antirassismus

„Nicht Sarrazin war für die ‚Sarrazindebatte‘ entscheidend“

Ein Interview mit Sebastian Friedrich

| Interview: Sebastian Kalicha

Sebastian Friedrich ist Redakteur von kritisch-lesen.de, freier Mitarbeiter der Opferberatungsstelle ReachOut Berlin, Mitglied des AK Rechts und der Diskurswerkstatt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Er ist aktiv bei der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP). Im August 2011 hat er bei edition assemblage Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der "Sarrazindebate" herausgegeben. Der GWR gab er dieses Interview über das Buch, die "Sarrazindebatte", antimuslimischen Rassismus und was wir dagegen tun können. (GWR-Red.)

GWR: Kannst du uns, als Herausgeber von Rassismus in der Leistungsgesellschaft, einen kurzen Überblick über die verschiedenen Beiträge und AutorInnen geben?

Sebastian Friedrich: Der Sammelband besteht aus 15 Beiträgen, die insgesamt von 17 AutorInnen verfasst wurden.

Zunächst gibt es eine ausführliche Einleitung, in der sowohl die „Sarrazindebatte“ nachgezeichnet, als auch der Zusammenhang von ökonomischen und rassistischen Argumentationen untersucht wird.

Es folgt das Kapitel „Migration und Rassismus“. Z.B. analysiert hier Yasemin Shooman die dominanten Bilder im antimuslimischen Rassismus, die auch bei Sarrazin ins rechte Licht gerückt wurden.

Im zweiten Kapitel liegt der Fokus auf „Bevölkerungs- und Biopolitik“. Juliane Karakayali zeigt etwa auf, wie die „Sarrazindebatte“ sich in aktuelle Geschlechterpolitiken einfügt.

Im Abschnitt „Kapital und Nation“ finden sich vier weitere Beiträge. So entfaltet zum Beispiel Jürgen Link die verschiedenen Dimensionen des von Sarrazin vorgestellten Deutschland und zeigt auf, dass „Sarrazins Deutschland“ nicht nur von Neoliberalismus, sondern auch von Neo-Sozialdarwinismus durchzogen ist.

Schließlich widmen sich zwei Beiträge möglichen „Interventionen und Perspektiven“.

Gabriel Kuhn und Regina Wamper befassen sich in ihrem Essay mit der rhetorischen Figur der Meinungsfreiheit und empfehlen kritischen Analysen, sich nicht auf rechte Opferdiskurse einzulassen.

Entgegen vieler anderer kritischer Beiträge zur „Sarrazindebatte“ fokussiert sich euer Buch weder darauf, Sarrazin als Person zu kritisieren, noch versucht es, die Thesen von Deutschland schafft sich ab zu widerlegen. Wie kam es zu diesem Zugang und wie sieht eure Herangehensweise aus?

In der Einleitung heißt es, dass nicht Sarrazin für die „Sarrazindebatte“ entscheidend war, sondern das Feld, auf dem seine „Thesen“ wirken konnten. Fast alles, was Sarrazin geschrieben und gesagt hat, kennen wir aus den Diskursen der letzten Jahrzehnte. Jedoch wurden bei Sarrazin und bei der nachfolgenden Debatte verschiedene Diskurse – wie etwa der Ökonomie-, der Eugenik- und der Einwanderungsdiskurs – weiter und zum Teil engmaschiger verknüpft.

Um solche komplexen Debatten zu untersuchen, bietet es sich an, die Diskurse und ihr Zusammenwirken, also ihre Verschränkungen, zu analysieren. Im Buch sind aber auch viele andere theoretische Zugänge zu finden. Für eine diskurstheoretische Perspektive jedoch ist entscheidend zu fragen, was wann von wem wie sagbar ist. Bezogen auf die „Sarrazindebatte“ zeigt sich deutlich, wie es innerhalb der Debatte zu einer Verschiebung nach rechts im Mainstream kam. Während Anfangs noch Sarrazins Rassismus und in Teilen sogar seine Verwertungslogik kritisiert werden konnten, verlagerte sich die Debatte letztlich auf die Frage, ob in Deutschland Fachkräfte aus dem Ausland im Sinne einer standortnationalistischen Logik benötigt werden. Linke Positionen, die Verwertungslogiken grundsätzlich in Frage stellen, waren gegen Ende der Debatte in den hegemonialen Medien kaum bis gar nicht mehr zu finden.

Denkst du, dass es dennoch sinnvoll ist, zu versuchen, Sarrazins Thesen schlichtweg durch Studien und Zahlen zu widerlegen?

Sollten Interventionen darauf beschränkt sein, fände ich das problematisch.

Wenn Statistiken aufgefahren werden, die Sarrazins Zahlen widersprechen und widerlegen, setzt das den Unterdrückungsdiskursen zwar etwas entgegen, wiederholt aber die Prinzipien, etwa von Nützlichkeit. Was ist, wenn „bewiesen“ wird, dass eine bestimmte Menschengruppe doch eine weitaus produktivere Funktion hat, als von Sarrazin dargestellt?

Da besteht die große Gefahr, die Einteilung von Menschen nach kapitalistischer Verwertung zu akzeptieren und sogar mitzutragen. Es findet dann ein Einlassen auf die von Sarrazin eingeführten Spielregeln statt.

Jedoch waren Interventionen wie etwa die von Naika Foroutan und ihrem Team gerade zu Beginn der „Sarrazindebatte“ sehr wichtig.

Als Ende August letzten Jahres täglich die Thesen Sarrazins heißer gekocht wurden, waren ihre Entgegnungen in den Talkshows und in Zeitungsartikeln hilfreich, um Sarrazins Image als vermeintlich objektiver, neutraler Statistiker als Farce zu entlarven.

Yasemin Shooman spricht in ihrem Beitrag davon, dass der Rassismus wandlungsfähig sei. Der Wandel von einem biologistischen Rassismus hin zu einem kulturellen scheint sich größtenteils bereits vollzogen zu haben. Hierfür wurden u.a. Begriffe wie „Rassismus ohne Rassen“ oder „Neorassismus“ geprägt. Kannst du uns diese Begriffe und Theorien kurz erklären?

In der Zeit des Kolonialismus wurden die Ausbeutung und Ermordung von Menschen durch die Konstruktion von „Rassen“ legitimiert. „Rassen“ sind somit biologistische Erfindungen des Rassismus. Im kulturellen Rassismus sind es nicht mehr „Rassen“, in die Menschen eingeteilt werden, sondern „Kulturen“. Die Begriffe änderten sich, der Inhalt der Begriffe jedoch nicht. „Kultur“ wird im kulturellen Rassismus zum unveränderlichen Rahmen, zur quasi-natürlichen Eigenschaft, die Werte und Verhalten determiniert.

Der von Yasemin Shooman angesprochene antimuslimische Rassismus ist eine Form eines solchen Rassismus. „Der Islam“ wird als dem „eigenen“ Westlichen gegenüberstehende homogene „Kultur“ konstruiert. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen „islamischer“ und „westlicher Kultur“ eine unaufhebbare Differenz besteht.

Der konstruierten islamischen Kultur werden dabei negative Eigenschaften zugeschrieben. Zugleich findet eine Konstruktion des Westens als überlegene Kultur statt.

Ein beliebtes Instrument ist der Verweis auf Frauenrechte: In einer binären Logik wird behauptet, im Islam spielten Frauenrechte keine Rolle, was zugleich darauf verweisen soll, dass in Europa dahingehend alles relativ in Ordnung sei.

Solche Argumentationsformen verlagern gesellschaftliche Unterdrückungsstrukturen ins Außen und schieben sie einer gemachten Gruppe zu. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Sexismus (aber auch Homo- und Transphobie sowie Antisemitismus) ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Im Buch befasst sich Serhat Karakayali ausführlich mit der Thematik. Er begreift den Rekurs auf Begriffe wie Faschismus („Islamofaschismus“) in Verbindung mit „dem Islam“ als Teil eines „reflexiven Eurozentrismus“, bei dem es auch darum geht, die „eigene“ Läuterung durch vergangene historische Erfahrungen zu verkünden.

In der „Sarrazindebatte“ wurde jedoch auch mit Nützlichkeitskriterien argumentiert. Inwieweit siehst du da ein Novum?

Zunächst muss gesagt werden, dass nicht erst seit Sarrazin Einwanderung und Ökonomie verknüpft werden. Das sehen wir während des Kolonialismus, im GastarbeiterInnen-Diskurs oder schlicht bei der im Mainstream fest verankerten Unterscheidung von Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen.

Neben der neokolonialistischen Werbung um Fachkräfte kommt aber in der „Sarrazindebatte“ auch ein anderer Aspekt zum Vorschein. Rassismus wird mehr und mehr mit ökonomischen Nützlichkeitskriterien verknüpft. In der „Sarrazindebatte“ wurde wesentlich auch der durch Personen wie Peter Sloterdijk geprägte Unterschichtendiskurs bedient. Aber wir sehen deutlich, dass der Unterschichtendiskurs in der „Sarrazindebatte“ vor allem den als migrantisch markierten Teil der „Unterschicht“ trifft.

Viele der Argumente von „Leistungsempfängern“, die den „Leistungsträgern“ angeblich auf der Tasche liegen, wurden wiederholt, aber fast ausschließlich in Verbindung mit „Migranten“ gesetzt.

Der allgemeine, nicht nur auf als migrantisch markierte Menschen bezogene Klassismus von Sarrazin ist offensichtlich vor allem anschlussfähig, wenn er verknüpft wird mit Rassismus.

Wie sehr das gemeinsam wirkt, zeigt sich auch bei Reportagen und Porträts während der „Sarrazindebatte“ in den hegemonialen Medien, die in einem Beitrag von Hannah Schultes und mir analysiert werden.

In den Porträts scheint eine Art neoliberal gewendeter Rassismus auf.

Es werden „Musterbeispiele gelungener Integration“ dargestellt. Der Erfolg der als „integriert“ Begriffenen bildet dabei den Beweis dafür, dass man es eben doch schaffen kann, wenn man sich richtig anstrengt – gleichzeitig werden sie zu Ausnahmen stilisiert, die einer Masse von nicht diesem Ideal entsprechenden Menschen gegenüberstehen und mit diesen kontrastiert werden.

In eine ähnliche Richtung geht auch der Beitrag von Vassilis Tsianos und Marianne Pieper im Buch. Sie konstatieren eine Veränderung in den rassistischen Formationen. Die Grenzen zwischen „Wir“ und „Sie“ verlaufen nicht mehr alleinig entlang einer leitkulturellen Norm, sondern sind weitaus flüssiger und werden entlang von vermeintlichen Gleichheitsvorstellungen gezogen, wenn etwa Kopftuchträgerinnen als Unterdrückte gelesen werden.

Welche Gegenstrategien würdest du vorschlagen, um antimuslimischem Rassismus zu begegnen? Wie in eurem Buch schon richtig festgestellt wird, können die Aussagen von Leuten wie Broder, Schwarzer, Kelek, Sarrazin und Co. ja nur deshalb derartig wirken, weil sie auf einen Nährboden fallen, der offen ist für rassistische Argumente.

Kann man sich also das Kritisieren von einzelnen bekannten ExponentInnen der islamfeindlichen Szene sparen?

Sarrazin, Broder, Kelek und Co. sind selbstverständlich nicht die SchöpferInnen von rassistischen Argumenten, sondern bewegen sich auf einem gesellschaftlich verankerten Feld.

Dennoch sind sie auch zu kritisieren, weil einerseits konkrete Verantwortlichkeiten benannt werden müssen und andererseits eine Kritik an den SprecherInnen von rassistischen Äußerungen auch die Position der Sprechenden aufzeigen kann.

Gabriel Kuhn und Regina Wamper zeigen das deutlich in ihrem Beitrag, wenn sie darstellen, wie männliche, weiße und sozial Privilegierte sich als Opfer von Meinungsfreiheit gerieren. „Deutschland schafft sich ab“ konnte auch deshalb so wirken, weil Sarrazin Zugänge zu großen Verlagen hat, über exzellente Kontakte verfügt und auf verschiedene andere Weisen privilegiert ist.

Insgesamt müssen Rassismus und Klassismus auf allen Ebenen bekämpft werden: individuell, indem etwa eigene Verstrickungen in ausgrenzende Diskurse reflektiert werden.

Außerdem können auf einer kulturell-symbolischen Ebene beispielsweise Mediendiskurse untersucht und kritisiert werden. So kann etwa gefordert werden, dass Medien die zu Wort kommen lassen müssen, über die gesprochen wird – und das nicht nur als Anschauungsobjekt in durch weiß-deutsch dominierte Redaktionen produzierten Reportagen. Aber auch die strukturelle Ebene sollte nicht aus dem Blickfeld gerückt werden.

So kann es etwa beim Angriff des ausgrenzenden Unterschichtendiskurses nicht nur darum gehen, Anerkennung für Betroffene sozialer Ungleichheit einzufordern. Vielmehr müssen die Strukturen und Institutionen bekämpft werden, die „Verlierer“ und „Gewinner“ produzieren.