Blaugefärbte, langohrige Protest-Avatare posieren publikumswirksam vor der Generalversammlung einer britischen Bergbaufirma, die mit dem Abbau von Bodenschätzen die Lebensgrundlagen der Adivasis in dem indischen Bundesstaat Orissa zerstört. Die Geschichte der dortigen indigenen Stämme hat eine große Ähnlichkeit mit dem Volk der Na'vi in dem bekannten Science-Fiction-Film "Avatar".
Monty Python-Star Michael Palin solidarisiert sich ebenfalls und Bianca Jagger gibt in bekannten Zeitschriften den Bedrängten in Indien eine Stimme: „Wir werden erloschen sein.“ (1)
Hinter diesem sicher in bester Absicht inszenierten Medienspektakel gerät die Dimension des „größten Landraubs von indigenem Land seit Kolumbus“ (2) etwas zu sehr in den Hintergrund.
„Eine ungefähre Schätzung geht von 60 Millionen Flüchtlingen und durch Bauprojekte Vertriebene in Indien aus. Das sind viermal so viele Menschen, wie zur Zeit der Teilung zwischen Indien und den beiden Flügeln Pakistans ausgetauscht wurden.“ (3) Durch die neu ausgewiesenen 578 Sonderwirtschaftszonen (SEZ) werden in Indien ganze Landstriche für das Kapital zugerichtet und Schutzrechte für die örtliche Bevölkerung und die Umwelt außer Kraft gesetzt (4).
Die Konzerne haben freie Hand; der Staat setzt die Enteignung von Gemeinschaftseigentum mit Gewalt durch.
Zu den potentiellen Nutznießern an den Vertreibungen gehörten in den letzten Jahrzehnten die deutschen Firmen Siemens, Bayernwerk, Bayrische Hypo-Bank und VEW. In ihrem Kampf gegen die geplanten 30 Großstaudämme an dem 1300 Kilometer langen zentralindischen Fluss Narmada haben die betroffenen 25 Millionen Menschen Teilerfolge erkämpft und versuchen bis heute ihr Überleben zu organisieren. Von ihnen handelt dieses Buch.
Im Vorwort stellt Lou Marin dar, wie im Namen einer fragwürdigen Entwicklungspolitik weltweit Megastaudämme und mit ihnen in der Folge menschenfeindliche Industrieprojekte als „fortschrittlich und progressiv“ angepriesen werden, um sie besser durchsetzen zu können.
Bereits direkt nach der Unabhängigkeit Indiens sprach der erste indische Premierminister Nehru in seiner Zukunftsvision von den Großstaudämmen als den „Tempeln des modernen Indien“. Im Gegensatz zu diesem von kapitalistischen Interessen geprägten Entwicklungsweg setzt sich seit den 1970er Jahren die Aternativbewegung für einen ganz anderen menschengemäßen Weg ein.
„Entwicklung“ – Propaganda der Herrschenden!
Ulrike Bürger, die Autorin des Buches, hat die Narmadaregion in den letzten Jahren mehrmals für längere Zeit besucht und viele Interviews und Gespräche mit Widerstandsleistenden geführt, um sich ein Bild über die Lage an den Staudämmen zu machen.
Als Erstes analysiert sie den eurozentristischen, die herrschenden Zustände verschleiernden Begriff der „Entwicklung“ an Hand des Beispiels Indien.
Die unverbrieften traditionellen Landnutzungsrechte wurden zu Gunsten der Privatisierung von Land zurückgedrängt.
Sie zeigt, wie durch die Kommerzialisierung von Ressourcen die Lebensweise von bestehenden Gemeinschaften zerstört wird. Großstaudämme sollen Wasser für die industriell betriebene Landwirtschaft und die Industrie bereitstellen, Strom erzeugen und die Fluten regeln. Die großtechnische „Umformung von Ökosystemen in Produktionsmaschinen“ bewirkt eine Zentralisierung von Gemeinschaftsgütern in den Händen weniger Konzerne.
Für viele Menschen in der westlichen Welt ist es schwer nachvollziehbar, mit welcher Wucht und allumfassender Konsequenz der Bau von Staudämmen in das bisher noch komplexe und recht ausgewogene Beziehungsgeflecht zwischen Natur und einheimischer Bevölkerung eingreift.
Ulrike Bürger stellt zur Verdeutlichung der Gefahren anschaulich und detailliert die gesamte Palette der einzelnen bedrohten Bereiche dar und erklärt ihre Bedeutung im Leben der betroffenen Bevölkerung. Hierzu gehören der Wald als Quelle für Brennholz, Baumaterialien, medizinisch genutzte Wurzeln und Kräuter, Gemüseanbau und Viehweide, die bedrohten Fischgründe und der auskömmliche Sandabbau des Schwemmlandes durch eine besondere Berufsgruppe.
Kein Wunder, dass die Narmada nicht nur als eine große wirtschaftliche, sondern auch spirituelle Lebensader angesehen wird. Der von Ost nach West quer durch Indien fließende Fluss wurde schon im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als „Mittellinie der Erde“ bezeichnet.
Während sich in den Zentren Indiens bereits ein zweifelhafter „Fortschritt“ in den Megastädten ausgebreitet hat, soll ähnliches jetzt auch auf dem Lande an der Narmada stattfinden. Die Autorin des Buches zitiert den Ministerpräsidenten Joshi aus Gujarat als Staudammbefürworter: „Eine Kultur, die auf einem niedrigen Stand der Technologie und der Lebensqualität basiert, ist dazu verpflichtet, einer Kultur mit überlegener Technologie und Lebensqualität zu weichen. Das nennen wir ‚Entwicklung'“. – Die AnwohnerInnen der Narmada begreifen jedoch ihre Lebensweise keineswegs als rückständig, sondern pfeifen auf diese Art der Entwicklung, weil sie genau wissen, dass sie am Ende der geplanten Maßnahmen ihr selbstbestimmtes, autarkes Leben verlieren und fremdbestimmt werden: „Wasser kommt aus Leitungen, die Medizin in Tablettenform und das Licht durch Kabel. Wir müssen Viehfutter kaufen. Alles hängt von irgend jemand anderem ab. Alles muss bezahlt werden.“
Gewaltfreier Widerstand bewirkt Lernprozesse und positive Veränderungen
In diesem Buch wird nicht nur auf die prekäre Lage der Adivasi in der Maheshwar-Region eingegangen, sondern auch die Situation der hinduistischen Mehrheit am geplanten Maan-Staudamm dargestellt.
Die Unterschiede in ihrer Lebensweise sind gravierend.
Während bei den Adivasi egalitäre Strukturen, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Eigentumsformen und substantielle Frauenrechte vorzufinden sind, spielt in der Maheshwar-Region das hierarchische hinduistische Kastensystem eine große Rolle. Hier mussten Frauen z.B. erst noch das Schleierablegen und das Recht auf Fahrradfahren durchsetzen.
Aufgrund der guten wirtschaftlichen Situation der Anwoh-nerInnen, besserer Infrastruktur und des Zugangs zu modernen Kommunikationsmitteln konnte der Widerstand gegen den Staudamm allerdings auch andere Vorteile nutzen.
Als Organisation, welche die gandhianischen Prinzipien des gewaltfreien Widerstandes anwendet, wird von der Autorin die Narmada Bachao Andolan (NBA) genauer vorgestellt.
Trotz brutaler Repression des Staates setzt sie auf zivilen Ungehorsam und nicht auf die brachial-militaristischen Methoden der maoistischen Naxaliten, die bezeichnenderweise auch von der marxistischen deutschen Tageszeitung „junge Welt“ hochgejubelt werden.
Bemerkenswert ist bei dieser breitgefächerten Bewegung ebenfalls ihr Grundsatz, nicht mit den von Eigeninteressen und Machtkalkül geleiteten politischen Parteien zu kooperieren. Die seit 1988 bestehende sozialpolitisch engagierte Widerstandsorganisation hat bisher 14 Schulen aufgebaut. Es werden nur innerindische Spenden angenommen, um Abhängigkeiten zu vermeiden. „Innerhalb des Widerstands wird versucht soziale Gleichheit zu leben, Hierarchie und Barrieren abzubauen und eine Kultur der Solidarität aufzubauen.“
An mehreren Stellen des Buches dokumentiert und übersetzt die Autorin traditionelle Lieder des Widerstandes, in denen schwierige ökonomische Sachverhalte in einfache Worte gefasst werden, die dann auch von Menschen ohne formelle Schulbildung verstanden werden können. „Widerstand kann auch ein Fest sein. Während des Kampfes gemeinsam die Zeit mit Liedern und Tänzen zu verbringen, bestärkt die Betroffenen.“
Teilerfolge und brutale Unterdrückungsmethoden des Staates
Trotz zahlreicher Vertreibungen während der letzten 25 Jahre hat der gemeinsame Kampf den Zusammenhalt der LandbewohnerInnen und die Zielvorstellung einer solidarischen Gesellschaft gefördert.
Teilerfolge wurden errungen, indem der Staudammbau unterbrochen oder Korrekturen am Verlauf der Überschwemmung vorgenommen werden mussten. Besonders wichtig war der Einsatz für eine angemessene Entschädigung, die nicht durch schnell verbrauchtes Bargeld, sondern durch die Bereitstellung von existenzsicherndem Land stattfinden sollte.
Die Auseinandersetzung wurde bis zum Höchsten Gerichtshof und bis in die Ministerien der Bundesregierung Indiens hineingetragen. Hierbei setzten die AkteurInnen sogar ihren eigenen Körper ein, indem sie in gandhianischer Tradition Fastenaktionen durchführten oder sogar Widerstand bis zum Ertrinken (drown-satyagrahas) bei Flutungen der Stauseen vornahmen.
In dem Nachwort spitzt Shankar Narayan die bisherige Analyse und Darstellung des Buches noch einmal dramatisch zu, indem er die brutale staatliche Gewalt sowie die Begeisterung und Mittäterschaft der aufstrebenden indischen Mittelschicht bei der Durchsetzung der Industrieprojekte anprangert. Diese setzen eine „Kette destruktiver Prozesse“ in Gang, die eine tödliche Bedrohung für die Adivasis darstellt.
Er kritisiert, dass ein Großteil der Aktionsgruppen und Linken inkonsequent ist und keinen Rückbau und Abbau der Städte und des industriellen Komplexes fordert: „Wie kann man nur eine Infrastruktur mit ihren Straßen und Kraftwerken und Institutionen wie moderne Schulen, Hochschulen und moderne Universitäten ohne industrielle Prozesse wollen? Wie kann man Städte mit so vielen Gebäuden wollen, Straßen, motorisierten Transport, Elektrizität und fließendem Wasser usw., die alle auf der Ausbeutung, dem Abbau und dem Transport von Ressourcen von außerhalb der Städte, aus den ländlichen Regionen und den Wäldern basieren? Und die nichts anderes als Zerstörung außerhalb der Städte bedeuten!“
Indem er diese grundsätzlichen Fragen aufwirft, regt er zur Diskussion darüber an, wie eine zukünftige Gesellschaft unserer Meinung nach aussehen sollte. Und er wirft weitere Fragen nach der Realitätstauglichkeit dieser Vorstellungen auf. Oder zu notwendigen Zwischenschritten oder vorläufigen Kompromissen.
Wie geht es weiter?
Möglichkeiten, mit relativ geringem Aufwand in Deutschland etwas zu tun, gibt es meiner Meinung nach bei konkreten Anlässen mehrmals im Jahr.
In schöner Regelmäßigkeit finden hier, gefördert durch die örtlichen Handelskammern, indische Kultur- und Handelstage zur Geschäftsanbahnung statt.
Garniert mit gefälliger Sitarmusik wird hier besprochen, wie die nächsten Raubzüge und ökologischen Verwüstungen für die Wirtschaft am besten organisiert werden können. Sollte man diese Leute hierbei nicht mit den Folgen ihres Handelns konfrontieren und eine öffentliche Diskussion anregen? Das wäre ein Anfang.
Die aktuelle Entwicklung wird in dem Buch bis zum Jahr 2010 ausführlich dargestellt und durch eine zehnseitige Chronik im Anhang ergänzt. Glossar, Abkürzungsverzeichnis, Internetquellen und Literaturverzeichnis, Hinweise auf Filmmaterial und eine Dokumentation der Widerstandslieder lassen keine Wünsche offen. Etwa 30 schwarz-weiß Fotos gewähren zusätzlich einen optischen Eindruck über die Situation an der Narmada.
Keine Frage, dies ist ein rundum gelungenes Buch!
(1) Bianca Jagger im "Observer"; übersetzt im "Freitag" vom 29.7.2010
(2) Jan Myrdal, in: "junge Welt" vom 25.6.2011
(3) Walter Fernandes in "Südasien" Nr. 1/2010
(4) Manshi Asher im Interview mit Rainer Hörig, in: "Südasien" Nr. 1/2010
Ulrike Bürger: Staudamm oder Leben! Indien: Der Widerstand an der Narmada, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2011, ISBN 978-3-939045-15-1, 222 Seiten, 14,90 Euro