Sie sind wirklich undankbar diese Griechen - und ja, die Griechinnen auch. Da bekommen sie seit Jahren Milliardensummen in den Rachen geschoben, doch statt einfach einmal "danke" zu sagen und fleißig arbeiten zu gehen, demonstrieren und streiken sie ununterbrochen.
StudentInnen besetzen die Hochschulen um das neue Bildungsgesetz zu Fall zu bringen, die SchülerInnen tun es ihnen in den Schulen gleich, und auch die LehrerInnen und ProfessorInnen legen die Arbeit nieder. Im öffentlichen Nahverkehr wechseln sich die Arbeitskämpfe bei Bussen, Bahnen, Metro und Straßenbahn ab, und um die Müllberge in den Großstädten abzutransportieren wird der Einsatz der Armee diskutiert.
Unterdessen wird in einzelnen Gegenden der Sprit knapp, da die Besitzer von Tanklastwagen erneut gegen die Öffnung ihrer Berufssparte protestieren. Aus dem gleichen Grund liefern sich Taxifahrer Straßenschlachten mit den Schlägern der MAT-Sondereinheiten der Polizei. In Nordgriechenland fehlt das Heizöl, da die ZollbeamtInnen streiken und immer wieder fallen Flüge aus, da einmal die Fluglotsen, ein anderes Mal das Bodenpersonal im Ausstand ist.
Für den 19. und 20. Oktober haben die Dachgewerkschaftsverbände des öffentlichen Dienstes ADEDY und der Industriegewerkschaft GSEE gemeinsam mit den Basisgewerkschaften und der kommunistischen Pame zum zweiten Generalstreik im Oktober aufgerufen. Beim ersten am 6. Oktober war es sozusagen zur Begrüßung der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfond (IWF) erneut zu Straßenschlachten in Athen gekommen. Zur Prozesseröffnung gegen inhaftierte Mitglieder der anarchistischen Stadtguerilla Revolutionärer Kampf (EA) und der Mitgliedschaft beschuldigter AnarchistInnen demonstrierten außerdem schon am 5. Oktober mehr als 4.000 Menschen für die „sofortige Freilassung der EA-Mitglieder“ in Athen.
Unerwünscht und gejagt
Die Delegierten der Troika, die sich seit Anfang Oktober zum wiederholten Mal in Athen aufhalten, sehen sich fast täglich Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt.
Die drei Delegationsleiter gehen nicht mehr ohne Personenschützer aus dem Hotel und nehmen auch für kurze Wege aus Sicherheitsgründen einen Wagen.
„Das gehört zu den unschönen Seiten meiner Arbeit und ist in dieser Intensität neu für mich“, betonte der dänische Leiter der IWF-Delegation in Athen, Poul Mathias Thomsen gegenüber der Presse. Von der Einschätzung der Delegation machen die Euro-Länder die Freigabe der nächsten acht Milliarden Euro-Rate abhängig. Die Regierung in Athen muss strikte Auflagen für den Erhalt der Gelder erfüllen, kann aber das vereinbarte Sparziel beim Haushaltsdefizit in diesem Jahr trotzdem nicht einhalten.
Diese Hiobsbotschaft aus Athen löste wieder einmal einen Kurssturz an den Aktienmärkten aus. Der Euro fiel bis auf 1,3315 Dollar und damit auf den tiefsten Stand seit Mitte Januar. Die Börsianer sind laut der linksliberalen Athener Tageszeitung Eleftherotypía „ernsthaft besorgt, dass die Hilfszahlungen und der strikte Sparkurs nicht ausreichen“, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Wofür es Gründe gibt.
Unter anderem sehen sich die Steuerbehörden nach wie vor nicht in der Lage die herrschende Elite am Steuerhinterziehen zu hindern. Sogar offizielle Regierungsquellen sprechen mittlerweile von 36 Milliarden Euro, die allein im letzten Jahr auf Schweizer Konten verschoben wurden, andere Quellen gehen von 60 Milliarden Euro aus.
Während kleine HausbesitzerInnen mittlerweile pro Quadratmeter Wohnfläche eine „Sonderabgabe“ per Stromrechnung bezahlen müssen, und falls sie sich weigern oder nicht bezahlen können, einfach den Strom gekappt bekommen, wird der immense Besitz der orthodoxen Kirchen nach wie vor gar nicht besteuert.
Zur Ankunft der Troika hatten die Ministeriumsangestellten sechs Ministerien besetzt um der Delegation zu verdeutlichen, dass sie unerwünscht ist. Erstaunlich ist das nicht, hat doch die sozialdemokratische Regierung unter Ministerpräsident Giórgos Papandréou auf deren Druck beschlossen 30.000 MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes in „Reserve“ zu schicken.
Dort wird ihnen zwar noch für ein Jahr 60 Prozent ihres Gehalts ausgezahlt, wer dann jedoch keine neue Stelle im öffentlichen Sektor gefunden hat, fliegt raus. Diese 30.000 Entlassungen sind der Troika allerdings lange nicht genug.
Einem Bericht der konservativen Athener Tageszeitung Ta Néa vom 8. Oktober zufolge, sind die Vertreter der Troika besorgt, dass nur ältere Staatsbedienstete, die kurz vor der Pensionierung stehen, in die „Personalreserve“ geschickt würden. Das sei dann aber nur ein „Frühpensionierungsprogramm, das kaum Geld sparen“ würde. Zudem gibt es in der EU die Befürchtung, dass viele der laut griechischer Verfassung unkündbaren Staatsbediensteten vor Gericht ziehen und dort ihre Wiedereinstellung einklagen könnten.
Die Verkleinerung des tatsächlich völlig überdimensionierten öffentlichen Dienstes ist eine der Bedingungen, die EU, EZB und IWF an die Auszahlung der nächsten Tranche von acht Milliarden Euro geknüpft haben. Und Griechenland benötigt bis Mitte November dringend frisches Geld, verkündete Wirtschaftsminister Evángelos Venizélos Anfang Oktober, um Ängste zu zerstreuen, der Staat könne die Oktoberlöhne nicht überweisen – hatte es doch bislang geheißen, dass das Land ohne neue Hilfsgelder schon Mitte Oktober pleite sei.
Der Eurogruppen-Chef Jean-Claude Junker betonte unterdessen, niemand habe sich bisher dafür ausgesprochen, Griechenland kein Geld mehr zu leihen und pleite gehen zu lassen. „Wir werden alles tun, um das zu verhindern. Niemand hat sich für einen Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone ausgesprochen.“
Doch auch in der EU wachsen die Zweifel, ob die Staatspleite noch zu verhindern ist.
Ein Schuldenschnitt von 50 Prozent wird trotz aller Dementis immer wahrscheinlicher.
Allen brutalen Sparmaßnahmen zum Trotz wird das Land auch in diesem Jahr mehr neue Schulden machen als mit EU und IWF ursprünglich vereinbart.
Die Defizitquote wird voraussichtlich bei 8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen, statt wie angestrebt bei 7,6 Prozent.
Für 2012 rechnet die Regierung mit einem Minus von 6,8 Prozent statt der bisher angekündigten 6,5 Prozent. Zudem wird die griechische Wirtschaft auch im nächsten Jahr wohl erneut schrumpfen und sich die Arbeitslosigkeit weiter verschärfen. (Gründe hierfür siehe GWR 361 vom Sept.)
Wie aus dem Anfang Oktober vorgelegten Haushaltsentwurf der Regierung hervorgeht, dürfte die Wirtschaftsleistung 2012 abermals um 2,5 Prozent zurückgehen.
Für dieses Jahr wird mit einem Einbruch des BIP um 5,5 Prozent gerechnet. Der Schuldenberg erhöht sich dieser Einschätzung zufolge im kommenden Jahr auf 371,9 Milliarden Euro und damit auf 173 Prozent des BIP, nach geschätzten 161,8 Prozent in diesem Jahr.
ParlamentarierInnen in Not
Unterdessen gehen die seit Sommer immer wieder stattfindenden Attacken auf Pasok-ParlamentarierInnen und Minister weiter. Neustes Angriffsziel wurde Innenminister Cháris Kastanídis, der bei einem Kinobesuch am 8. Oktober in Thessaloníki von StudentInnen erkannt, ausgebuht und mit Joghurt beworfen wurde.
Immer wieder spannend für den interessierten Beobachter ist der Zeitpunkt, an dem sozialdemokratische Abgeordnete ihre persönliche Grenze erreichen, an dem sie den morgendlichen Blick in den Spiegel nicht mehr zu ertragen scheinen. Mitte Oktober waren es die Pasok-Parlamentarier Thomás Rombópoulos und Odysséas Boudoúris, die der Parteiführung ihre Gefolgschaft aufkündigten. Boudoúris kritisierte die durch die Regierung angestrebte Kürzung der Löhne in der Industrie, wodurch die „kollektiv ausgehandelten Tarifverträge unrechtmäßig außer Kraft gesetzt“ würden.
Rombópoulos findet es unerträglich einem „Parlament ohne Entscheidungsgewalt“ anzugehören und kündigte zuerst an, sein Mandat am 18. Oktober niederlegen zu wollen, um in der Folge zu erklären, nun doch als „unabhängiger Parlamentarier“ weiterzumachen.
Letztendlich stimmte einzig die Abgeordnete Louka Katseli, die sofort aus der Pasok-Fraktion ausgeschlossen wurde, gegen das von der Parteiführung eingebrachte Gesetzespaket.
Die heterogene anarchistische Bewegung ist das ganze Theater inzwischen mehr als leid und hofft auf ein baldiges Ende wobei jede erdenkliche „Hilfe zum Erreichen des Staatsbankrotts“ angekündigt wird.
So erklärt das Redaktionskollektiv von indymedia athens: „Seit mittlerweile zwei Jahren hypnotisieren sie die Bevölkerung mit der drohenden Staatspleite. Mit dieser herrlich aufgebauschten Drohkulisse haben sie es innerhalb kürzester Zeit geschafft, die Errungenschaften von zwei Jahrhunderten opferreicher Kämpfe der Arbeiterbewegung sprichwörtlich in Nichts aufzulösen.
Sollen sie doch endlich pleite gehen, damit wir sehen was geschieht. Sollen ihre Banken schließen, ihre Fabriken, ihre Universitäten dicht machen, sich ihre Armeen auflösen und sie endlich alle auf der Müllhalde der Geschichte landen. Wir sind hier, um uns das zurückzuholen was uns gestohlen wurde. Wir sind hier, um dem Niedergang eures verrotteten Systems beizuwohnen und werden alles dafür tun, damit es noch eine Stunde früher zusammenbricht.“
Nachtrag (vom 21.10.2011)
Am zweiten Tag des 48stündigen Generalstreiks kam es erneut zu schweren Auseinandersetzungen in Athen. Erstmals seit 16 Jahren hatte die von der stalinistischen KKE dominierte Gewerkschaftsfront Pame gemeinsam mit den anderen Gewerkschaften zur Demonstration und Belagerung des Parlaments aufgerufen. Während im Parlament über das von der Troika aufoktroyierte Spardiktat abgestimmt wurde, übernahm es die Pame-Schutztruppe, bestehend vor allem aus Mitgliedern der Bauarbeitergewerkschaft, anstelle der MAT-Schlägereinheiten der griechischen Polizei das Parlamentsgebaude gegen eventuelle Angriffe anderer DemonstrantInnen abzuschirmen.
Dies führte in der Folge zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Pame-Schutztruppe und einem der antiautoritären Demoblöcke.
Als Sondereinsatztruppen der Polizei beide beteiligten Gruppen mit Tränengas- und Blendschockgranaten beschossen, erlitt der 53-jährige Dimitris Kotzaridis, ein arbeitsloses Mitglied der Bauarbeitergewerkschaft, vor dessen Füssen eine der Granaten explodierte, einen Atem- und Herzstillstand.
Ärzte, die vergeblich versuchten ihn wiederzubeleben, führen seinen Tod auf das Einatmen des Tränengases zurück.