Die Veröffentlichungen von Briefen gehört - wie das Medium selbst - zu einer aussterbenden Sparte der Buchbranche, zumindest werden sie immer seltener. Und das finde ich schade.
Der Berliner Verlag Edition Tiamat legt jetzt einen Band mit Briefen des französischen Enfant terrible Guy Debord (1931-94) vor, die aus der siebenbändigen Originalausgabe zusammengestellt wurden.
Debord, der als Autor, Filmemacher und Politaktivist u.a. die Situationistische Internationale (SI) mitbegründete, jene Bewegung von KünstlerInnen und RevolutionärInnen, die in den 1950er Jahren entstand, maßgeblich den Pariser Mai 1968 beeinflusste und sich 1972 auflöste, kann wohl zu den radikalsten – oder auch eigenwilligsten – Denkern des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Seine Theorien, die keine sein sollten, sein umfangreiches Werk, welches ihn auf keinen Fall in die Position eines Lehrers oder Führers versetzen sollte, seine Kunst (und die seiner Mitstreiter), die keiner Verwertbarkeit unterliegen sollte, und sein Handeln, das immer politisch sein sollte – bis zur Auflösung. Jede Anstrengung politischer Parteien empfand er als sinnlos, gar reaktionär: „Die ‚Denker‘ der Linken sagen, man müsse alles radikal überdenken: so banal war ihr Denken noch nie.“ (8.8.1958). Alles ist eben Spektakel.
Die Briefe offenbaren allerdings kaum Geheimnisse. Debord war wohl ein Mensch, der etwa seine politischen und kulturellen Gegner nicht nur in Briefen beleidigte, sondern dies auch gerne öffentlich tat. Er scheute keine Auseinandersetzung, was ihm auch prompt die Observierung durch die Polizei einbrachte. Seine Tätigkeiten in der Lettristischen und Situationistischen Internationale waren oft „halb-klandestin“.
Als großer Netzwerker – in einer Zeit ohne Computer – war er derjenige, der Verbindungen in die (meist französischsprechende) Welt knüpfte. Auch als sich die Situationistische Internationale als Bewegung auflöste, die bis heute recht spannende An- und Einsichten bietet, ließ er keineswegs locker, seine Ideen zu proklamieren.
Überraschend ist zu lesen, wie viele radikale Ansätze bereits vor den sogenannten 68ern hier angedacht wurden. Wieder einmal ein Beweis dafür, dass die 68er eigentlich eher das Ende einer Epoche darstellen, weniger den Beginn, denn dieses, was den genannten immer wieder zugeordnet wird, wurde bereits 10 Jahre zuvor diskutiert.
Und wen soll es verwundern, wenn Debord erklärt: „Ich zähle nicht zu den Bewunderern der Situationistischen Internationale.“ Bei ihm weiß man, dass dies kein Kokettieren ist, sondern die Negation eines längst vergangenen Spektakels.
Persönlich hat mich das Verhältnis von Debord zum legendären Verlag Champ libre (deren Pendants in Deutschland etwa die Edition Nautilus und die Edition Tiamat darstellen) interessiert. Natürlich hat Debord (auch) hier einige Fäden im Hintergrund gezogen, und es ist bemerkenswert, wenn er etwa in seinem Brief vom 16. April 1972 an den Millionär und zukünftigen Verleger Gérard Lebovici „ein paar Notizen zu den Büchern, über die wir neulich gesprochen haben“ liefert: eine ganze Reihe deutscher, englischer und spanischer Titel aus den Bereichen Politik, Philosophie und Literatur. Bemerkenswert ist seine „Erklärung“ vom März 1979 im Namen des Verlages und der Autoren, die 11 Jahre lang in den Katalogen des Verlags Champ libre abgedruckt wurde, wo es heißt, dass Rezensionsexemplare nicht verschickt werden. Die (bürgerlichen) Medien wurden als Feinde angesehen, und deren Journaille sollte sich bei Interesse die Bücher eben kaufen. Soweit würde in Deutschland ein halbwegs erfolgreicher Verlag nie gehen.
Aber auch sonst gibt es zahlreiche unterschiedliche Aspekte in den Briefen zu entdecken.
Wir, als dieses elendige „Land der Dichter und Denker“, können nur neidvoll – und das seit Jahrhunderten – auf unseren Nachbarn Frankreich schauen, wo Intellektuelle wie Debord einen realen Einfluss auf die Gesellschaft hatten und haben.
Vielleicht liegt es ja auch an derart markanten Selbsterkenntnissen wie der des gerade mal 29jährigen Debord: „Weder Freiheit noch Intelligenz sind einem ein für allemal gegeben.“ (25.8.1960)
Für Menschen, die nicht vertraut mit der Geschichte der SI sind, werden die Briefe wohl nur zur Hälfte gewinnbringend sein, aber dafür wohl ein Ansporn, sich mit dieser libertären disziplinübergreifenden Strömung eingehender zu beschäftigen. Es ist durchaus ein Fanprojekt.
Aber durch die hervorragenden Anmerkungen und Erklärungen der ÜbersetzerInnen dürfte hier einiges verständlicher wirken.
Dass die Herausgabe dieses Auswahl-Bandes mit Unterstützung des „Förderprogramms des französischen Außenministeriums“ zustande kam, hätte Debord, dessen Radikalität in seiner Freiheit auch den Freitod mit einbezog, u.U. befremdet, um so mehr dürften vermutlich die ÜbersetzerInnen davon profitiert haben.
Ein brillantes Zeugnis kaum geschliffener Diamanten einer radikalen Geisteshaltung, wo Wahrheit und Genuss als Voraussetzung für die Befreiung aller Menschen Grundlagen finden können.
Guy Debord: Ausgewählte Briefe 1957-1994. Edition Tiamat, Berlin 2011, Reihe Critica Dabolis 184, ISBN 978-3-89320-152-5, 336 Seiten, 28 Euro