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Starker Tobak

Michael Seidmans Buch "Gegen die Arbeit" wirft Fragen auf und hat es in sich

| Thorsten Wegau

Michael Seidman, Gegen die Arbeit - Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936 - 38, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011, 477 Seiten, ISBN 978-3-939045-17-5, 24,90 Euro

Die von dem US-amerikanischen Historiker und Universitätsdozenten Michael Seidman gut 20 Jahre nach ihrem Erscheinen vorgelegte deutsche Übersetzung des Buches „Workers Against Work. Labour in Paris and Barcelona during the Popular Fronts“ hat es in sich.

In einem Land, in dem Biographien von Menschen noch immer mit dem Satz: „Und er hat nicht einen Tag bei der Arbeit gefehlt!“ beendet werden können, ist alleine schon der Titel eine Konfrontation: Gegen die Arbeit!

Seidman stellt an den Anfang seiner Analysen zunächst differenzierte Darstellungen der ökonomischen und sozialen Entwicklung Spaniens und Frankreichs insbesondere seit der Wende zum 20. Jahrhundert.

Er versteht es, anschaulich die unterschiedlichen Entwicklungen der industriellen und handwerklichen Produktion mit dem Reifegrad des jeweiligen Bürgertums zu verknüpfen.

So gelingt es ihm, plausibel den Reifeunterschied zwischen dem eher konservativ-klerikalen spanischen und katalanischen Bürgertum und einer modernen französischen Bourgeoisie herauszuarbeiten.

Besonders interessant dabei ist, dass er die Stärke der anarchosyndikalistischen Bewegung in Spanien nicht – wie dies Marxisten häufig auch in diffamierender Absicht tun – auf die Transformation egalitärer dörflicher Sichtweisen in einer städtischen, industriell geprägten Umwelt zurückführt.

Seiner Ansicht nach war der Anarchosyndikalismus insbesondere in Katalonien verwurzelt, weil er eine rationale Antwort auf das Elend und die Armut der spanischen ArbeiterInnen, auf den Entwicklungsrückstand der spanischen Gesellschaft gegenüber Westeuropa war. Warum die spanische Arbeiterschaft dafür allerdings eben nicht mehrheitlich auf den sozialdemokratischen Reformismus der PSOE mit ihrem Gewerkschaftsverband der UGT, sondern auch auf die CNT zurückgriff, wird dabei von ihm nicht ausreichend begründet.

Repression in Spanien

Seidman verweist auf den hohen Grad auch gewaltsamer Repression in Spanien, dem sich die ArbeiterInnen ausgesetzt sahen, und die jahrhundertealte gesellschaftlichen Spaltung der spanischen Gesellschaft.

So sei eine Entwicklungsrichtung auch die gewesen, anstelle der unfähigen herrschenden Kasten und des Bürgertums die Entwicklung der Produktivkräfte selbst vorantreiben zu wollen. Seite um Seite füllt Seidman mit Zitaten von anarchosyndikalistischen Köpfen, die in der Entwicklung der Industrie, der Maschinerie, Technik und Rationalisierung einen Königspfad zu einer freien Gesellschaft sahen.

All dies gilt aber gleichermaßen auch für die spanische Sozialdemokratie. Auch hier bleibt Seidman eine konsistente Antwort schuldig. Im Ergebnis dürfte es aber auch nicht seinem Hauptanliegen entsprechen, die Frage nach der relativen Stärke des libertären Flügels in der spanischen Arbeiterbewegung zu stellen.

Denn trotz dieses „Produktivismus“ eines Teils der SyndikalistInnen und trotz der Bürgerkriegssituation, die eine Anspannung aller Kräfte für den Sieg über die Franco-Faschisten und die Fortsetzung der Revolution erforderlich gemacht hätten, entwickelte sich ein Widerstand von Teilen der Arbeiterschaft gegen die Arbeit in industriellen Zusammenhängen.

Dieser wuchs sich bis hin zur Sabotage gegen die als Zumutung empfundenen Bestrebungen der Gewerkschaftsleitungen zur Produktivitätssteigerung aus. Der Eigensinn der ArbeiterInnen zeigte sich u.a. auch in einer ausgeprägten Abneigung, tayloristische Arbeitspraktiken zu tolerieren, sowie in der Tendenz, sich dem Arbeitsprozess überhaupt durch Feiern, Blaumachen und Sabotage zu entziehen.

Aber:

So materialreich Seidman diesen Arbeiterwiderstand schildert, so unklar bleibt doch, wie stark diese Bewegung gegen die industrielle Arbeit in der Fabrik tatsächlich war.

Die Volksfront in Frankreich, die auf der Grundlage antifaschistischer Abwehrkämpfe zwischen den Leitungen der PCF, SFIO und der „radikalsozialistischen“ Partei entstand (in der Realität eine Organisation des laizistischen, linksliberalen Kleinbürgertums), war mit einem ähnlichen Phänomen konfrontiert. Und dies, obwohl die Entwicklung der industriellen Basis deutlich weiter als in Spanien entwickelt, die Infrastruktur gut ausgebaut und die Arbeit in ungleich höherem Maße betriebswissenschaftlichen Rationalisierungsmethoden ausgesetzt waren.

Seidman macht dies u.a. am Automobilbau, dem Straßennetz und Motorisierungsgrad der Wirtschaft fest. Auch war der formale Bildungsstand der Arbeiterschaft höher, Analphabetismus fast verschwunden.

Der reaktionäre Katholizismus war seit der Dreyfuß-Affäre zurückgedrängt, und die politischen Institutionen einer parlamentarischen Demokratie waren eingespielter und verankerter. Organisierte Morde an politischen Gegnern, Gewerkschaftern oder Streikenden und militaristische Putschabenteuer wie in Spanien waren in Frankreich seltene Ausnahmen.

Frankreich war also im Unterschied zu Spanien in den 1930er Jahren ein entwickeltes kapitalistisches Land.

„Statt unter der Volksfrontregierung Revolution zu machen, verlangten – und bekamen die Arbeiter bezahlten Urlaub und die 40-Stunden-Woche. Inmitten der größten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus brachte Frankreich das Wochenende zur Welt. … So war die Volksfront nicht nur eine Koalition von Gewerkschaften und linken Parteien, um den Faschismus zu verhindern, sondern sie war auch die Wiege des Massentourismus und der Freizeit.“ (S. 259)

Seidman arbeitet heraus, dass die große Mehrheit der französischen ArbeiterInnen kein Interesse an der Übernahme oder Entwicklung der Produktionsmittel hatte und an ihrer Kontrolle nur insoweit, als es für die Erkämpfung höherer Löhne, besserer Arbeitsbedingungen oder längerer Pausen erforderlich schien.

Die Appelle der Funktionäre und Arbeiterorganisationen, die Produktivität im Angesicht der faschistischen Bedrohung durch Deutschland und Italien zu steigern, stießen nicht ungeteilt auf Gegenliebe bzw. Resonanz. Der Einbruch der Produktivität, der mit dem renitenten Verhalten größerer Arbeiterschichten verbunden war, führte letztlich zum Bruch der Volksfront und zum Angriff auf die 40-Stunden-Woche, die von den ArbeiterInnen zäh verteidigt wurde.

Erst in dieser Schlussphase der Volksfront vollzogen die Arbeiterorganisationen eine Wende und schlossen mit den „Kämpfern gegen die Arbeit“ die Reihen, gegen eine Regierung, die versuchte, alle Errungenschaften der Zeit davor wieder zu kassieren. Ein Generalstreik am 28. November 1938 scheiterte, die 40-Stunden-Woche war damit passé.

Übrigens ein Pyrrhussieg für die Unternehmer: Sie mussten mehr ArbeiterInnen einstellen, die Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen Forderungen der Arbeiterschaft wurde weniger wirksam, die Produktivität stieg trotzdem nicht.

Seidman stellt die Prozesse der Spanischen Revolution und der französischen Volksfront in der Zeit von 1936 bis 1939 somit nicht nur wie in der Linken beliebt als heroischen Kampf der Arbeiterorganisationen gegen Franco-Faschismus, rechte und kapitalistische Reaktion und den mächtiger werdenden Nazismus vor.

Auch spielt der insbesondere im Mai 1937 in Katalonien kulminierende Kampf zwischen libertären, sozialdemokratischen und stalinistischen Fraktionen keine wesentliche Rolle.

Es geht Seidman auch nicht darum, zum wiederholten Mal die sicher auch vorhandenen Potenziale und Praxen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung aufzuzeigen, also die Möglichkeit eines selbstbestimmten, freiheitlichen Sozialismus. Wobei er explizit darauf hinweist, dass die französischen ArbeiterInnen in ihrer Mehrheit eben weder Sowjets noch Selbstverwaltung noch Arbeiterkontrolle forderten – dies blieb politisch bewussten Minoritäten vorbehalten.

Erstaunlich ist, dass Seidman gut herausarbeiten und belegen kann, wie stark sich die Modernisierungsideologie, quer zu den Klassenlagen, auch in das Denken der bewussteren, organisierten ArbeiterInnen und Arbeiterbewegung eingeschrieben hatte.

Dies begründet einmal mehr starke Zweifel an der „Arbeiterexklusivtheorie“, die MarxistInnen und SyndikalistInnen in der Überzeugung von der Superiorität einer Arbeiterklasse für den Aufbau des Sozialismus vereint.

Insoweit könnte der ja eher „klassenneutrale“ Ansatz Gustav Landauers „realistischer“ sein als der der AnarchosyndikalistInnen.

Zum Anderen liefert Seidman auch Elemente für die Erklärung des Phänomens, warum libertäre Massenbewegungen ab Mitte des 20. Jahrhunderts nur eine minoritäre Rolle spielten.

Die unmittelbaren Bedürfnisse von wesentlichen Teilen der Arbeiterschaft waren mit den wachsenden Möglichkeiten in einer Konsumgesellschaft immer besser zu befriedigen.

Wenn der „geheime Lehrplan“ auch der in der CNT organisierten spanischen ArbeiterInnen eher die Freiheit „von“ als die Freiheit „in“ der Arbeit war, wenn sich andererseits der Wunsch nach einer Modernisierung des Landes bei führenden Köpfen der CNT sogar dahin steigert, für die Stachanow-Sklaverei in Russland Sympathien zu entwickeln, dann prallten hier zwei gegensätzliche Interessen aufeinander, die unter einer schwarz-roten Fahne kaum mehr verdeckt werden konnten.

Seidman arbeitet hier gegen Mythen an

Allerdings bleibt die Frage offen, warum es neben den notorisch „modernisierungsfreundlichen“ SozialdemokratInnen und KommunistInnen auch SyndikalistInnen dieser Denkungsart gab und welche tatsächliche Stärke sie in der CNT hatten.

Weiterhin müssen wir uns angesichts der detaillierten Beschreibung der Produktionsabläufe in Spanien und Frankreich bei Seidman fragen, ob Arbeiterselbstverwaltung in den heute noch autoritärer und hierarchischer, auch das „Humanvermögen“ ergreifenden, also semitotalitär durchorganisierten Betrieben etc. noch Ansätze bietet, die für eine freiheitliche Organisierung vorhanden sind.

Sind VW, Opel, Ford, Mercedes und Porsche tatsächlich als selbstverwaltete Betriebe vorstellbar? Oder ist nicht grundsätzlich nach dem Verhältnis von Technik und Herrschaft zu fragen, bevor leichtfüßig zum Thema Konversion übergegangen wird?

Was bedeutet dann Revolution eigentlich?

Für eine große Fraktion der Arbeiterklasse war es nicht von Interesse, die Fabriken zu übernehmen und dort die Produktion umzugestalten. Dieses Phänomen war bereits in der Russischen Revolution 1917 zu beobachten und nimmt z.B. in dem Buch von Orlando Figes (1) breiten Raum ein.

Die Bolschewiki antworteten auf diese Tendenzen mit ihrer Ordnungsvorstellung, nämlich die Gesellschaft nach dem Vorbild der deutschen Reichspost territorial durchzuorganisieren. Für sie waren damit Arbeiterkontrolle und Arbeiterdemokratie von untergeordneter Bedeutung.

Hier trafen sie sich aber mit den antagonistischen Interessen einer Masse von ArbeiterInnen, die daran interessiert waren, in möglichst großem Umfang aus den Zwängen der Produktion zu entfliehen. Und dies nicht nur in den tayloristisch geprägten, durchgetakteten Werkstätten.

Mindestens müssen wir in der weiteren Diskussion ja von einer Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse ausgehen zwischen „Faulen“ und „Fleißigen“. Aber auch, dass die durch den industriellen Kapitalismus erzwungene Arbeitsdisziplin wesentlich Zwangscharakter hat, aus dem sich weder psychologisch noch durch den Zwang der Verhältnisse selbst ein freiheitliches Bewusstsein ergeben muss, vielleicht noch ein „rebellisches“ (Rühle).

Aber reicht das aus?

Seidmans empirisch abgesicherter „Abschied vom (einheitlichen) Proletariat“ verträgt sich so nicht nur nicht mit leninistischen, sondern auch nicht mit syndikalistischen, rätekommunistischen Konzepten.

Könnte es also sein, dass die vorhandene Industrieorganisation für eine freie Gesellschaft schlicht nicht zu gebrauchen ist?

Bedeutet Arbeiterkontrolle bzw. eine Arbeiterdemokratie – was immer das heute heißen mag – für eine so organisierte Produktion letztlich wieder und weiterhin notwendig doch Zwang, Zeitnot und physische und psychische Verkrüppelung, nur unter einem anderen Firmenschild? Welche Konsequenzen hat das für unsere Konzepte von einer freien Gesellschaft?

Wenn eine Revolution für die industrielle Fertigung einen dramatischen Einbruch der Produktivität und Produktion bedeutet – und darauf weisen auch die Erfahrungen aus der Russischen Revolution hin – was bedeutet das für das Konsumtionsniveau einer Gesellschaft? Und in der Folge für die sozialen Auseinandersetzungen in einer Gesellschaft, die sich den imperialen Lebensstil des Nordens auch in breiten Segmenten der Lohnabhängigen zu eigen gemacht hat?

Muss diese Frage nicht angesichts der immer breiter diskutierten Notwendigkeit, in der derzeitigen ökologischen Krisensituation Produktion und Konsumtion einzuschränken, viel deutlicher gestellt werden?

Wie kommt eigentlich der von Seidman konstatierte Bruch zwischen den organisierten Arbeitern, ihren Funktionären und den Führungen zu Stande?

Weshalb waren letztere mehr oder minder auf der produktivistischen Schiene, weshalb waren sie zur Disziplinierung der „Basis“ bereit?

Man kann das für Spanien noch aus den Erfordernissen einer bewaffneten Konfrontation mit dem Franco-Faschismus heraus verstehen – schließlich musste ein Bürgerkrieg gewonnen werden, der auf Leben und Tod geführt wurde.

Doch schon für Frankreich ist dies weniger plausibel zu erklären, das sich unter Daladier schließlich in einer „Appeasement“-Phase gegenüber Nazideutschland befand?

Alleine, dass Seidman Anstoß zu einem ganzen Bündel von Fragen gibt und sein Buch weit über eine historische Darstellung hinausgeht, macht es lesenswert.

(1) Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes, Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924; 2. Auflage Berlin 2008; vgl. auch die ausgezeichnete Darstellung von Karl Schlögel, Terror und Traum; Moskau 1937, Bonn 2008, die den stalinistischen Terror u.a. auf die Durchsetzung industrialistischer Modernisierungsutopien gegen die Arbeiter- und Bauernbevölkerung thematisiert.