Ehrfurchtsvoll und neugierig schaute ich Anfang der 1970er Jahre als Jugendlicher zu den maoistischen GenossInnen auf, die in der Fußgängerzone energisch und mit markigen Sprüchen gegen den Kapitalismus agitierten, sich mit Megaphon ganz oben auf Blumenkübeln postierten, komische Volkszeitungen mit radikalen Forderungen auf der Titelseite hochhielten und immer genau wussten, wo es langzugehen hatte. Von den endlosen Polit-Litaneien, die sie von sich gaben, verstand ich weniger als die Hälfte, denn ich hatte kein Abitur. Wenn ich neben ihnen stand, fühlte ich mich klein und unwissend.
Doch dann sprach eine Stimme zu mir: "Hör mal Horst, von diesen aufgeblasenen Gockeln wirst du dich doch wohl nicht ins Bockshorn jagen lassen!" Die Stimme kam aus Berni Kelbs schmalem Büchlein "Organisieren oder organisiert werden. Vorschläge für Genossen links unten". (1) - Vorschläge, die ich annehmen oder sogar ablehnen konnte! Das war die echte Freiheit.
„Ein Kaninchenzuchtverein …“
Nach der antiautoritären Revolte 1968 wandten sich in den Jahren danach viele Linke schon bald autoritären Organisationen zu.
Die mechanistische Vorstellung, der Mega-Einsatz von organisatorischem Input würde ein Optimum von „revolutionärem“ Output zur Folge haben, führte zu einem sich steigernden Konkurrenzkampf von Kleinparteien und Organisationen, Überheblichkeit, Profilneurosen, Realitätsverlust und später zum Katzenjammer, als alle Hoffnungen zerstoben. Es ist Berni Kelbs Verdienst, diesen auf die Spitze getriebenen Irrsinn schonungslos demaskiert zu haben.
Aus einer Arbeiterfamilie kommend, war er selbst als junger Mensch in den 50er Jahren Mitglied der KPD und konnte aus einem reichhaltigen Erfahrungsfundus bezüglich dieses ideologischen Absurdistans schöpfen. In dieser Partei war ein Austritt im Statut nicht vorgesehen, weil es so etwas gar nicht geben durfte: „Da war nur noch von der ‚hohen Ehre der Mitgliedschaft‘ und von der ‚Schande des Ausschlusses‘ die Rede.“ (S. 62)
Im „Zwiebel Almanach“ 1973 des Wagenbach Verlages machte sich Kelb mit Lorbeerkranzfoto und flottem Spruch über die parteisoldatischen Zumutungen der vergangenen Zeit lustig: „In einem süditalienischen Steinbruch erkannten einige Genossen, deutschsprechend (Gastarbeiter!) und frisch aus der KP ausgeschlossen, Berni Kelb. Sie bekränzten ihn mit Lorbeer und ernannten ihn zum Generalsekretär der KPU (Koalition politisch Unzuverlässiger). Wenige Minuten nach Aufnahme des Fotos trat Kelb von allen Parteiämtern zurück.“
Doch der Kern seiner Kritik an den Allmachtansprüchen der Partei war grundsätzlich und ernsthaft: „Die Herrschaft soll nicht umgekehrt, sondern abgelöst werden. Es sollen (bzw. wollen) einfach andere Leute nach oben. So haben wir aber nicht gewettet!“ (S. 13)
Kritik an kernigen Leerformeln
Berni Kelb analysierte scharf und mit einfachen Worten, für jede/n nachvollziehbar, was sich hinter abgedroschenen Worthülsen wie dem vielbeschworenen Ziel der „Einigkeit“ tatsächlich verbirgt.
„Sie wollen gar nicht helfen, das selbständige Handeln der Arbeiter zu koordinieren. Jedes selbständige Handeln ist ihnen verdächtig. (…) Sie wollen vielmehr rekrutieren. Sie wollen die Arbeiter aus Industrie-Soldaten in Polit-Soldaten verwandeln. Es soll weiter gehorcht werden. Und wenn die Revolution vorbei ist, sollen sich die Polit-Soldaten wieder in harmlose, aber emsige Industrie-Soldaten zurückverwandeln. Und das sollen sie möglichst freiwillig tun. Mit Einigkeit hat das nichts zu tun. Einigkeit ist nicht eine Frage des vereinigten Oberkommandos. Die Unterordnung unter einen fremden Willen ist nicht revolutionär.“ (S. 37)
Diese Worte, die sich für Libertäre heute so selbstverständlich anhören, stellten 1973 für viele, die sich kommunistischen Parteien und Gruppen angeschlossen hatten, einen ganz neuen Ton dar. Nachdem sie ein paar Jahre als „Treppenterrier“ (S. 87) mit Flugblättern und Zeitungen von der Leitung gescheucht worden sind, mussten sie erst mühsam wieder lernen, selbstständig zu denken und zu handeln.
Berni Kelbs Kritik an der „Verkirchlichung“ von Organisationen mit ursprünglich revolutionärem Anspruch ist heute genauso aktuell wie 1973.
Die bevormundenden Apparate, der Einsatz von hauptamtlichen Funktionären, das immer wiederkehrende, aber letztlich folgenlose, ritualisierte Aufbegehren der jeweiligen Organisationsjugend gegen erstarrte Strukturen sind weiterhin sehr kritikwürdig. Kelb selbst propagierte als Zielvorstellung, dass untereinander gut vernetzte AktivistInnen Anstöße zur Selbstorganisation geben sollten.
Organisationsdebatte in der Graswurzelrevolution
Als im Jahre 1974 in der Graswurzelrevolution Nr. 7 „Wie sollen wir uns organisieren?“ diskutiert wurde, stand zu Beginn des Artikels ganz oben schwarzumrahmt ein längerer Textauszug von Berni Kelb: „Oben und unten“.
In den zwei folgenden Ausgaben wurde die Debatte fortgeführt. Wolfgang Hertle berichtete darüber, wie das dezentrale Basisgruppengeflecht von französischen Kriegsdienstverweigerern und PazifistInnen so ganz anders agierte als die linkskonservative bundesdeutsche KDV-Gewerkschaft DFG/VK, indem es Zentralismus vermied und Räume für kreative Spontaneität eröffnete.
Wolfgang Zucht stellte in seinem Beitrag die Erfahrungen in Nachbarschaftsorganisationen und in gewaltfreien Trainingsgruppen im „Movement for a New Society“ (MNS) in den USA dar.
Seine Erfahrungen mit linksradikaler Betriebsarbeit fasste Berni Kelb 1971 in der bei Wagenbach erschienenen „Betriebsfibel“ zusammen.
Es war ein Gegenentwurf zu Allem, was bisher an traditionellen linken Gewerkschaftskonzepten im Umfeld des DGB veröffentlicht wurde:
„Die Gewerkschaftsführung soll die Macht der Mitglieder gegenüber dem herrschenden System verkörpern. Tatsächlich verkörpert sie aber Macht über die Mitglieder. Für das herrschende System. Sie ist ein Teil des herrschenden Systems geworden. Sie faßt sich eingestandenermaßen als ‚Ordnungsfaktor‘ auf, als Stütze der Gesellschaft. Die Macht der Führung über die Mitglieder, von denen sie eigentlich abhängig ist, beruht auf manipuliertem Vertrauen.
Dafür wird der hauptamtliche Funktionär bezahlt. Das ist sein Job. Er hat dafür zu sorgen, daß dieses blinde Vertrauen erhalten bleibt. Mit allen Mitteln.
Wenn es sein muß, mit List und Betrug. Aufmerksame, mißtrauische Mitglieder gefährden diese Macht. Man wird noch eine Weile mit hauptamtlichen Funktionären in den Gewerkschaften leben müssen; vertrauen muß man ihnen nicht. Der hauptamtliche Funktionär soll Diener seiner Organisation sein. Erfahrungsgemäß versucht er, sich zum Herrn aufzuschwingen. Sobald man ihm vertraut, entzieht er sich der Kontrolle. Deshalb ist es richtig und notwendig, dagegen die Losung zu verbreiten: Trau keinem, der dafür bezahlt wird!“ (2)
„Feind der organisierten Arbeiterschaft?“
Die „Betriebsfibel“ fand eine so große Verbreitung, dass selbst „Der Arbeitgeber“, das offizielle Organ der Deutschen Arbeitgeberverbände, 1973 beim herausgebenden Wagenbach Verlag einen Lebenslauf (!) des notorischen Unruhestifters anforderte:
„Sehr geehrte Damen und Herren, in Ihrem Verlag ist die ‚Betriebsfibel‘ von Herrn Berni Kelb erschienen, die jetzt auf den verschiedensten Lehrlingsveranstaltungen kursiert.
Mehrere Leser erbitten in diesem Zusammenhang nähere Einzelheiten über die Person von Herrn Berni Kelb. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ggfs. einen Lebenslauf oder sonstige Unterlagen hierzu senden würden.“
Berni Kelb antwortete in „Schwarze Protokolle“ (3) mit viel Ironie, denn auch die DKP hatte ihn zum Gegner auserkoren. In der DKP-nahen „Deutschen Volkszeitung“ wurde er als „eigentlicher Feind der organisierten Arbeiterschaft, der kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften“ ausgemacht. Berni Kelb resümierte zusammenfassend: „Der Feind steht immer Oben!“.
Das weit rechts stehende „Ostpreußenblatt“ schrieb in dem Artikel „Reifende Früchte der roten Saat. Gedruckte Instruktionen für Terroristen“: „Berni Kelbs ‚Betriebsfibel‘ als Wagenbach-Band ‚Politik 31‘ im Jahre 1973 in einundzwanzigtausend Exemplaren erschienen, macht deutlich, daß die zur Zeit zu beobachtende Ruhe trügerisch ist und die Versuche, die Arbeiter gegen die bestehende staatliche Ordnung aufzubringen, keineswegs aufgegeben sind.“ (4)
Während der Wagenbach Verlag sich heute gerne mit seinen Autoren-Promis wie Biermann, Dutschke und Guevara schmückt, vergisst er seinen weniger bekannten, aber authentisch-antiautoritären Autor Berni Kelb und antwortet auf Nachfragen nicht einmal. In diesem „Verlag für wilde Leser“ erfolgte auch keinerlei Erwähnung in den Texten der umfangreichen Selbstdarstellungsbände zum 25., 30. und 40. Jubiläum. Unter 1973 liest man in der Kurzdarstellung bezeichnenderweise nur: „Scheitern des Kollektivs“.
Glücklicherweise hat Klaus Wolschner in der TAZ-Bremen (als einziger Zeitung überhaupt) einen einfühlsamen Nachruf veröffentlicht. Dort sind auch interessante Angaben über Berni Kelbs Leben in den letzten zwei Jahrzehnten zu finden: „Eine neue Heimat hat Berni Kelb seit den 90er-Jahren in einer Kultur gefunden, in der er aufgewachsen ist: bei den ‚Plattdeutschen‘ und ihren Alltagsproblemen. Wie mit seiner Mutter in der Küche sang er im hohen Alter gern die plattdeutschen Lieder. Rund 50 Theaterkritiken über Aufführungen der niederdeutschen Bühne im Waldau-Theater finden sich im taz-Archiv unter seinem Künstlernamen Bani Barfoot. Und er hat das Schauspiel Rose Bernd von Gerhart Hauptmann ins Niederdeutsche gebracht, eine Tragödie voller Sozialkritik, menschlicher Einsamkeit und erotischer Verstrickung.“ (5)
Ich kann nur hoffen, dass Berni Kelb als barfußgehender, bescheidener Einzelgänger (TAZ-Bremen), trotz Armut und relativer Zurückgezogenheit seine kulturellen Aktivitäten doch noch etliche Jahre lang schön genießen konnte.
Mit seiner „Bibel“ (für die Spontis) und seiner „Fibel“ hat er zwei Klassiker der antiautoritären Linken geschrieben und damit in den realen Verlauf der Geschichte stärker eingegriffen, als so mancher marxistische Theoretiker oder trendige Zeitgeistsurfer es jemals hätte schaffen können. Wir werden Berni nicht vergessen.
(1) Berni Kelb, "Organisieren oder organisiert werden" Politik 39, Verlag Klaus Wagenbach, 95 Seiten, 1973
(2) Berni Kelb; "Betriebsfibel. Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz", Verlag Klaus Wagenbach, 71 Seiten, 1971. Online einsehbar unter:
www.scribd.com/doc/30067641/Berni-Kelb-Betriebsfibel-Ratschlage-fur-die-Taktik-am-Arbeitplatz
(3) "Schwarze Protokolle" Nr. 124, also: sieben, Januar 1974, Seite 59
(4) "Ostpreußenblatt", 10.5.1975, Seite 3, Dr. A. Schickel
(5) TAZ-Bremen, 9.12.2011, Klaus Wolschner