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Praktisches für eine Welt der Zukunft

Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter

| Joseph Steinbeiß

Ostrom, Elinor, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, herausgegeben, überarbeitet und übersetzt von Silke Helfrich, oekom verlag, München 2011, 112 Seiten, ISBN-13: 978-3-86581-251-3, 14.95 Euro

In einem lesenswerten Beitrag für die Süddeutsche Zeitung hat der Philosoph und Kulturtheoretiker Slavoj Zizek den weltweiten Protestbewegungen gegen die Tyrannei der Finanzmärkte und den Demokratieabbau einen wertvollen Rat gegeben: „Man sollte in dieser Phase der Versuchung widerstehen, die Energie der Proteste auf die Schnelle in eine Reihe ‚konkreter‘ Forderungen zu übersetzen. Ja, die Proteste haben ein Vakuum geschaffen – ein Vakuum im Feld der vorherrschenden Ideologie. Man braucht Zeit, um dieses Vakuum zu füllen, denn es ist ein bedeutungsschwangeres Vakuum, es eröffnet wahrhaft Neues. […] Man sollte immer daran denken, dass jede im Hier und Jetzt geführte Debatte notwendigerweise immer eine Debatte auf feindlichem Gebiet bleiben muss […].“ (SZ, 27. Oktober 2011, S. 11)

Trotzdem gewinnt man den Eindruck, dass sich in dem Raum, den die Proteste geöffnet haben, nach und nach Vorstellungen entwickeln, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen sollte, die die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt.

Denn ganz gleich, ob es um Ernährungssouveränität geht, um demokratischere Entscheidungsfindung oder um die Herstellung des eigenen Stroms – immer bildet die Grundlage eine eigenverantwortliche, selbstorganisierte Gruppe von Menschen, eine lokale „Basisgesellschaft“, in der sich die Betroffenen selber um ihre Angelegenheiten kümmern (können).

Gänzlich neu sind solche Ideen nicht, selbst wenn man den Blick auf das 20. Jahrhundert beschränkt: Schon vor Jahren hat Noam Chomsky öffentlich darüber nachgedacht, ob nicht die wachsende Spezialisierung in Wirtschaft und Forschung und die Arbeit in immer kleineren, autonomen Gruppen die Chance böten, in beiden Branchen (wieder) auf anarchosyndikalistische Formen der Selbstorganisation zurückzugreifen, die man zuletzt Ende der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts ins Grab sinken zu sehen meinte. „Autogestion“ [‚Selbstbestimmung‘] war eine zentrale Forderung der rebellischen Studentinnen und Studenten im Mai 1968 in Paris. Ist die Vorstellung einer „Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften“ (Gustav Landauer), wie sie zur Zeit (wieder) im Raume zu stehen scheint, also nichts weiter als die Wiederkehr alter, anarchistischer Träumereien? Ein Rauschen in den Bärten von Proudhon, Bakunin und Kropotkin?

Elinor Ostroms Theorie des kollektiven Handelns

Wer Arbeiten von Elinor Ostrom liest, wird diesen Eindruck rasch verlieren. Ostrom ist in vielerlei Hinsicht eine ungewöhnliche Erscheinung im globalen Wissenschaftsbetrieb.

Nicht nur, dass man, wenn man ihr begegnet, schwören möchte, es mit einer Norwegerin oder sturmfesten Isländerin zu tun zu haben, und nicht mit einer gebürtigen US-Amerikanerin. 2009 erhielt Ostrom – als erste Frau überhaupt! – den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Dabei ist sie von Hause aus gar keine Ökonomin, sondern Politikwissenschaftlerin an der Indiana-University (USA).

Aber Ostrom ist eben auch eine der weltweit führenden Forscherinnen zur Allmende, dem sozialen Gemeineigentum.

Die von ihr gegründete und geleitete „Bloomington School“, angesiedelt an ihrer Heimatuni, erforscht seit Jahren rund um den Globus, wo und auf welche Weise sich Menschen selbst organisieren, um unabhängig von Staat und Markt natürliche Ressourcen zu nutzen und zu verwalten. Es geht, in Ostroms eigenen Worten, „um die Entwicklung einer empirisch gestützten Theorie des kollektiven Handelns, die auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung beruht“ (S. 22).

Ostroms besonderes Interesse gilt der Frage, welche Institutionen sich Menschen schaffen, um Ressourcen gemeinsam zu bewirtschaften, ohne sie zu zerstören, und warum diese Institutionen funktionieren bzw. nicht funktionieren. Ihr Hauptwerk „Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt“ (Tübingen 1999) ist ein Meilenstein der Forschung und durchaus dazu angetan, langfristig einen Paradigmenwechsel in den herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zu bewirken.

Nun ist im Oekom-Verlag (München) ein Buch erschienen, das bequem in jede Jackentasche passt und Ostroms anspruchsvollen Ansatz in einer auch für wissenschaftliche Laien verständlichen Form präsentiert.

Ein Glossar am Ende des Buches erläutert z.B. die Fachausdrücke. Der Band besteht im Wesentlichen aus Ostroms Vortrag anlässlich der Verleihung des Nobelpreises in Oslo, der die Ziele ihrer Arbeit zusammenfasst, und einem überarbeiteten Aufsatz zur kollektiven Nutzung von Wasser und Wäldern, der Gesichtspunkte aus „Die Verfassung der Allmende“ aufgreift.

Lösungen für die Ressourcennutzungsproblematik

Ostroms zentrale These ist unmissverständlich: Weder Staat noch Privatwirtschaft sind in der Lage, die begrenzten Ressourcen des Planeten zu nutzen und zu verwalten, ohne dabei das Überleben der Menschheit zu gefährden.

Während Privatbesitz per se keine langfristigen sozialen Verpflichtungen beinhalte – der Besitzer einer Ressource werde diese zum Beispiel verkaufen, wenn ihm höherer Gewinn winke, ohne auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen, usw. – seien staatliche Einrichtungen, selbst, wenn man ihnen beste Absichten unterstelle, nicht in der Lage, die vielfältigen und sich beständig wandelnden regionalen und lokalen Probleme mithilfe eines zentralen Lösungsansatzes zu bewältigen.

Eben dies aber werde von den die Politik leitenden Theorien fortgesetzt behauptet: „Man nutzt vereinfachende Modelle, die zu der Grundannahme verleiten, staatliche Behörden seien in der Lage, eine wirkungsvolle Lösung für eine gesamte Region zu entwickeln, immer in der Annahme, der Staat handele stets im Interesse der Allgemeinheit. […] Unsere Forschung zeigt […], dass es ein Irrweg ist, zentrale Lösungen für die Ressourcennutzungsproblematik einer großen Region von oben nach unten durchzusetzen.“ (S. 27)

Der Allmende dagegen hafte im 21. Jahrhundert der Ruch des Rückschrittlichen, Vorzeitigen an.

„Viele Menschen denken […], bei Gemeingütern ginge es um gestrige Formen gemeinschaftlicher Selbstorganisation und Selbstverwaltung von natürlichen Ressourcen. Die Gemeinschaften, von denen dann die Rede ist, bekommen aus dieser Perspektive einen archaisch-exotischen Zug. […] All jenen aber, die an der Vitalität der Gemeingüter zweifeln, sei ins Stammbuch geschrieben, dass auch heute zahlreiche Commons-Institutionen existieren und gedeihen. […] Die Allmende ist […] sehr aktuell und keineswegs ein Relikt der Vergangenheit.“ (S. 23-24)

Soziale Struktur

Nach Ostroms Überzeugung ist für die langfristige Sicherung menschlicher Lebensgrundlagen auf diesem Planeten nicht der Schutz einer (womöglich gefährdeten) Ressource entscheidend, sondern der Schutz der sozialen Struktur, die ihren Erhalt sicherstellt.

Tatsächlich hätten sowohl Staaten als auch kapitalistischer Markt bei ihren Eingriffen in die weltweite Ressourcennutzung allzu oft eben jene Strukturen zerstört, die zum langfristigen Erhalt der Ressourcen unverzichtbar gewesen wären: „Keine Regierung der Welt kann die ganze Palette an Wissen, Instrumenten und Sozialkapital entwickeln, die nötig ist, um nachhaltige Entwicklungsprozesse zu fördern. All diese Dinge müssen ständig an die kulturellen und ökologischen Verhältnisse vor Ort angepasst werden. Das ist eine gewaltige Aufgabe, weshalb ich folgendes zu behaupten wage: Jeder noch so umfassende Maßnahmenkatalog, der in einem großen Territorium Anwendung finden soll, ist zum Scheitern verurteilt. […] Eine wesentlich erfolgreichere Strategie besteht […] darin, die Fähigkeit der Menschen zur Selbstorganisation und zur Kooperation zu stärken. Es sind nämlich die Nutzer selber, die vor Ort den besten Einblick in die konkreten Bedingungen haben.“ (S. 30)

Ostrom illustriert ihre These mit zahlreichen Beispielen. So habe sich etwa auf der extrem trockenen, tibetischen Hochebene im Laufe der Zeit ein System kollektiver Nutzung des kostbaren Wassers entwickelt, das, wie nebenbei, soziale Strukturen stabilisiert und das Überleben aller gesichert habe.

Als dann staatliche Akteure eingriffen und teure Kanäle graben ließen, sei das System auseinandergebrochen. Ein sicherlich gut gemeintes, zentral gesteuertes und durchgesetztes Modernisierungsprojekt zerstörte, so Ostrom, „[…] jenes Sozialkapital der Nutzer […], das entscheidend für den Erhalt natürlicher Ressourcen war: Beziehungsnetze, Normen, Wissen und Vertrauen“ (S. 25).

Gleiches gelte für eng verzahnte, in Wahrheit meist profitorientierte Projekte von Staat und Privatwirtschaft, die (vor allem in Lateinamerika) gerne unter dem Deckmantel des Umweltschutzes daherkommen: „Der Schutz der biologischen Vielfalt darf […] nicht die Zerstörung institutioneller Vielfalt zur Folge haben.“ (S. 25)

„Anreize für die Beteiligten“

Ob eine kollektive Ressourcennutzung langfristig Erfolg habe, hängt, so Ostrom, von einer Reihe von Faktoren ab.

Unverzichtbar seien soziale „Anreize für die Beteiligten“ (S. 29). Es gehe dabei nie um bloße Existenzsicherung.

Wer beispielsweise bei der Verteilung des Wassers auf der tibetischen Hochebene Verantwortung übernahm, war in den Dörfern ein angesehener Mensch. Er handelte zum Nutzen der Allgemeinheit und konnte diese Ehre sogar auf seine Nachkommen übertragen.

Kaum jedoch war der Beton in die Erde gegossen, da kümmerten sich die tibetischen Bauern nicht länger um das „fremde“ Bewässerungssystem. Seine Wartung versprach kein soziales Prestige (mehr). Die Gemeinden vereinzelten, die Kanäle wurden leck, versandeten und waren innerhalb kurzer Zeit nicht mehr zu gebrauchen.

Ein funktionierendes soziales Nutzungsgefüge – eine Institution in Ostroms Worten – war zerschlagen worden, ohne dass etwas Gleichwertiges an ihre Stelle getreten wäre: „Wer Institutionen für Gemeingüter gestalten will, muss die Nutzerinnen und Nutzer in den gesamten Prozess einbeziehen. Top-down-Ansätze und Blaupausen haben hier nichts zu suchen.“ (S. 33-34)

Mindestens ebenso wichtig wie positive Anreize sei ein glaubhaftes System von Kontrollen und Sanktionsmöglichkeiten bei schwerwiegenden Regelverstößen. Auch dieses sei durch selbstbestimmte „Basisgesellschaften“ viel besser zu realisieren und an sich wandelnde Bedingungen anzupassen als durch die Verwaltung einer fernen Hauptstadt oder ein Firmendirektorium, das ohnehin bestenfalls als Fremdkörper wahrgenommen werde.

Kollektive Ressourcennutzung funktioniere schließlich, so Ostrom, nur mittels einer Vielzahl fehlerfreundlicher, entschleunigter, nicht-zentralistischer, „komplexer adaptiver Systeme“ (S. 37-38), also solcher Strukturen, die sich rasch und leicht auf sich verändernde Bedingungen einstellen könnten.

Sogar die Redundanz innerhalb derartiger Systeme helfe, ihre Fehleranfälligkeit zu verringern: „[Es ist] davon auszugehen, dass Governance-Systeme, gleich welcher Art, immer suboptimal funktionieren. […] Aber in polyzentrischen Systemen gibt es Einheiten, die sich überlappen. So können Informationen über das, was an dem einen Ort gut funktioniert, für andere Orte nutzbar gemacht werden.“ (S. 40) Auf diese Weise sei es Menschen gelungen, zum Teil über Jahrtausende hinweg natürliche Ressourcen gemeinsam zu nutzen, ohne sie zu zerstören. Und auf diese Weise organisierten sich auch heute noch, immer aufs Neue, kollektive Nutzerstrukturen, sei es auf dem Land, in der Stadt oder im Internet.

reizvoll

Das Reizvolle an Ostroms Ansatz ist, dass er viel radikalere Schlüsse zulässt, als sie selbst zu ziehen bereit ist. Elinor Ostrom ist keine Umstürzlerin.

Sie sieht das Ziel ihrer Arbeit in erster Linie in einer verbesserten Wirtschafts- und Entwicklungspolitik: „Entwicklungspolitische Arbeit sollte sich bemühen, die Fähigkeiten lokaler Gemeinschaften zur Selbstverwaltung zu unterstützen […]“ (S. 35).

Hilfsorganisationen wie medico international arbeiten seit langem nach diesem Credo. Ziel ihrer entwicklungspolitischen Arbeit ist im Grunde ein Paradoxon: die schrittweise Selbstentmachtung des reichen Nordens und Westens.

Pragmatismus, Praxisnähe und politische Unverdächtigkeit der „Bloomington School“ jedoch sind es gerade, die Ostroms Forschung auch für eine politische Kritik wertvoll machen, die weit über eine bloße Reform des Bestehenden hinausgehen will. Es hieße zum Beispiel wohl kaum, Ostroms Thesen überzustrapazieren, wenn man aus ihnen den Schluss ziehen wollte, dass Dezentralisierung und Demokratisierung in einem ganz unmittelbaren Sinne für die Zukunft der Menschheit entscheidend sein werden. Die Stärkung selbstorganisierter Basisgemeinschaften und des Kollektiveigentums bedeutet notwendigerweise eine Schwächung anderer, dominanter Besitz- und Herrschaftsverhältnisse.

Ostroms basisdemokratisches Modell polyzentrischer, adaptiver Systeme wird so zu einem Schlag gegen die Verherrlichung zentralistischer und zentralisierender Formen politischer Machtausübung.

Ihr Beweis, dass Menschen auch heute überall auf dem Planeten, wenn auch gewiss nicht mühelos oder konfliktfrei, zu gegenseitigem Nutzen zusammenarbeiten, wiederlegt ein primitives, rückschlägiges Menschenbild, das von Hardins „Gefangenendilemma“ bis zu neoliberalem Propagandagewäsch Menschen als „naturgemäß unsoziale Wesen“ hinzustellen versucht.

Die gegenwärtige Ausweitung staatlicher Herrschafts- und Verwaltungseinrichtungen zu immer größeren, zum Teil global arbeitenden Einheiten und die rasende Konzentration der Weltwirtschaft werden, völlig unabhängig vom politischen Standpunkt, als lebensgefährdende, globale Bedrohungen erkennbar. Eine im Namen der „Effizienzsteigerung“ vorangetriebene Zentralisierung und Machtausweitung entpuppt sich als Ursache für die sich beständig steigernde und mitunter verheerende Ineffizienz bei der Nutzung natürlicher Ressourcen.

Und schließlich kann man sich künftig auch den Verweis auf die gewaltig angewachsene Weltbevölkerung als Ursache des Ressourcenproblems sparen: Die politische Einrichtung der Ressourcennutzung ist verantwortlich für deren Verschwendung. Und nichts anderes. Es ist, als sei der Geist von Peter Kropotkins „Die Eroberung des Brotes“, befreit von seinen rasselnden Ketten allzu utopischen Denkens, vom Ende des 19. Jahrhunderts in die gegenwärtige wirtschaftswissenschaftliche Spitzenforschung gefahren.

Allmende-Forschung

Denn die Allmende-Forschung ist kein seliges Stochern im Blau des Utopienhimmels.

Noch weniger ist sie eine unkritische Lobpreisung der Selbstorganisation um ihrer selbst Willen.

Ostroms Forschung verspricht kein neues goldenes Zeitalter. Aber sie zeigt einen gangbaren Weg in die Zukunft auf. Sie entwirft ein Modell globaler gesellschaftlicher Organisation, in dem Anarchistinnen und Anarchisten eigentlich vieles aus ihrer Utopie wiederentdecken müssten. Sie beweist, dass Menschen, wenn sie sich selbst organisieren, sehr wohl in der Lage sind, nachhaltig und gerecht die begrenzten Ressourcen des Planeten zu nutzen und zu erhalten.

Und sie beweist, dass Staat und Privatwirtschaft – zumindest in ihrem gegenwärtigen Zustand – dies definitiv nicht können.

Dass man zu Beginn des 21. Jahrhunderts für eine solche Forschung den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften (!) bekommen kann, ist ein Grund zur Hoffnung.

Vielleicht ist es, Zizek zum Trotz, doch an der Zeit, allmählich konkrete Gesellschaftsentwürfe für die Zukunft zu diskutieren. Die wissenschaftlichen Grundlagen stehen, auch Dank Elinor Ostrom, bereits zur Verfügung.