Die 1990 vereinige BRD hat sich endlich aus der Schlinge der Geschichte befreit. Sie ist wieder "souverän". Endlich entlassen aus der "Nachkriegszeit". Deren "Ende" wurde nach meinen ältlichen Erinnerungen Mitte der sechziger Jahre vom kurzen Kanzler Erhard zum ersten Mal proklamiert.
Stinknormal also befindet sich die BRD gegenwärtig auch im Krieg – in und gegen Afghanistan, sollte sich jemand verwundert die Sinne reiben -, der Land und Leute nur wenig zu tangieren scheint, von den ermordeten und traumatisiert überlebenden, antiterrorstrategisch im Schwanz der Amerikaner missbrauchten Soldaten wohl zu reden. Denn dass Soldaten für angeblich nationale Interessen kriegsgeopfert werden, wird völker-, = staatenrechtlich abgesegnet. Die „universell“ hochgeschwätzten Menschenrechte werden nicht allein, aber da endgültig im kriegerischen Unstand bis zur Unkenntlichkeit verdünnt.
Das Kriegsministerinterview
Die „neualte Normalität“ von Wehr, Waffen und weltweit tödlicher Gewalt, im westlichen Werteverbund mit legitimatorischem Koppel versehen, treibt mich sozusagen strukturell erregt um, seitdem ich des kriegsministeriellen Novemberinterviews inne wurde. Ich bin seit dem Antiatomrüstungskampf Ende der fünfziger Jahre, später aufgrund historisch-politischer Einsichten kompromisslos wider alle kollektive Gewalt, die nur die Fortsetzung von Unterdrückung und Massenmord bewirkt. Selbst Leute wie ich sind in Gefahr, sich von der täglichen Banalität des Ungeheuerlichen im Sinne einer Als-Ob-Normalität einlullen zu lassen. So wir dies wollend nicht wollen angesichts der vielen Ungeheuerlichkeiten tun, die uns täglich überfluten, als wären wir gänzlich hilflos.
Von der jugendliche Lebenschancen strangulierenden Bildungspolitik, der Ungleichheit vertiefenden Sozial- und Wirtschaftspolitik, so das Wort „Politik“ unwirklich gebraucht werden kann, usw. usf., werden innenpolitisch, außenpolitisch, globalpolitisch im Verbund in einem Fort Kriegsursachen aufgehäuft. Bis sie dann ‚unvermeidlich‘ Menschenopfer fordern, unerhört.
Als wäre die Opfer einstimmenden Melodien nicht jahrelang zuvor im Potpourri herrschender Demokratievermeidung samt der versäumten sozialen Bedingungen konkurrierender Länder übergreifender Menschenrechte erzeugt worden.
Die eben verstorbene Christa Wolf wusste mit ihrem Kassandramund nicht nur: Wer sich die schier unendliche Kette nicht zu unterbrechen traut, wer nur von mager-, sprich herrschaftsinteressierter Verantwortung faßleer dröhnt, der hat die Botschaften nicht begriffen, von denen nicht nur, aber an erster Stelle die deutsche Geschichte trieft. Kriegszeiten folgen Nachkriegszeiten. Und diese reichen den nächsten Vorkriegszeiten die aufrüstenden Hände. Als sei es ein übergeordnetes Schicksal der verstockten „Menschheit“.
Aspekte der mörderischen Normalität
Nur wenige Aspekte der neualten mörderischen Normalität seien anlässlich des braven, so gar nicht in Marschstiefeln daherkommenden, wie unterkühlt bramarbasierenden de-Maizière-Interview angepickt.
Vielleicht fördern sie das Nachdenken und Vorhandeln, jetzt schon dringlich, bevor es erneut, human noch kostenreicher, zu spät ist. Schuld ist dann niemand. Wir haben doch alle „nur“ unsere Arbeit getan. Haben wir. Peter Weiss‘ „Ermittlung“, 1965, gilt nachhaltig vor und nach allen heute nicht mehr blutundbodenbraunen Kontexten.
1. Am neulichen Beginn zeitgemäß verschobener Kriegsmotive steht die von miesen Akademikern aufgetischte Lehre von den angeblich „Neuen Kriegen“. Sie tut nicht nur so, als seien die „alten Staaten-Kriege“ ein Muster ordentlichen Schlachtens gewesen.
Sie unterschlägt die brutale „Asymmetrie“ der ‚den‘ Westen, sein Wachstum und seine „Zivilisation“ begründenden und stimulierenden Kolonialkriege samt ihrer genozidalen Elemente.
Sie trägt nicht dazu bei, die „postmodernen“ Kriege der Staaten und die darunter und dahinter gelagerten ethnischen Ausrottungskonflikte zu begreifen. Sie ist nahezu exklusiv dazu geeignet, westwärts geführte Interessenkriege im Sinne der systemischen Täuschung als „humanitäre Interventionen“ mit menschenrechtlich demokratischer Tarnkappe zu versehen.
In den Worten de Maizières: „Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln halte ich zumindest für die überschaubare Zukunft für äußerst unwahrscheinlich. Stattdessen müssen wir uns bereits seit Jahren mit neuen, asymmetrischen und in steigendem Maße auch mit nichtstaatlichen Herausforderungen auseinandersetzen. Dazu zählen die Destabilisierung ganzer Regionen, internationaler Terrorismus, Proliferation und die Gefährdung unserer Rohstoffversorgung oder sogenannter kritischer Infrastrukturen wie der Informationstechnik.“
2. Die Konsequenz dieses kurz gefassten Bedrohungsknäuels ist eindeutig im Uneindeutigen. Eine ausgefranste und beliebig ausfransende bundesdeutsch ’national‘ bornierte oder westlicher Wertephalanx geltende Sicherheitspauschalformel.
Im unter 1. zitierten Satz fährt der in seiner Gediegenheit umso brutalere de Maizière fort: „Die künftigen Fähigkeiten der Bundeswehr müssen deshalb ein breites Aufgabenspektrum abdecken. Landesverteidigung als Bündnisverteidigung, internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, einschließlich des Kampfes gegen den Terrorismus, Beteiligung an militärischen Aktionen im Rahmen der EU, Beiträge zum Heimatschutz, Rettung und Evakuierung sowie Geiselbefreiung im Ausland, multinationale Kooperation und humanitäre Hilfe im Ausland. Breite vor Tiefe ist deshalb auch das leitende Prinzip bei der Neuausrichtung der Bundeswehr.“
Nach kurzer Denkpause schließt de Maizière diese Aussagensequenz in vollmundig unbegrenztem Sicherheitsverlangen: „Deutschland“ – also alle EinwohnerInnen des Landes mit dem unbelasteten Namen „Deutschland“ nach Maßgabe der staatüblichen Zwangsidentifikation seiner „Staatsbürger“ mit den staatsmonopolistisch geschützten Staatsinteressen innen und außen – „Deutschland“ – sagt Herr de Maizière – „begreift seine Sicherheit umfassend. Und ebenso umfassend muss das Instrumentarium sein.“
In der übernächsten Antwort wird das nationalstaatliche „i“ auf dem – umfassenden, also grenzenlosen Sicherheitsverständnis – zusätzlich pointiert.
„Zunächst einmal sind Streitkräfte Ausdruck des Selbstbehauptungswillens jeder Nation. Sie sind das Rückgrat für die Sicherheit unseres Landes und sie dienen dem Schutz unserer Bürger. …“ „Diese Sicherheit“, so wenig später, „ist wohl die erste, aber ganz bestimmt nicht die einzige Staatsaufgabe.“
3. Im Sinne eines nicht gerade textlich oder musikalisch einnehmenden Schlagers der 50er Jahre müsste man formulieren: Vorbei sind die (Nachkriegs-)Stunden, die längst schon entschwunden, dass selbst noch nach 1955 erfolgter Remilitarisierung – vgl. Ulrich Albrechts spätere Studie – einschließlich der NATO strikte gebietsbezogene Verteidigung allenfalls erlaubt war, ausgewiesen durch entsprechende grundgesetzliche Normen.
Der konstitutive Sinn der 1945 gegründeten Vereinten Nationen bestand denn in Kriegsvermeidung und dem Bestreben, national geführte Kriege zu delegitimieren.
Freilich bundesdeutsche Militäreinsätze, bündnispolitisch nur dem schönen Schein nach gezähmt – vielmehr siehe 1999 und mehr noch 2001 vorwärts gedehnt – wurden verfassungsgerichtlich schon 1994 „out of area“, sprich out of limits sanktioniert.
Georg Paul Hefty wusste es in der allemal armierten FAZ gültiggenau (26.11.2011): „Es gab noch nie Zweifel daran, dass jeder Staat sein ganzes Instrumentarium ausschöpft, um sich zu verteidigen.“
4. Immer schon war es eine gewiss schöne, aber flachsinnige Illusion, sich Kriege vorzustellen, „und niemand ginge hin“. „Nie wieder Krieg!“, Käthe Kollwitz‘ Zeichnungsfanal der Katastrophe am Beginn des 20. Jahrhunderts, des 1. Weltkriegs, bereitete trotz der alle Vorstellbarkeiten übertreffenden Totenzahlen den Zweiten Weltkrieg, nazistisch begonnen, eher vor, als dass sie ihn verhindert hätte.
Was half es und hilft es, dass die deutsche Bevölkerung vor den „Blitzkriegen“ und dann nach Stalingrad 1942/43 alles andere als goebbelsmobilisiert enthusiastisch war. Kriege, selbst wenn sie sich hyperkonkret in einer Fülle blutiger Gemetzel ereignen, wie die oft kaum verständlichen ethnischen Ausrottungen in kolonialen und postkolonialen Zusammenhängen, bleiben den Vielen, die in ihnen und in sie gefangen sind, quantitativ und qualitativ abstrakt, das heißt außer eines personal fassbaren Interesses. Und diese abgehobene Qualität, die die modernen Staatenkriege mit ihrer abstrakten, symbolisch und tödlich angeeigneten nationalen Ideologie eignet – sie hat im Zuge der technologischen Entwicklungen und der verschärften globalisierten Konkurrenz beträchtlich zugenommen.
Diese abstrakte, aber konkret bis in den Schulunterricht und die Inszenierungen von Zapfenstreichen und dergleichen reichenden symbolischen Vermittlungen – was für ein schlechter Witz die Flaggentreue -, sind allenfalls Anzeichen neuer Kriegsformen. Sie sind darauf ausgerichtet, die national und/oder regional hochgesteckten Sicherheits-, Rüstungs- und Kriegsziele legitimatorisch zu vertäuen.
Mit Hilfe der schon beobachteten Identifikation nationaler und/oder regionaler Sicherheitsinteressen bis hin zu Rohstoffen, Energievorkommen, Ressourcen allgemein, sollen sie als ob evident in jeden Haushalt existentiell heimgeleuchtet werden.
5. In diesem Kontext erhalten de Maizières Worte ihre Bedeutung. Ihr Bezug wechselt zwischen abstrakt à la Sicherheitsinteressen und außeralltäglichen Streitkräften und konkret à la Kampfeshandlungen und bürgerlicher Sorge um die eigenen wohlständischen Interessen flüssig hin und her.
„Die Bundeswehr wird zwar kleiner, sie wird aber auch konsequent einsatz- und funktionsorientiert ausgerichtet – für das gesamte Aufgaben- und Fähigkeitsspektrum. … Die Bundeswehr braucht heute ein breites Aufgabenspektrum, das sie für stabilisierende Einsätze wie auf dem Balkan, Einsätzen in bewaffneten Konflikten wie in Afghanistan oder im Extremfall auch für Kampfeseinsätze höchster Intensität befähigt.“
Dazu gehört selbstverständlich ein weiterer Aspekt der Normalität: „Streitkräfte sind nur einer von vielen Akteuren, aber ab einem gewissen potenziellen und realen Gewaltniveau ein unverzichtbarer.“
Und noch zugespitzt eindeutiger, als fehlte es an der Eindeutigkeit von Gewalt: „Militärische Mittel sind ein ‚äußerstes‘, nicht erst ‚letztes‘ Mittel. Es ist also immer auch zu prüfen, ob ein frühzeitiger, dosierter Einsatz von Streitkräften und seine Androhung eine Eskalation verhindern könnten.“ „Die konkrete Bestimmung eines legitimen militärischen Ziels und in welcher Weise vorgegangen werden kann, lässt sich dabei aber nur im Einzelfall vornehmen.“
6. Das ist entgrenzte Kasuistik zu nennen oder auch entgrenzter Opportunismus qua unbegrenzter Sicherheitsinteressen. Ob solcher Entgrenzungen verbiegen sich nicht nur Verfassungs- und sonst so hochgehaltene Rechtsgrenzen. Differenzen zwischen „Innen“ und „Außen“, „Militär“ und „Polizei“ werden nicht irrelevant.
Sie werden jedoch bis zu ihrer Auflösung flexibel.
Fast harmlos und gewöhnlich ausgedrückt, sind solche pauschalen und entgrenzten Sicherheitsvorstellungen und ihre verwirklichende Umsetzung nicht anderes als eine Art permanenter Ausnahmezustand, einmal mehr, einmal weniger ‚ausgenommen‘. Ein solcher wird längst in den USA qua „Krieg gegen Terrorismus“ und heimatschützerischen innenpolitischen Konsequenzen geübt. Das am meisten Gefährliche daran sind nicht anhaltende bürger- und menschenrechtliche Verletzungen, dauernd zu bekämpfen, wie sie sind.
Das Gefährlichste ist, dass eine Politik angemessener weltweiter Ressourcenverteilung und darum gruppierter begrenzter friedlicher Konflikte angesichts der nicht infrage gestellten national oder regional bornierten „Basis“ nicht einmal versucht und ansatzweise organisiert wird. Kollektive Gewalt, welcher Formen auch immer, hat deshalb eine schier unermessliche Zukunft. ‚Der‘ angeblich hoch zivilisierte ‚Westen‘ und die radikal vergessliche Bundesrepublik aber marschieren, militärisch gerüstet, an der Spitze solcher Gewalt. Deutschland und der Westen über alles.
Eine rhetorische, menschenrechtlich angemessen radikale Frage
Wenn junge Menschen als SoldatInnen mörderisch verdingt werden und Morde anderer Menschen kollateralschädlich oder feindgezielt billigend in Kauf genommen werden, wie sind dann die Funktionäre und Institutionen zu qualifizieren, die diese mehrfache Verdingung von Menschen aktiv im Sinne von „politischen“ Zielen betreiben? Etwa Kriegsminister de Maiziére und die Merkel-geführte Bundesregierung.
(1) Vgl. "Die Armee ist kein gepanzertes Technisches Hilfswerk". Interview mit Verteidigungsminister Thomas des Maizière, in: Internationale Politik 6, Hg.: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Nov./Dez. 2011, S. 10-16