Der erste 'Piratenprozess' seit 400 Jahren läuft nicht wie geplant. Der Prozess, in dem schon die ersten Plädoyers gehalten wurden, geht nun doch noch weiter und keiner weiß was als nächstes passieren wird.
„Wir waren eine Gruppe von Fischern, die keine Fische mehr fangen konnten. Am schlimmsten war es, als der Tsunami kam. Alles wurde weg geschwemmt, unsere Boote, unsere Häuser. Seit dem haben wir ein schlechtes Leben. Der Brunnen war vergiftet, man konnte nicht mehr daraus trinken. Während des Tsunamis kamen Hilfsorganisationen und halfen uns, zu überleben. Sie gaben uns Essen und so konnten wir uns notdürftig ernähren. Mit dem Bürgerkrieg gingen die Hilfsorganisationen weg und wir waren auf uns selbst angewiesen. Viele starben. Ich musste zwei Familien ernähren, aber ich hatte nichts. Wir litten sehr an Hunger, eine lange Zeit lang. Ich habe mich danach gesehnt, eine Möglichkeit zu finden, wie ich etwas Essbares für meine Familie finden kann.“ – Aussage eines Angeklagten im sogenannten Piratenprozess.
In dem Prozess gegen zehn somalische Männer und Jugendliche vor dem Hamburger Landgericht hat es eine unerwartete Wendung gegeben.
Nach 77 langen und langwierigen Verhandlungstagen, an denen jedes Wort von Dolmetschern übersetzt und in die Kopfhörer der Angeklagten übertragen werden musste, machte am 29. Februar 2012 einer der Angeklagten eine umfangreiche Aussage zum Tathergang, mit der er alle anderen Angeklagten schwer belastet. Am vorherigen Tag hatte das Gericht sich gerade entschlossen, das Verfahren aufzuteilen, um es zumindest für einen Teil der Angeklagten endlich zu Ende zu bringen. Sämtliche Angeklagten, darunter drei Jugendliche, befinden sich seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft.
„Seit meiner Gefangennahme ist ein Kind geboren und ein anderes hat sprechen gelernt“ – dieser Satz eines der Angeklagten, macht den Zeitraum deutlich.
Jetzt wurde die Aufteilung des Verfahrens rückgängig gemacht und die Angeklagten müssen sich auf weitere lange Tage im Gerichtssaal einrichten.
Den Zehn wird vorgeworfen im April 2010 den unter deutscher Flagge fahrenden Frachter ‚Taipan‘ angegriffen und in ihre Gewalt gebracht zu haben.
Die Mannschaft der ‚Taipan‘ hatte sich in einen sicheren Raum im Schiffsinneren zurückgezogen, und eine holländische Marineeinheit hatte die Piraten überwältigt und festgenommen.
Diese wurden dann nach Deutschland überstellt, wo ihnen seit November 2010 der Prozess gemacht wird.
Das Gericht hat den ersten Teil des Prozesses damit zugebracht, das Alter der Angeklagten zu bestimmen. Dabei wurden eine somalische Geburtsurkunde, die schriftlichen Aussagen einer Mutter, sowie die Bestätigung einer Schule geflissentlich ignoriert und stattdessen den angeblich wissenschaftlichen Erkenntnissen deutscher Gerichtsmediziner geglaubt.
Mit den gleichen zweifelhaften Methoden werden seit Jahren minderjährige Flüchtlinge vom Gerichtsmedizinischen Institut der Universität Hamburg ‚älter gemacht‘ – womit deren Abschiebung erleichtert wird.
Nebenbei forscht der Leiter des Instituts, Klaus Püschel, am Schädel von Störtebeker.
Dann wurden die Mannschaften der ‚Taipan‘ und die der holländischen Fregatte ‚Tromp‘ gehört sowie europäische ‚Somalia-Experten‘.
Aus Somalia selbst wurde kein Zeuge gehört. Sämtliche Anträge der Verteidigung, Entlastungszeugen aus Somalia zu hören, die hätten bestätigen können, dass die Angeklagten nicht ganz freiwillig auf der ‚Taipan‘ gelandet sind, wurden mit der Begründung abgelehnt, in Somalia gäbe es kein Melde- und Postwesen und damit sei es unmöglich die Zeugen aufzufinden. Oder wie einer der Angeklagten zum Richter gesagt hat: „Ich kann alles nachweisen, aber ich glaube, Sie wollen es nicht wissen“. Ebenso abgelehnt wurden wiederholte Anträge, zumindest den jugendlichen Angeklagten Haftverschonung zu gewähren und sie in einer Jugendwohnung unterzubringen. Einige der Angeklagten überstehen die Situation nur noch mit Hilfe von Psychopharmaka. Einer sagt: „Meine Seele ist zerstört. Ich bin hierher gebracht worden, ich kann hier nicht mehr sein“.
Der vorsitzende Richter Steinmetz hat zwar immer wieder beteuert, die Lebensumstände der Angeklagten zu berücksichtigen, aber es sind Zweifel angebracht, ob er wirklich etwas verstanden hat. In einer für den Prozess typischen Szene berichtete einer der Angeklagten von der Fülle des Essens im Knast in Hamburg und begann aufzuzählen, welches Gemüse er hier zum ersten Mal gegessen habe. Dies wurde prompt vom Richter abgewürgt mit der Begründung, es ginge hier nicht darum, den Speiseplan des UG vorzulesen. Das völlige Unvermögen des Richters, sich in die Situation der Gefangenen hineinzuversetzen, wird auch in einem weiteren Dialog deutlich. Ein Angeklagter berichtet von der Flucht seiner Familie, mitsamt Esel. Die einzige Frage, die dem Richter dazu einfiel, war: „Ist der Esel selber gelaufen?“. Ein anderer Angeklagter bringt es auf den Punkt: „Für Sie ist es unvorstellbar – Sie leben im Paradies, wir in der Hölle!
Als dann Ende Januar endlich die Beweisaufnahme abgeschlossen schien und die Staatsanwältin ihr Plädoyer gehalten hatte, herrschte Unglaube und Entsetzen unter den Angeklagten, deren Familien und unter den Prozessbeobachter_innen. Die Staatsanwältin hatte Haftstrafen von zwischen vier Jahren für den jüngsten Angeklagten und elfeinhalb Jahren gefordert. Die Angeklagten, die das Plädoyer irrtümlicherweise bereits für das Urteil gehalten hatten, waren fassungslos. Alle hatten dem Gericht bereitwillig über ihre Lebensbedingungen in dem seit 20 Jahren vom Bürgerkrieg zerrissenen Land berichtet und versucht darzulegen, unter welchen Umständen sie auf die ‚Taipan‘ gelangt waren. Sie fühlten sich hintergangen und hatten kein Vertrauen mehr in das Gericht. Einer fragte: „Ich kenne mich hier nicht aus. Ich weiß nicht, was Gerechtigkeit hier ist. Vertreten Sie nur Deutsche?“.
Daraufhin ergriffen einige Prozessbeobachter_innen die Initiative und schrieben einen offenen Brief an die Angehörigen der Gefangenen, um einen Kommunikationsweg zu öffnen. Eine Autorin sagt: „Wir haben beschlossen, über das Internet einen Brief an die Familien und Freunde der Angeklagten zu schreiben, um sie wissen zu lassen, dass ihre Söhne, Väter und Brüder hier nicht ganz allein sind. Dass es hier Menschen gibt, die sie besuchen und die es interessiert und berührt, woher sie kommen und was mit ihnen geschieht“. Inzwischen hat auch der somalische Sender Horn Cable TV, der auch in Großbritannien zu empfangen ist, über diese Initiative berichtet.
Im Laufe des Verfahrens hatte es auch schon etliche Veranstaltungen zum Thema Piraterie, zur Situation in Somalia und zum Prozess gegeben. Allerdings wurde diese Tatsache vom Gericht prompt als Begründung herangezogen, den Angeklagten Haftverschonung zu verweigern: Das Gericht unterstellte den Organisator_innen der Veranstaltungen, sich im Zweifelsfall auch als Fluchthelfer zu betätigen, daher bestehe erhöhte Fluchtgefahr.
In diesen Veranstaltungen wurde auch die Frage nach dem Sinn und Zweck dieses Prozesses aufgeworfen. Da es kaum vorstellbar ist, dass das Gericht tatsächlich glaubt, mit einer Haftstrafe zukünftige Piraten, die bei einem Angriff ihr Leben riskieren, abzuschrecken, muss es um etwas anderes gehen. Von Anfang an war Deutschland an der Militärmission ‚Atalanta‘ beteiligt und im letzten Jahr war ein Deutscher vier Monate lang der Oberkommandierende. Atalanta ist der erste gemeinsame europäische Militäreinsatz. Die offizielle Aufgabe ist der Schutz von Hilfslieferungen nach Somalia, in der Zwischenzeit sollen die Schiffe aber auch mal Jagd auf Piraten machen. Außenminister Westerwelle begründet dies: „Die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen, auch die Wahrnehmung von Rohstoff-Interessen, muss Teil unserer strategischen Überlegungen sein. Ich wundere mich, dass der von mir befürwortete Einsatz unserer Bundeswehr-Soldaten gegen Piraterie von einigen im Bundestag moralisch als nicht gerechtfertigt hingestellt wird“ (Interview mit der Wirtschaftswoche, 4.2.2012). Dies sei allerdings nicht immer so, denn „dass wir wegen der Rohstoffe mit der Bundeswehr in Afghanistan seien, ist Unsinn“. Das verstehe wer will, aber eine Regierung, die allein in diesem Jahr 95 Millionen Euro für den Atalanta-Einsatz ausgibt, will vermutlich auch Resultate sehen.
Dabei bekommen die Militärs zunehmend Konkurrenz. Unmittelbar nach dem Überfall wurde die ‚Taipan‘ nach Liberia ausgeflaggt, um private bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord führen zu können. Dies ist derzeit nach deutschem Recht verboten, allerdings mehren sich die Stimmen, die nach einer Gesetzesänderung verlangen. Eine Bewaffnung wird allerdings sowohl von der Marine, als auch von den Besatzungen als gefährliche Eskalation gesehen. Insbesondere die Kapitäne sind besorgt, da sie letztendlich die Verantwortung für alle Vorgänge auf dem Schiff haben und nicht immer sind die Sicherheitsdienste so schlau wie die auf einem britischen Schiff, die in dem Moment, als Piraten das Schiff betraten, über Bord sprangen und sich schnell entfernten.
Auch dabei geht es natürlich um wirtschaftliche Interessen. Die Financial Times schätzt, dass allein die zwei größten Sicherheitsfirmen monatlich 55 Millionen US-Dollar für ihre Dienste auf Handelsschiffen kassieren. Das ist ein Vielfaches dessen, was die Piraten an Lösegeld erbeuten.
Damit hätten es die Industrieländer zum dritten Mal geschafft, sich am andauernden Bürgerkrieg in Somalia zu bereichern. Erst entzogen sie der Bevölkerung ihre Lebensgrundlage, indem sie die Fischbestände vor Somalia plünderten. Als dann kaum noch Fische vorhanden waren, verklappten sie ihren Giftmüll dort – eine Tatsache, die nur durch den Tsunami von 2004 im wahrsten Sinne des Wortes an die Oberfläche kam. Jetzt wird mit der Bewaffnung der Handelsschiffe ein weiteres Mal von der Verzweiflung der Bevölkerung profitiert. Und kürzlich wurde bekannt, dass im Norden Somalias Ölvorkommen gefunden wurden.
Ob es da Zufall ist, dass deutsche Politiker zunehmend davon reden, die Piraterie an Land bekämpfen zu wollen?
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