekennzeichnet, den Kontakt mit den Massen nicht zu verlieren, bzw. überhaupt erst zu knüpfen.
Dolgoff, der sich selbst als Anarchosyndikalisten und kommunistischen Anarchisten definiert (25), beeinflusst wohl vor allem durch den russischen Anarchosyndikalisten Maximov (56ff.), hat in diesem Kontext Wert auf eine funktionierende Organisation gelegt und gegen die „infantile Ablehnung jeglicher Form von Organisation“ Stellung bezogen (83).
Immer wieder kommt er auf den desolaten Zustand der anarchistischen Bewegung zu sprechen: „Im Road to Freedom-Kollektiv sprengten wie in vielen anarchistischen und anderen Gruppen Sektierertum und belanglose persönliche Streitigkeiten den Gruppenzusammenhang und machten jedes gemeinsame Vorgehen unmöglich.“ (24 vgl. auch 155). Dolgoff kritisiert Bookchin u.a. dafür, dass dieser „seine Hoffnungen auf eine Revolution auf ein unverantwortliches Konglomerat disparater, kurzlebiger, marginaler Ad-hoc-Grüppchen“ gründe (94), merkt aber an, dass es nicht darum gehe, „an einem Rebellen herumzukritisieren, der neue Wege zur Freiheit sucht“ (95).
Dies ist bezeichnend: Dolgoff vertritt eigene Standpunkte und schreckt vor Kritik auch anarchistischer „Größen“ nicht zurück, bemüht sich aber stets um Fairness. Beispielhaft in diesem Zusammenhang, wenn er kritisiert, dass Rudolf Rocker in seinen letzten Lebensjahren den „revolutionären Anarchismus“ aufgegeben (123) und sich „(natürlich unabsichtlich) zum Sprachrohr konventioneller bürgerlicher Ideen“ gemacht hätte (125). Ähnlich beurteilt er Augustin Souchy (126), verurteilt aber „die beleidigende Art, in der ein Mann von Souchys Format und Ruf in der revolutionären Bewegung behandelt wurde“ (128), vor allem beim internationalen anarchistischen Kongress von Paris (1971).
Neben vielerlei Reflexionen über ProtagonistInnen der anarchistischen Bewegung – dankenswerterweise vor allem auch über „die anonymen Helden“ (153), die in der Geschichtsschreibung zumeist vernachlässigt werden – und den ernüchternden Einblicken, die gegeben werden (z.B. auch in die Zustände der „modernen Schule“ und diverser Kolonieprojekte) trifft man aber auch auf Humoristisches und die Unzulänglichkeiten der eigenen Praxis, z.B. beim gescheiterten Versuch, Angestellte eines Schönheitssalons für die Gewerkschaft zu interessieren (146).
Ebenfalls finden sich viele interessante Anmerkungen über damalige Debatten innerhalb der anarchistischen Bewegung, z.B. über die Rolle des Regierungseintritts der CNT-FAI in die spanische Regierung im Kontext des spanischen Bürgerkriegs oder die Einschätzung des Zweiten Weltkrieges (120ff.).
Dolgoffs Ansatz zeigt sich bei alldem einerseits prinzipienfest wie andererseits pragmatisch: „Entscheidende Probleme kann man nicht umgehen, indem man sie auf eine ferne Zukunft verschiebt – vielleicht auf das nächste oder übernächste Jahrhundert, wenn Anarchismus erst einmal vollständig verwirklicht sein wird und die Massen zu überzeugten und engagierten Anarchokommunisten geworden sind. Wir Anarchisten müssen eine eigene Lösung haben, wenn wir nicht die Rolle ’nutzloser und unfähiger Querulanten‘ spielen wollen, während die Autoritären an die Macht kommen, weil sie pragmatischer und skrupelloser sind.“ (205). Und: „Es gibt keinen ‚reinen‘ Anarchismus. Es gibt nur die Anwendung anarchistischer Prinzipien auf die Realitäten des gesellschaftlichen Lebens. Das einzige und alleinige Ziel des Anarchismus ist es, die Gesellschaft in eine anarchistische Richtung zu lenken.“ (207)
Insgesamt vermittelt das Buch eine ernüchternde Bestandaufnahme der anarchistischen Bewegung der USA, die einen leider an Engels‘ Polemik erinnern lässt, wonach „die Anarchisten denn auch lauter ‚Einzige‘ geworden“ seien, „so einzig, dass ihrer keine zwei sich vertragen können“ (MEW 37: 293).
Vielleicht aufgrund eines schlechten Gewissens wegen seiner Offenheit endet Dolgoff dann mit einem „hoffnungsvollen Ausklang“: „All diese Jahre habe ich Bewegungen wachsen und Bewegungen verschwinden, Leute kommen und Leute gehen sehen. Aber mich erhält die Überzeugung aufrecht, dass der stetige Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit weitergehen wird.“ (178f.)
Dolgoffs Memoiren sind sehr zu empfehlen. Sie stehen in der Tradition derjenigen anarchistischen AktivistInnen, die die Augen vor den Unzulänglichkeiten der eigenen Bewegung nicht verschlossen. Sie sind aufmunternd und zeigen, dass es immer wieder Leute gab, die sich nicht unterkriegen ließen und erstaunliche Biographien aufweisen, derer man sich erinnern sollte.
Sam Dolgoff: Anarchistische Fragmente. Memoiren eines amerikanischen Anarchosyndikalisten, Edition AV, Lich 2011, ISBN 978-3-86841-050-1, 237 Seiten, 16 Euro