transnationales / antimilitarismus

Spagat mit offenem Ausgang

Kriegsdienstverweigerung in der Türkei und der Machtkampf zwischen Regierung und Armee

| Rudi Friedrich

Im November und Dezember 2011 wurde in der Türkei über die Kriegsdienstverweigerung diskutiert. Das ist ungewöhnlich, gilt doch die Infragestellung und Kritik der Institution des Militärs in der türkischen Gesellschaft nach wie vor als Tabu.

Ausgelöst wurde die aktuelle Debatte durch die Aufforderung des Ministerausschusses des Europarates an die türkische Regierung, bis Dezember 2011 gesetzliche Maßnahmen zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung vorzulegen. Noch während der Debatte verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei im Fall des Kriegsdienstverweigerers Yunus Erçep und erkannte die Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht an.

Aussitzen und Abwarten

Die Türkei erkennt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an. Jeder türkische Mann ist mit 20 Jahren zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet. Kriegsdienstverweigerer, die die Ableistung des Militärdienstes verweigern, werden wegen Befehlsverweigerung angeklagt und nach Verbüßung der Haftstrafe erneut einberufen. Dieser Teufelskreis kann ein Leben lang fortbestehen, da die Wehrpflicht in der Türkei erst nach Ableistung des Militärdienstes als erfüllt gilt.

Osman Murat Ülke ist einer der ersten Kriegsdienstverweigerer, der seine Verweigerung öffentlich gemacht hatte und im Anschluss daran mehrfach strafrechtlich verfolgt wurde.

Er ist zwischen 1996 und 1998 insgesamt acht Mal verurteilt worden und war mehr als 23 Monate inhaftiert.

2006 erwirkte er ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, mit dem die mehrfache Bestrafung als rechtswidrig anerkannt wurde. „Die zahlreichen Anklagen in Verbindung mit der Möglichkeit, dass er einer lebenslangen Strafverfolgung unterliegen könnte, stehen im Missverhältnis zu dem Ziel, die Ableistung des Militärdienstes sicherzustellen“, erklärte das Gericht im Urteil. (1) Das Gericht ging auch auf die Lebenssituation nach der letzten Haft ein und brandmarkte diese als „zivilen Tod“. Mit der weiteren Gefahr der Rekrutierung und Strafverfolgung sei nur ein „Leben im Geheimen“ möglich.

Praktisch bedeutet das, dass Kriegsdienstverweigerer in der Türkei keinen Pass erhalten können. Sie können kein Konto anmelden, nicht heiraten, ihre Kinder nicht anerkennen und keine legale Arbeit annehmen. Sie sind praktisch rechtlos.

Im Falle von Osman Murat Ülke besteht diese Situation seit dem Urteil fort. 2007 wurde er aufgefordert, eine Reststrafe von 17 Monaten und 15 Tagen anzutreten. (2)

Ob Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte umgesetzt werden, überprüft der Ministerausschuss des Europarates. Dieser befasste sich mehrfach mit dem Urteil zu Osman Murat Ülke und forderte die Türkei wiederholt auf, gesetzliche Regelungen umzusetzen, um weitere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auszuschließen. Die türkische Regierung hatte auf die diversen Aufforderungen zwischenzeitlich erklärt, sie arbeite an gesetzlichen Maßnahmen zur Kriegsdienstverweigerung, jedoch keine weiteren Informationen dazu vorgelegt. Am 23. September 2011, also fünf Jahre nach dem Urteil, wurde die Türkei schließlich aufgefordert, „den Ministerausschuss über die erforderlichen Maßnahmen rechtzeitig vor dem Treffen im Dezember zu informieren, einschließlich ihres Inhalts und des Zeitplans ihrer Verabschiedung“.

Ein Schritt vor, zwei zurück

Die türkische Regierung sah sich nun offenbar doch aufgefordert, zu reagieren. In einer ersten Stellungnahme erklärte Justizminister Sadullah Ergin, dass sich „der Verteidigungsminister mit dem Thema der Kriegsdienstverweigerer befassen wird. Der Verteidigungsminister ergänzte, die Regierung wolle Beispiele anderer Länder prüfen, in denen es einen rechtlichen Schutz für Kriegsdienstverweigerer gebe (3), berichtete Today’s Zaman am 15. November. Nur fünf Tage später zitierte Hürriyet Daily News erneut den Verteidigungsminister, der nun aber erklärte, „es gäbe keine Pläne, ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung einzuführen“. (4)

„Die einzige Änderung, die die Regierung plane, würde ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte betreffen, das die Türkei wegen wiederholter Haftstrafen von Kriegsdienstverweigerern verurteilt hatte. Das Gesetz solle „die Strafverfolgung auf ein Mal begrenzen“.

Mitten in der Debatte gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein weiteres Urteil zum Fall eines türkischen Kriegsdienstverweigerers bekannt. Yunus Erçep ist Zeuge Jehovas. Er war im März 1998 einberufen worden und hatte sich verweigert.

Wegen Nichtbefolgung der Einberufung wurde er etwa 15 Mal angeklagt und verurteilt. Auch er unterliegt weiterer strafrechtlicher Verfolgung.

2004 reichte er Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, der am 22. November 2011 das Urteil verkündete.

Darin stellte das Gericht fest, dass „das Fehlen einer Alternative zum Militärdienst in der Türkei das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verletzt“. (5) Es bezieht sich damit auf ein Grundsatzurteil der Großen Kammer des Gerichts, das für den Europarat die Kriegsdienstverweigerung zum Menschenrecht nach Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt hatte, der die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert. (6)

Das ergäbe sich aus der Praxis der überwiegenden Zahl der insgesamt 47 Mitgliedsstaaten des Europarates.

Schließlich verkündete die türkische Regierung angesichts von 450.000 Militärdienstentziehern (7) eine recht eigenwillige Variante, die Ende November 2011 vom Parlament beschlossen wurde: Seit dem 31. Dezember 2011 – und befristet auf ein halbes Jahr – gibt es eine Freikaufsmöglichkeit für diejenigen in der Türkei lebenden Wehrpflichtigen, die noch keinen Militärdienst abgeleistet haben und bereits 30 Jahre alt sind. Mit umgerechnet 13.000 Euro können sie nun zahlen statt dienen.

Die Regelung kann auch mit einem Betrag von 10.000 Euro von türkischen Wehrpflichtigen wahrgenommen werden, die seit zumindest drei Jahren im Ausland leben und arbeiten. (8)

Der Vorschlag der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen, wurde von der Mehrheit des Parlamentes verworfen. (9)

Damit ist weiter offen, wie die türkische Regierung mit der Frage der Kriegsdienstverweigerung umgehen wird.

Eins deutet sich allerdings an: Das türkische Militär wird bei Ausnahmeregelungen weiter das Interesse durchzusetzen suchen, daraus Profit für den eigenen Etat zu schlagen, wie dies mit der hohen Freikaufssumme beabsichtigt ist.

Wenige Tage später, am 9. Dezember, gab es eine erfreuliche Folge der Ereignisse.

Der Kriegsdienstverweigerer Inan Süver wurde vorläufig aus der Haft entlassen.

Er war am 5. August 2010 verhaftet worden und saß eine Haftstrafe wegen mehrmaliger Desertion ab (vgl. GWR 365). Seine Anwältin hatte einen Antrag auf Haftentlassung gestellt, da die Regierung in den Wochen zuvor öffentlich erklärt hatte, ein Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung vorzubereiten. Dieser Argumentation folgte das Gericht.

Macht des Militärs

Die widersprüchlichen Aussagen der türkischen Regierung zur Frage der Kriegsdienstverweigerung sind wohl am ehesten zu verstehen, wenn die Bedeutung des Militarismus und die Rolle des Militärs in der Türkei in Betracht gezogen werden, das in zwei Kriege bzw. Konflikte involviert ist.

Die Armee wird gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) eingesetzt.

So schlug sie nach einem Angriff auf sieben Militärposten am 20. Oktober 2011 umgehend zurück, bombardierte Ziele im Nordirak und marschierte mit 600 Soldaten in das Nachbarland ein. (10)

Wiederholt wurde auch berichtet, dass die Armee wahrscheinlich Giftgas gegen PKK-Kämpfer eingesetzt hat. (11)

40.000 türkische Soldaten sind in Nordzypern stationiert (12), einer der schwierigsten Verhandlungspunkte zur Frage der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union.

Die Wehrpflichtarmee der Türkei ist mit 610.000 Soldaten eine mächtige Institution im Land. Die Macht des Militärs gründet sich aber nicht allein auf die Stärke des militärischen Gewaltapparates. Die Armee wird vielmehr als Garant einer unparteiischen laizistischen Führung angesehen, die das Land in eine unabhängige, westlich orientierte, moderne Nation verwandelt.

Es ist eine ideologische Basis, gegründet auf die autoritäre Politik des Staatsgründers Kemal Atatürk, mit der sich das Militär weiter als „Hüter des Fortschritts und der Nation“ darstellt. (13)

Über die 1961 gegründete Organisation OYAK (14), einem Pensionsfonds der türkischen Armee, in den alle Offiziere eine Pflichtabgabe von 10% ihres Soldes zahlen, ist das Militär im Besitz eines der größten Holdings des Landes. (15)

Sie ist aufgrund ihrer Steuer- und Abgabenbefreiung auch einer der profitabelsten.

Auch die Rolle des Militärs als Schule der Nation ist ungebrochen. „Jeder Türke wird als Soldat geboren“, ist ein geflügeltes Wort in der Türkei. Trotz aller Widerstände gilt die Ableistung des Militärdienstes weiter als Teil der männlichen Sozialisation, auch in linken Organisationen. Der Kriegsdienstverweigerer Mehmet Tarhan erläutert die Folgen für die türkische Gesellschaft: „Mit Hilfe der Wehrpflicht werden Männer, die die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, durch diese ‚Werkstatt‘ geführt, mit dem Ziel, sie in gehorsame Menschen zu verwandeln, die dann auch Gehorsam innerhalb der Familien erwarten, die sie anschließend gründen. Dies bedeutet, dass der Militarismus bis in die Tiefen einer jeden Familie eindringt. So hat das Individuum keine andere Möglichkeit, als in eine hierarchische Struktur hinein geboren zu werden.“ (16)

Und die Generäle nutzten ihre Macht immer wieder, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Früher war es der offene Militärputsch, wie das 1960, 1971 und 1980 der Fall war. Noch 1997 erzwang das Militär den Rücktritt der Regierung von Necmettin Erbakan, von dessen islamistischer Wohlfahrtspartei sich später Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die derzeitig regiert, abspaltete.

Machtkampf zwischen Regierung und Militär

Am 6. Januar 2012 wurde der ehemalige Generalstabschef der türkischen Armee, Ilker Basbug, verhaftet.

Ihm wird vorgeworfen, eine „terroristische Organisation“ geleitet und einen Putsch gegen die islamisch geprägte AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan geplant zu haben. Er ist damit der ranghöchste Offizier, der im Zusammenhang mit den sogenannten Ergenekon-Verfahren verhaftet wurde. (17)

Das Netzwerk soll seit 2003 versucht haben, durch Terror und Desinformation den Sturz der AKP-Regierung zu erreichen. Ausgelöst worden waren die Ermittlungen durch einen Bericht des Nachrichtenmagazins Nokta im Frühjahr 2007. (18)

Der Generalstabschef könnte auch hinter dem Versuch stecken, im Jahre 2008 die AKP verbieten zu lassen.

Er hatte sich im Mai 2008, kurz bevor das Verfassungsgericht über den Verbotsantrag beriet, heimlich mit dem zweithöchsten Richter des Landes, Osman Paksut, getroffen. Das Verbot scheiterte daran, dass vier von zehn Verfassungsrichtern gegen den Antrag votierten.

Die für einen Beschluss notwendige Mehrheit von sieben Richtern wurde nicht erreicht. (19)

Im Sommer vergangenen Jahres weigerte sich schließlich Erdogan, inhaftierte Offiziere zu befördern. Daraufhin traten der Generalstabschef sowie die Kommandeure der Teilstreitkräfte zurück. (20)

Auch wenn es so aussieht, als ob die Regierung, und mit ihr die AKP, im Machtkampf mit dem Militär derzeit die Oberhand hat, so bedeutet das keine wirkliche Änderung der Politik. Die türkische Regierung setzt auf eine militärisch gestützte Hegemonialrolle – und sah auch den Beitritt zur Europäischen Union als einen Baustein, dies umzusetzen. Der in Izmir lebende Coçkun Üsterci, der seit vielen Jahren in antimilitaristischen Zusammenhängen aktiv ist, schrieb 2004 dazu: „Mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbindet sich zum einen das Interesse der Türkei, imperiale Träume zu verwirklichen. Es würde ihre Rolle und Macht im Kaukasus und dem Nahen Osten stärken.

Auch die Europäische Union hat strategische Interessen in diesen Regionen, die mit der Aufnahme der Türkei als EU-Mitgliedstaat Grenznachbar der Union werden würden.

Zum anderen werden die mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbundenen Möglichkeiten für eine wirtschaftliche Entwicklung als Werkzeug gesehen, um in der Region auch dauerhaft wirtschaftlich eine Vorreiterrolle spielen zu können.

Angesichts solcher Potentiale werden gar so lästige Aufgaben, wie die Verbesserung von ‚Demokratie‘ und Menschenrechten in Kauf genommen.

Die im Zuge dessen von der Europäischen Union eingeforderten und teilweise umgesetzten Gesetzänderungen sind diesem Hintergrund zu verdanken.“ (21)

Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat viel damit zu tun, dass die türkische Regierung dies umsetzte. Enge politische und wirtschaftliche Verbindungen zu den Nachbarstaaten sorgten für ein Anwachsen der türkischen Exporte seit 2002 von 32 auf 132 Milliarden Dollar, das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich. (22)

Im Bereich der Menschenrechte liegt auch ein Jahrzehnt später noch vieles im Argen. In der Türkei, so Amnesty International, fand gerade eine erneute Verhaftungswelle von JournalistInnen und SchriftstellerInnen statt. „Derzeit befinden sich 63 Journalisten und Schriftsteller in Haft, 2.000 Gerichtsverfahren sind anhängig und 4.000 Ermittlungsverfahren beschäftigen Polizei und Staatsanwaltschaft.“ (23) Fast 200 Menschen aus dem Umfeld der prokurdischen BDP wurden festgenommen. „Was ihnen vorgeworfen wird, wissen die meisten der Autoren und Journalisten bei ihrer Verhaftung nicht“, so Amnesty International.

Auch Kriegsdienstverweigerer, wie Halil Savda, werden wegen öffentlicher Kritik am Militär oder wegen Solidaritätserklärungen mit anderen Kriegsdienstverweigerern strafrechtlich verfolgt. Möglich machen dies die Artikel 301 und 318 des türkischen Strafgesetzbuches, die in diesen Fällen bis zu zwei Jahren Haft vorsehen.

Es ist zwar eine deutliche Machtverschiebung vom Militär hin zur Regierung festzustellen, der Inhalt und die Form der Politik sind jedoch weiter autoritär, einschließlich der Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten und öffentlicher Kritik. Das Militär wird nur in der Rolle als alleiniger „Hüter der Nation“ in Frage gestellt, aber keineswegs als Sozialisationsinstanz und als Gewaltapparat im Kriegseinsatz.

Das Bündnis mit der NATO und die militärische Zusammenarbeit mit den USA werden fortgesetzt, ebenso wie die Kriegseinsätze. „Mein Eindruck ist“, so der Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, „dass zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei die Armee keine primäre Rolle zur Frage der Kriegsdienstverweigerung spielt.

Die AKP hat sie so weit in die Ecke gedrängt, dass die Armee de facto keine Macht mehr über die Regierung hat. Die Auseinandersetzung dient aber nicht dazu, das Land zu demokratisieren, sondern um die bestehenden Strukturen im Dienst der neuen Elite zu instrumentalisieren.“ (24)

Die Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung steht ganz eindeutig nicht auf der Tagesordnung, weder für die Regierung, noch für die Armee.

Der mutige Kampf der Kriegsdienstverweigerer

Die Kriegsdienstverweigerung ist nach wie vor eine Randerscheinung in der Türkei.

Die antimilitaristische Website www.savaskarsitlari.org listet 150 Personen auf, die seit 1989 ihre Verweigerung öffentlich gemacht haben. Ihre Ansätze sind allerdings sehr unterschiedlich.

Türkisch-kurdische Wehrpflichtige verweigern die Einberufung in eine Armee, die gegen ihre eigenen Familien eingesetzt wird.

Es gibt islamische Verweigerer, die nicht in einer Armee dienen wollen, die für die Trennung von Staat und Kirche steht.

Yunus Erçep ist Zeuge Jehovas. Andere politisch aktive Verweigerer verstehen sich als Totalverweigerer, die den Kriegsdienst grundsätzlich ablehnen.

Die politische Kraft der Kriegsdienstverweigerung hat die Bewegung zu Anfang aus dem kompromisslosen Ansatz gegenüber den herrschenden Vorstellungen entwickelt.

Mit der Kriegsdienstverweigerung haben die Aktiven zentrale Fragen der türkischen Gesellschaft ins Bewusstsein gerückt und in Frage gestellt: die Rolle des Mannes, die Macht des Militärs im Staat und die Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft. Die Kriegsdienstverweigerer wiesen mit ihrer Entscheidung darauf hin, dass Militär und der militärische Einsatz eben keine Garanten für Demokratie sind und bestehende Kriege und Konflikte friedlich gelöst werden müssen.

Mit der mutigen Entscheidung einiger Verweigerer, sich dem Gewaltapparat Militär entgegenzustellen, war die Hoffnung verbunden, eine breite Bewegung zu initiieren. Das gelang nicht. Vielmehr entwickelte sich zwangsläufig eine juristische Auseinandersetzung an wenigen konkreten Fällen. Dabei haben es die Verweigerer verstanden, die europäischen Institutionen mit einzubinden, internationale Öffentlichkeit zu erreichen, ihre Forderung auf Anerkennung stark zu machen und darüber das Schweigen in der türkischen Öffentlichkeit zu brechen. Nun orientieren einige Aktive auf eine gesetzliche Regelung, andere befürchten sicher zu Recht, dass ein Gesetz sehr restriktiv sein wird – und nach europäischen Vorbildern auch einen Ersatzdienst beinhalten wird. Abschreckende Beispiele dafür gibt es genug.

Ein Blick auf die Nachbarländer Griechenland oder Armenien genügt da völlig.

So hat Armenien einen Ersatzdienst vorgesehen, der im Militär abzuleisten ist und fast doppelt so lange wie der Militärdienst dauert. Der über 20-jährige Kampf der Verweigerer ist noch lange nicht zu Ende.

Es wird ein schwieriger Weg für die Aktiven. Die unterschiedlichen Ansätze können ein Hindernis für die gemeinsame Arbeit sein, die Bewegung aber auch breiter und effektiver machen.

Die Forderung der europäischen Institutionen und Gerichte auf eine gesetzliche Regelung kann jedoch zu einer Zerreißrobe zwischen politischem Anspruch und gesetzlichen Regelungen werden.

(1) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Pressemitteilung vom 24.01.2006 zur Entscheidung Ülke v. Turkey, application no. 39437/98

(2) Mehr dazu unter www.connection-ev.de/z.php?ID=89. Siehe auch: "Otkökü" - Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Interview mit dem Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, in: Bernd Drücke (Hg.), JA! ANARCHISMUS. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag 2006, www.karin-kramer-verlag.de/lp/307-1-lp.html#otk

(3) Today's Zaman: Turkey may decriminalize conscientious objection to military service. 15. November 2011.

(4) Hürriyet Daily News: Conscientious objection 'not on our agenda', 20. November 2011

(5) European Court of Human Rights: The absence of an alternative to military service in Turkey is in breach of the right to conscientious objection. 22. November 2011. ECHR 254 (2011). Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.

(6) European Court of Human Rights: Imprisonment of conscientious objector in Armenia for refusing to do military service violated his right to freedom of religion. Press Release issued by the Registrar of the Court. July 7, 2011. ECHR 094 (2011). Die Entscheidung ist rechtskräftig.

(7) Frankfurter Rundschau: Türken können sich vom Wehrdienst freikaufen, 9. Dezember 2011

(8) Die bisherigen Freikaufsregelungen für türkische Staatsbürger im Ausland bestehen fort. Näheres dazu unter www.Connection-eV.de/pdfs/kopfgeld.pdf

(9) Hürriyet Daily News: Paid exemption from military service starts Dec. 31, 30. November 2011

(10) Frankfurter Rundschau: Türkische Truppen im Nord-Irak, 20. Oktober 2011

(11) Zeit Online: Türkei gerät wegen möglichen Giftgasangriffs unter Druck, 13. August 2010 und Turkish Press: Delegation untersucht Giftgas-Einsatz gegen PKK, 27. November 2011

(12) Nach Wikipedia: Türkische Republik Nordzypern, eingesehen am 16. Januar 2012

(13) vgl. Andreas Berger, Rudi Friedrich und Kathrin Schneider: Der Krieg in Türkei-Kurdistan, Lamuv 1998, S. 25ff

(14) Ordu Yardýmlaþma Kurumu

(15) Wikipedia: OYAK, eingesehen am 16.01.2012 und Andreas Berger u.a., a.a.O.

(16) Mehmet Tarhan: "Militarismus ist ein gesellschaftlich umfassendes Problem", Diagonal, Spanien, Januar 2006

(17) Peter Schwarz, World Socialist Web Site (wsws.org): Türkei: ehemaliger Generalstabschef verhaftet, 12. Januar 2012 und tagesschau.de: Türkische Behörden nehmen früheren Armeechef fest, 6.1.2012

(18) Wikipedia: Ergenekon; eingesehen am 16. Januar 2012

(19) Peter Schwarz, a.a.O.

(20) ebenda

(21) Coçkun Üsterci: Türkei: Exportschlager Militär. In: Rudi Friedrich und Tobias Pflüger (Hrsg.): In welcher Verfassung ist Europa?, Trotzdem Verlag, Grafenau 2004

(22) Peter Schwarz, a.a.O.

(23) Amnesty Journal: Wortgewalt. Dezember 2011

(24) Osman Murat Ülke: E-Mail vom 17. Januar 2012

Weitere Infos

Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V.

Weitere Informationen, auch zur Situation türkischer Wehrpflichtiger in Deutschland, unter www.Connection-eV.de

Die Kriegsdienstverweigerer in der Türkei betreiben eine eigene Website unter www.savaskarsitlari.org