"Lebt wohl, ihr Wasser des Flusses/ Straße zum wilden Meer/ Lebt wohl, ihr grausamen Wasser/ Klingen, die ihr euch schärftet/ am Stein des Winters./ Meine Hände sind zerschnitten". (1) So beginnt eines der vielleicht schönsten - und unbekanntesten - Gedichte des Spanischen Bürgerkriegs, die "Romance über Leben, Leiden und Sterben von Encarnación Giménez, der Wäscherin vom Guadalmedina".
Aber sind diese Verse ein Anfang – oder ein Ende? Womöglich gar die Bilanz des Lebens jener Frau, die sie im Juli 1937 schrieb? 1998 benutzte die katholisch-konservative Tageszeitung El Mundo, spürbar bemüht, ihren Widerwillen gegen das rebellische Leben der Dichterin nicht ins Kraut schießen zu lassen, ein auffällig ähnliches Bild: „Nicht, dass sie eine gebrochene Persönlichkeit gewesen wäre. Das Erlebnis ihrer Poesie, ihrer Sexualität und ihrer politischen Ideen war es, das sie so weit hinaustrieb […]“. (2) Es scheint ein unstillbares Verlangen zu geben, stürmische Biographien nach dem Tod in einem geschützten Hafen der Wohlanständigkeit zu verankern. Vor allem, wenn es sich um Biographien von Frauen handelt. Lucía Sánchez Saornil, die kämpferische Feministin, Mitbegründerin der Mujeres Libres [‚Freie Frauen‘], die anarchistische Aktivistin und begabte Lyrikerin – ein bloßes ‚Treibgut‘ der Geschichte und ihrer Leidenschaften? Gewiss, der Strom der Zeit riss sie, wie Millionen andere, mitten hinein in den Spanischen Bürgerkrieg. Der Sieg der Franco-Truppen tilgte ihren Namen aus dem öffentlichen Gedächtnis. Sie starb verarmt, vergessen und (im übertragenen Sinne) tatsächlich mit „zerschnittenen Händen“. América Barroso, gut ein halbes Leben lang ihre Gefährtin, ließ auf ihren Grabstein schreiben: „Aber…ist es wahr? Ist alle Hoffnung tot?“. Es war ein Vers aus dem ersten von Lucía Sáchez Saornils zwei späten „Sonetten der Hoffnungslosigkeit“. (3) Das zweite Sonett aber klingt anders, trotziger, zuversichtlicher, und gar nicht hoffnungslos: „Wenn es nicht mehr möglich ist, ‚morgen‘ zu sagen/ wozu fließt dann das Blut durch meine Adern?“. (4) Hoffnung, Eigenständigkeit, Freiheit und Widerstand – das waren bis zuletzt die Schlüsselworte in Lucía Sánchez Saornils Leben. Ihr Werk gehört zu den ungehobenen Schätzen der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Encarnación Jiménez oder: vom Nationalismus zum Feminismus
Lucía Sánchez Saornils künstlerische und politische Eigenständigkeit, die sich nicht selten auch gegen die Parteigängerinnen und Parteigänger der eigenen Seite stellte, wird an der „Romance über Leben, Leiden und Sterben von Encarnación Jiménez […]“ besonders schön deutlich. Das Schiksal der Wäscherin Encarnación Jiménez, die im Januar 1937 von einem franquistischen Militärgericht in Málaga zum Tode verurteilt wurde, weil sie Uniformen republikanischer Milizionäre gewaschen habe, gehört zu den Opfermythen des Spanischen Bürgerkriegs. Lucía Sánchez Saornil war keineswegs die Einzige, die den Stoff literarisierte. Auch ihr anarchistischer Dichterkollege Félix Paredes widmete Encarnación Jiménez ein Gedicht. (5) Der kommunistische Schriftsteller Ilja Ehrenburg schrieb am 6. März 1937 in der Tageszeitung ABC über den Fall Málagas: „Die Kämpfer hatten die Stadt bereits verlassen, gemeinsam mit 40.000 Frauen und Kindern. Also schnappten sich die Faschisten den Großvater des Sekretärs der Bäckergewerkschaft oder die Nichte des toten Milizionärs. Sie verurteilten bis zu 300 Personen am Tag. Die Gerichtsschreiber hatten nicht einmal Zeit, die Namen der Erschossenen zu notieren. In der ersten Sitzung des Tribunals sagte eine in Tränen aufgelöste Frau: ‚Ich habe doch nichts getan! Ich habe nur Wäsche gewaschen‘. […] Der Präsident sagte gähnend: ‚Der nächste‘. Der Korrespondent der italienischen Zeitung Popolo d‘ Italia, Herr Barzini, telegraphierte nach Hause: ‚Das Gericht verfuhr gemäß allen Regeln des Menschenrechts. Es wurden lediglich Hetzer und Verbrecher bestraft‘. Vielleicht traf er auf dem Weg zum Telegraphenamt ja die Wäscherin Encarnación Jiménez, die man zur Hinrichtung führte, weil sie eine ‚Hetzerin und Verbrecherin‘ war“. (6) Encarnación Jiménez wurde zum Sinnbild des „wahren“, proletarischen Spaniens und der ungehemmten Mordlust der Faschisten. Die tatsächlichen Vorgänge um ihren Tod sind heute nur schwer zu rekonstruieren. Fest steht, dass Frauen der mörderischen Rachsucht der Sieger mitunter noch stärker ausgesetzt waren als Männer. Manchmal mußten sie schon mit dem Leben dafür bezahlen, dass sie die Zeitung lasen, sich politisch äußerten oder modisch kleideten. Derart „unweibliche“ Anwandlungen sahen die Parteigänger Francos als Wühlarbeit gegen die heilige Ordnung. (7) Aber auch in der literarischen Propaganda der republikanischen Zone herrschte keineswegs immer ein frauenfreundlicher Ton. Eine schlichte Arbeiterin, die in Ereignisse geriet, die sie nicht verstand, entsprach durchaus einem machistischen Rollenideal von devoter Weiblichkeit, das manche Autoren sogar zum Sinnbild der „weiblichen Seele des Landes“, der Madre España [‚Mutter Spanien‘], hochspielten. In dem Gedicht von Lucía Sánchez Saornil dagegen verkörpert Encarnación Jiménez mindestens ebenso sehr das Schiksal der wirklichen Frauen Spaniens: ihre erzwungene Ignoranz, ihre tagtägliche Schufterei, ihre stillen Träume und ihre Enttäuschungen. Encarnacións Einfalt ist kein Ausweis naturwüchsiger, unverderbter Güte, sondern mitverantwortlich für die Katastrophe. Ihr Schiksal wird bei Sánchez Saornil wieder zu einer revolutionären Forderung.
Kindheit, Jugend und erste Gedichte
Lucía Sánchez Saornil wurde am 13. Dezember 1895 in eine proletarische Familie in Madrid geboren – nicht 1901, wie ihre Genossin Lola Iturbe in ihren Memoiren irrigerweise angibt. (8) Mit ihren Eltern Eugenio und Gabriela, einem Bruder und einer jüngeren Schwester lebte sie zunächst in der Calle del Labrador im Madrider Viertel Peñuelas. Zur Schule ging sie im Centro de Hijos de Madrid, das die Madrilenen nicht ohne Stolz „La Casa de los Gatos“ [‚Das Haus der Katzen‘] nannten. Die Bezeichnung „gato“ [‚Katze‘] für gebürtige Madrilenen soll noch auf König Philipp II zurückgehen, der sich, nachdem er Madrid 1561 zur Hauptstadt des spanischen Reiches gemacht hatte, darüber mokierte, dass die Madrilenen „wie die Katzen“ an den Mauern der Paläste hinaufzuklettern versuchten, um zu schauen, was sich in Regierungskreisen so tue. Lucías Mutter und ihr Bruder starben noch während ihrer Kindheit. Ihr Vater arbeitete in der Telefonzentrale der Casa del Duque de Alba. 1916 fand auch seine Tochter dort Anstellung. Gleichzeitig studierte sie Malerei an der Academia de Bellas Artes de San Fernando. Ebenfalls 1916 erschienen erste Gedichte in der Zeitschrift Los Quijotes, die der damals bereits 70-jährige Anarchist und Freimaurer Emilio G. Linera herausgab. Los Quijotes wurde zum eigentlichen Sprungbrett für die kurzlebige, aber einflußreiche ultraistische Avantgarde, deren Geburtsstunde die Ankunft des chilenischen Dichters Vicente Huidobro in Paris markierte und die sich 1918 mit dem „Manifest des Ultraismus“ konstituierte. Sánchez Saornil veröffentlichte ihre Gedichte in Lineras Zeitschrift unter dem männlichen Pseudonym Luciano de San-Saor. Dies war einerseits zweifellos ein Zugeständnis an die männlich dominierte literarische Szene jener Zeit, namentlich der beginnenden Avantgarde(n). Andererseits aber bot ihr diese „männliche Tarnkappe“ auch die Möglichkeit, in der Folge Gedichte zu veröffentlichen, Liebesgedichte zumal, die in ihrer teilweise kaum mehr verhüllten sensuellen (wo nicht gar sexuellen) Intensität weit über das hinausgingen, was eine junge Frau in den 20er Jahren hätte wagen dürfen. Die Vermutung der spanischen Literaturwissenschaftlerinnen Luz Sanfeliu Gimeno und Nuria Capdevila-Argüelles, bereits in diesen frühen Texten offenbare sich eine Subversion konventioneller Liebesmetaphorik durch eine ausdrücklich homosexuelle Perspektive, ist allerdings nicht überzeugend. (9) Niemand weiß, ob sich Lucía Sánchez Saornil zu diesem Zeitpunkt bereits mehr zu Frauen als zu Männern hingezogen fühlte. Ein kurzes, verkrachtes Liebestechtel mit dem ultraistischen Dichterkollegen César A. Comet – der Sánchez Saornil immerhin sein Prosagedicht „Bengala festiva“ widmete – spricht eher dagegen. Nach einem ersten, hoffnungsvollen Treffen, bei dem Comet zum ersten Mal erfuhr, wer sich hinter dem Pseudonym Luciano de San-Saor verbarg, soll der (bürgerliche) Dichterrebell allerdings einlends davongelaufen sein, als er auf dem Weg zum zweiten Stelldichein im ärmlichen Hauseingang von Sánchez Saornils Wohnung „zerlumpte und schmutzige Kinder“ spielen sah. (10)
Literarisch fand die proletarische Autodidaktin schnell Anerkennung. Der avantgardistische Dichter Guillermo de Torre bewunderte die „große Ernsthaftigkeit“ ihrer Gedichte, und das, obwohl Sánchez Saornil eigentlich nur über ihre Freundschaft zu den Dichtern des Quijote in die Ultraistenbewegung „hineingeschlittert“ war und sich inhaltlich wie formal keineswegs völlig der neuen Ästhetik unterworfen hatte. Sie behielt zum Beispiel die Zeichensetzung bei, die unter Ultraisten verpönt war. Und auch die Liebe war nicht unbedingt ein Thema, dass die selbstbewußten Avantgardedichter in Begeisterung versetzte. 1933 rechnete sie in einem Artikel für die anarchistischen Tageszeitung CNT unter dem bezeichnenden Titel „Literatur, weiter nichts…“ schonungslos mit dem künstlerischen Dünkel und den vorgeblich politischen Zielen der Avantgarde ab. (11) Anfang der 20er Jahre dagegen finden sich in ihren Texten noch Passagen, in denen ästhetische und politische Radikalität zusammenfließen: „Unsere Arme werden diese alte Erde heben/ wie zu einem Segen. /Ein Flammenfächer/ wird die alten Kleider verzehren/ und wir werden siegen, nackt und weiß/ wie Sterne. […] WIR WERDEN SIE ERBAUEN/ DIE UMGEKEHRTEN PYRAMIDEN“. (12) Mit der Veröffentlichung von zwei Gedichten in der Zeitschrift Manantial endete 1929 nicht nur Sánchez Saornils avantgardistische Phase, sondern auch ihr dichterisches Schaffen – zumindest bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs.
Politisches Engagement, Krieg und Revolution
In den späten 20er Jahre begann Lucía Sánchez Saornils aktives Engagement auf Seiten der anarchistischen Arbeiterbewegung. Die Zweite Republik (1931-1936) wurde für sie zu einer Zeit der politischen Agitation. Sie verlegte sich ganz auf politischen Journalismus, arbeitet für anarchistische Zeitungen und Zeitschriften wie Tierra y Libertad und Solidaridad Obrera und war von 1933 bis 1934 Redaktionssekretärin von CNT Madrid. Immer deutlicher trat ihr feministisches Engagement hervor. 1936 gründete sie, gemeinsam mit der Ärztin Amparo Poch y Gascón und der studierten Juristin Mercedes Comaposada (die nach dem Bürgerkrieg im Exil als Sekretärin des jungen Pablo Picasso in Paris arbeitete) die anarchafeministische Organisation Mujeres Libres. (13) Männliche Genossen waren nicht begeistert. Die „Befreiung der Frau“ war innerhalb der anarchistischen Bewegung Spaniens oft nur ein tönendes Lippenbekenntnis gewesen. Ein gesondertes, ausdrücklich feministisches Engagement war nicht vorgesehen. Es galt vielen Anarchistinnen und Anarchisten, Frauen wie Männern, als „bürgerlich“ – oder sogar als Weg in die Spaltung. (14) Im alltäglichen Leben waren anarchistische Männer von den hehren Zielen ihrer Bewegung häufig weit entfernt. (15) Innerhalb der Mujeres Libres vertrat Lucía Sánchez Saornil in Sachen Frauenbefreiung gewiss die radikalsten Positionen. Sie scheute sich auch nicht, öffentlich ihre eigene, nun offen ausgelebte Homosexualität als Beweis dafür anzuführen, dass Mutterschaft für Frauen kein unhintergehbares Gottesgebot sei und niemand weiblicher Selbstverwirklichung Grenzen zu setzen habe. Den einfachen Frauen und Mädchen, mit denen Mujeres Libres nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Stadt und Land (unter anderem) Schulungen in Sexualhygiene und Schwangerschaftsverhütung durchführte, fiel die Kinnlade herunter. Noch 1986 erinnerte sich die Anarchistin Pepita Carnicer, damals ein junges Mädchen von noch nicht einmal 12 Jahren, voller Bewunderung an die schlanke, eher klein gewachsene Rednerin Sánchez Saornil, die Befreiung nicht nur einforderte, sondern vorlebte. (16)
Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs und dem Beginn der sozialen Revolution in Teilen der republikanischen Zone nahm Lucía Sánchez Saornil auch ihre literarische Tätigkeit wieder auf. Sie schrieb unter anderem die Hymne der Mujeres Libres: „Vergangnes soll im Nichts versinken/ Was kümmert uns, was gestern war?/ Wir wollen es aufs Neue schreiben,/ das Wort ‚Frau'“ (17) Sie publizierte in der Zeitschrift ihrer Organisation und einer Reihe weiterer anarchistischer Blätter kämpferische Romanzen und versorgte auch die Kämpfenden an der Front mit revolutionärer Lektüre. „Ist dies die Stunde, um zu schreiben?“, fragte sie sich 1937: „Wir wissen es nicht. Man hat uns diese Pflicht zugewiesen, und wir erfüllen sie unerbittlich, die leichte Feder in der Hand, auch, wenn die Hand sich ballen will, um das Gewehr zu greifen, oder die Pistole. […] Wir müssen weiter Worte weben, Worte, die allen sagen, was ihre Pflicht ist, ihre unabdingbare Pflicht, höher als unser persönliches Schiksal, denn sie ist das Schiksal der gesamten Menschheit“. (18) Während der Belagerung Madrids im Winter 1936, als die Stadt nahezu täglich von deutschen Flugzeugen bombadiert wurde, las Sánchez Saornil ihr Gedicht „Madrid, Madrid, mein Madrid“ vor den Mikrofonen von Radio Madrid öffentlich vor. Lola Iturbe erinnerte sich noch fast 40 Jahre später: „Mit welcher Leidenschaft besang Lucía Sáchez Saornil das heldenhafte Madrid im Novembers 1936“. (19) 1938 erschien ihr Gedichtband „Romancero de Mujeres Libres“. (20) Lucía Sánchez Saornil war neben ihrer Arbeit bei der Telefonzentrale, ihrer literarischen und publizistischen Tätigkeit und ihrer Mitarbeit bei Mujeres Libres auch noch Mitglied des Consejo General de Solidaridad Internacional Antifascista (S.I.A.). In dieser Funktion reiste sie des öfteren nach Frankreich, um Material und Devisen für die Milizen und Kindertagesstätten in der Etappe aufzutreiben. 1937 zog sie nach Valencia und wurde dort einzige Redakteurin der anarchistischen Zeitschrift Umbral, in der möglicherweise eine Reihe anonymer oder mit Pseudonymen wie „Compañera X“ signierter Texte aus ihrer Feder stammen. Vor allem aber lernte sie América Borroso (1909-1977), genannt „Mary“, kennen. Sie blieb ihre Gefährtin bis zum Tod.
Exil, Rückkehr, späte Gedichte
1939 flohen beide, gemeinsam mit tausenden anderer, vor den franquistischen Truppen über Le Perthus nach Frankreich. Das Sekretäriat der S.I.A. wurde zunächst provisorisch in Perpignan, dann, als der Flüchtlingsstrom immer größer wurde, in Paris eingerichtet. Nach dem Angriff der Deutschen flohen Sánchez Saornil und Barroso erneut und ließen sich im südfranzösischen Montauban nieder. Lucía hielt sich mit technischen Fotoarbeiten notdürftig über Wasser. Zwischen 1941 und 1942 – die Zeugenaussagen sind uneinheitlich – kehrten beide mit Hilfe von Américas Schwester Electra nach Spanien zurück. Sánchez Saornil überquert die Grenze illegal und als verfolgte Anarchistin. Gründe für ihre Rückkehr mögen die Furcht vor den Nazi-Truppen gewesen sein, aber auch die Krankheit ihres Vaters. (21) Sánchez Saornil wurde in Madrid auf der Straße erkannt, und das Paar mußte erneut fliehen – diesmal nach Valencia. Bis zur Legalisierung von Sánchez Saornils Status 1954 kam Barroso im Hunger leidenden Nachkriegsspanien allein für den Lebensunterhalt des Paares auf. Mit der Rückkehr nach Spanien war Lucía Sánchez Saornil für die anarchistische Bewegung verschollen. Vermutungen, sie habe im Untergrund weiter an anarchistischen Aktivitäten teilgenommen, sind nicht glaubwürdig. Allein eine lesbische Liebesbeziehung genügte im franquistischen Spanien bereits für langjährige Haftstrafen. Mit der Rückkehr nach Spanien endete das politische Leben von Lucía Sánchez Saornil – nicht aber ihr dichterisches. Auch, wenn sie nie wieder eine Zeile veröffentlichte, las sie doch einem befreundeten Maler in Valencia des öfteren Gedichte vor, die an Kraft und Schönheit ihre bisherige Produktion häufig noch übertrafen. Diese Texte wurden erstmals 1996 von der Literaturwissenschftlerin Rosa María Martín Casamitjana aus Sánchez Saornils Manuskripten zusammengestellt und herausgegeben. Die Anthologie ist heute vergriffen, und es sieht nicht so aus, als sollte sie bald wieder aufgelegt werden. Seit Sánchez Saornil unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war, spielte die Auseinandersetzung mit Tod und Jenseits in ihren Texte eine immer größere Rolle. Von einer reuigen Rückkehr zu Gott, wie sie El Mundo der Dichterin unterstellte, kann allerdings kaum die Rede sein. Eher hadert Lucía Sánchez Saornil in ihren letzten Gedichten mit der Unmöglichkeit, Vertrauen in die Gestalt eines autoritären Vatergottes zu setzen, eines selbstgefälligen und unwirschen Himmelsdiktators: „Wer soll denn schuld sein? Nicht einmal Gott/ dürfte den ersten Stein auf uns werfen“. (22) Es schreckte sie die Leere des Todes, nicht des Lebens. In ihrem Gedicht „Und warum nicht…“ finden sich die Verse: „Muß denn alles enden in diesem einen ‚jetzt‘?/ In diesem Ungelebten, in dieser schweren,/ brutalen Wirklichkeit, die uns verschlingt/ ohn‘ Aufschub oder Gnade, und ganz sicher?“. Wie ein Vermächtnis klingen die folgenden Verse: „Du hast gespielt, du hast verloren. So ist das Leben/ Gewinnen oder Verlieren ist nicht wichtig; / wichtig ist, aufs Spiel zu setzen/ einen flammenden, jubelnden Glauben […] Im Leben zu träumen, das ist wichtig“. Lucía Sánchez Saornil starb am 2. Juni 1970 in Valencia.
(1) Sánchez Saornil, Lucía, "Romance de la vida, pasión y muerte de Encarnación Giménez, la lavandera de Guadalmedina, in: mujeres libres 10, II año de la revolución [Juli 1937], S. 11.
(2) [o.A.], "Lucía Sánchez Saornil: la vanguardista, in: El Mundo, 10. Mai 1998, hier in: http//www.segundarepublica.com/index.php?opcion=2&id=46 [eingesehen am 31.Oktober 2011].
(3) Vgl. Sánchez Sornil, Lucía, "Sonetos de la desesperanza, in: dies., Poesía, hrsg. und eingeleitet von Rosa María Martín Casamitjana, Valencia [o.V.] 1996, S. 160.
(4) Ebd., S. 161.
(5) Paredes, Félix, "Encarnación Jiménez, in: [Emilio Prados] (Hg.), Romancero General de la Guerra de España, Madrid, Valencia (Ediciones Españolas) 1937, S. 153-154.
(6) Ehrenburg, Ilja, "Málaga, in: ABC, Madrid, 6. März 1937, hier in: www.malaga1937.es/cuarta.html [eingesehen im Februar 2008].
(7) Vgl. u.a. Graham, Helen, The Spanish Civil War. A very short Introduction, Oxford (Oxford University Press) 2005, S. 29-30.
(8) Soweit nicht anders angegeben, folgen die biographischen Angaben zu Lucía Sánchez Saornil der ausgezeichneten Einleitung von Rosa María Martín Casamitjana (vgl. dies., "Introducción, in: Sánchez Saornil, Poesía, a.a.O., S. 7-28) sowie Íñiguez, Miguel, Enciclopedia histórica del anarquismo español, Bd. 2, Vitoria (Asociación Isaac Puente) 2008, S. 1572.
(9) Vgl. Sanfeliu Gimeno, Luz, "Lucía Sánchez Saornil: una vida y una obra alternativas a la sociedad de su tiempo, anzusteuern über: en.Wikipedia.org/wiki/Lucía_Sánchez_Saornil [eingesehen am 31. Oktober 2011].
(10) Casamitjana, Introducción, a.a.O., S. 11.
(11) Vgl. Sánchez Saornil, Lucía, "Literatura nada más..., in: CNT. Jg. II, Nr. 104, Madrid, 14. März 1933, S. 4.
(12) Sánchez Saornil, Lucía, "El canto nuevo, in: dies., Poesía, a.a.O., S. 88, Hv. i.O.
(13) Vgl. u.a. Nash, Mary, Mujeres Libres. España 1936-1939, Barcelona (Tusquets) 1975.
(14) Vgl. u.a. Nash, Mary, "Libertarias y anarcofeminismo, in: Julián Casanova (Hg.), Tierra y Libertad. Cien años de anarquismo en España, Barcelona (Crítica) 2010, S. 139-167.
(15) Vgl. u.a. Kamann, Friederike, "Der Mythos der Befreiung des Alltags und die Rolle der Frauen, in: Thomas Kleinspehn, Gottfried Mergner (Hg.), Mythen des Spanischen Bürgerkriegs, Grafenau (Trotzdem) 1996, S. 102-115.
(16) Vgl. "De toda la vida, Regie: Lisa Berger, Carol Mazer, Documental 1986, 54 Minuten. Dieser Film kann im Netz angesehen werden unter: www.nodo50.org/rebeldemule/faro/viewtopie.php?p=19242.
(17) Sáchez Saornil, Lucía, "Himno de mujeres libres, in: mujeres libres 10, II año de la revolución [Juli 1937], o.S.
(18) Sánchez Saornil, Lucía, "Es sólo un minuto, in: dies., Horas de Revolución, Barcelona (Publicación de Mujeres Libres) 1937, S. 14.
(19) Iturbe, Lola, La mujer en la lucha social y en la guerra civil de España, México (Editores Mexicanos Unidos) 1974, S. 139.
(20) Vgl. Sánchez Saornil, Lucía, Romancero de Mujeres Libres, Barcelona (Publicaciones de Mujeres Libres) 1938.
(21) Vgl. Casamitjana, Introducción, a.a.O., S. 23-24.
(22) Sánchez Saornil, Lucía, "¿De quién es la culpa?, in: dies., Poesía, a.a.O., S. 152.