Die argentinische Militärdiktatur (1976-1983) war eines der großen, staatlich organisierten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass mindestens 30.000 Menschen dem Terror der Militärs zum Opfer fielen.
Der Begriff des „Verschwindens“ – des „argentinischen Todes“, wie der Philosoph und Schriftsteller José Pablo Feinmann ihn nannte – bürgerte sich ein, als Bezeichnung einer besonders grausamen und perfiden Form des Staatsterrorismus: Angesichts der weltweiten Empörung über die Morde im benachbarten Chile nach dem Putsch der Militärs unter General Pinochet beschlossen die argentinischen Generäle, die Spuren ihrer Verbrechen geschickter zu verwischen.
Mobile Greifkommandos entführten die Opfer meist bei Nacht aus ihren Häusern und Wohnungen und verschleppten sie in eines der über 600 geheimen Haftzentren, wo sie – manchmal über Monate – bestialisch gefoltert wurden.
In einigen (seltenen) Fällen ließ man die Opfer nachher wieder frei. Meist jedoch tauchten sie nie wieder auf. Sie „verschwanden“, wurden nach extra-legalen Hinrichtungen in anonymen Massengräbern verscharrt, oder betäubt, aber noch lebend, aus Flugzeugen über dem Meer oder der Mündung des Río de la Plata abgeworfen.
Ihre Namen erschienen in keinen Dokumenten und ihre Angehörigen erfuhren nichts über ihr Schicksal – zum Teil bis heute nicht.
Schwangere Frauen, die ebenso wenig von Folter und Mord verschont blieben wie Behinderte, Jugendliche oder Kinder, wurden so lange am Leben gelassen, bis sie entbunden hatten. Danach ermordete man die Frauen und setzte ihre Kinder mit einem Pappschild auf der Straße aus.
Weit häufiger allerdings wurden ihre Kinder an regimetreue Familien „verschenkt“, um die „Saat der Subversion“ in der nächsten Generation auslöschen zu können.
Nach aktuellen Schätzungen wuchsen ca. 500 Kinder ohne jede Kenntnis ihrer wahren Herkunft auf – nicht selten in den Familien der Mörder ihrer Eltern.
Wer „subversiv“ war, entschieden die Militärs höchst großzügig: Mitglieder der bewaffneten Guerillaorganisationen der Montoneros und des Revolutionären Volksheeres (ERP) wurden ebenso ermordet wie liberale Geistliche, engagierte GewerkschafterInnen, Betriebsräte, LehrerInnen und HochschullehrerInnen mit kritischen Ansichten oder ÄrztInnen, die den Fehler begangen hatten, ihre Dienste in den Armenvierteln von Buenos Aires anzubieten.
Trotz der Praxis des „Verschwindenlassens“ konnte man sich, national wie international, kaum Illusionen über die Mordlust der Militärs machen.
1977 beschrieb General Ibérico Saint-Jean, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, die Logik der Verfolgung so: „Zuerst werden wir alle Untergrundkämpfer umbringen; danach deren Unterstützer; dann die Sympathisanten, später die Gleichgültigen und zum Schluss die Zaghaften“.
Gleichwohl war die gesellschaftliche Unterstützung für die Herrschaft der Generäle, zumindest in den ersten Jahren ihrer Diktatur, beachtlich.
Die katholische Kirche Argentiniens, praktisch alle Parteien bis zur Kommunistischen Partei, Verbände der Großindustrie und sogar Gewerkschaften unterstützten, mal mehr, mal weniger begeistert den von den Militärs dekretierten „Prozess der nationalen Reorganisation“ und hielten eine „Politik der harten Hand“ gegen die politische Subversion im Land für ein notwendiges Übel.
Lediglich einige kleine Linksparteien und die Organisation der Madres de la Plaza de Mayo [‚Mütter des Mai-Platzes‘] standen der Diktatur von Anfang an feindlich gegenüber und klagten deren Verbrechen unermüdlich an.
In der Bundesrepublik machte die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt gute Geschäfte mit den Militärs, sprang als deren wichtigster Waffenlieferant ein, als sich die USA unter Jimmy Carter angesichts des Ausmaßes der Verbrechen vom argentinischen Markt zurückzuziehen begann und sicherte die katastrophale Wirtschaftspolitik der Junta mit Staatsbürgschaften ab.
Berti Vogts, als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft 1978 nach Argentinien gereist, meinte, auf die Morde im Gastgeberland angesprochen, er verstehe die Aufregung nicht. Er habe „noch keinen politischen Gefangenen gesehen“.
Der Beginn der Straflosigkeit. Schuld und Verantwortung nach 1983
Nach dem Zusammenbruch der Diktatur blieb die überwältigende Mehrzahl der Täter jahrzehntelang unbehelligt.
Nach einer kurzen Phase der Strafverfolgung, die sich auf die Spitzen der Junta um General Jorge Rafael Videla beschränkte, erließ die erste demokratische Regierung unter Raúl Alfonsín das „Schlusspunktgesetz“ sowie das „Gesetz über den legitimen Gehorsam“, die jede weitere juristische Verfolgung unmöglich machten.
Die kurzzeitige Fokussierung der bürgerlich-demokratischen Eliten in den frühen achtziger Jahren auf die Verletzung der Menschenrechte, die sie während der Diktatur kaum interessiert hatten, war eine durchschaubare Strategie, um von eigener Verantwortung abzulenken.
Alfonsíns Nachfolger im Amt, der populistische Peronist Carlos Menem, begnadigte schließlich die verurteilten Generäle, um einem gesellschaftlichen Prozess der „Versöhnung“ zuzuarbeiten, der in Wahrheit nur jene sozialen Eliten in ihren Positionen bestätigte, die sich schon mit der Diktatur arrangiert hatten.
Das politisch verordnete Beschweigen der Vergangenheit sorgte dafür, dass sich zahllose Folterer, Mörder und Kindsentführer mühelos in die Gesellschaft des „neuen Argentiniens“ eingliedern konnten.
Militär und Polizeiapparat, die Hauptschuldigen der Verbrechen, blieben mehr oder weniger unverändert.
2003 erklärte dann der argentinische Nationalkongress das „Schlusspunktgesetz“ und das „Gesetz über den legitimen Gehorsam“ in einer spektakulären Entscheidung für nichtig.
Ein Jahr später bestätigte das Oberste Gericht die Verfassungswidrigkeit beider Gesetze. Seither wurden in Argentinien mehr als 100 Verfahren gegen ehemalige Folterer und Mörder angestrengt – ein bemerkenswerter Erfolg politischer und zivilgesellschaftlicher Menschenrechtsarbeit.
Allerdings beschränkt sich die juristische Verfolgung erneut auf die an den Verbrechen unmittelbar Beteiligten – auf die tatsächlichen Täter, deren Prozesse, wie etwa im Falle von Capitán Astiz, einem der übelsten und unbelehrbarsten Folterer der Junta, zu medialen Großereignissen wurden.
Das internationale Strafrecht ahndet bis heute die Schuld, nicht die Verantwortung.
Selbstverständlich müssen Menschen, die sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, verfolgt und vor Gericht gestellt werden. Aber es wäre zu überlegen, ob nicht auch jene, die gesellschaftliche Strukturen schufen, stabilisierten und legitimierten, in denen Mörder und Folterer ihr blutiges Handwerk ausüben konnten, die sie rekrutierten, finanzierten, belobigten oder aus ihrem Tun persönliche, politische oder finanzielle Vorteile zogen, national wie international ebenso hart zu bestrafen wären.
Hoffnungsvolle Entwicklungen des internationalen Rechts weisen in diese Richtung.
Denn Profiteure mörderischer Regime blieben bis heute, trotz der Urteile von Nürnberg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, von rechtlicher Verfolgung weitgehend unberührt.
Zur Verantwortung ziehen. Die Arbeit der Organisation H.I.J.O.S.
Interessanterweise wird die Anklage bislang nicht justiziabler Verantwortlichkeiten für Staatsverbrechen in Argentinien seit langem erhoben und hat auch praktische Konsequenzen – allerdings nicht vor den Gerichten.
Hauptdarstellerin dieser Entwicklung ist die Organisation H.I.J.O.S. Am 3. November 1994 organisierte eine Gruppe von AbsolventInnen der Fakultät für Architektur an der Universität La Plata eine Veranstaltung zu Ehren jener Fakultätsmitglieder, die während der Diktatur ermordet worden waren beziehungsweise „verschwanden“. Der Tag stand unter dem Motto: „Erinnerung, Gedächtnis und Engagement“.
In langwierigen und mühevollen Nachforschungen gelang es den OrganisatorInnen, Nachkommen und Familienangehörige der Geehrten zu finden und sie für eine Teilnahme zu gewinnen. Die so entstandenen Kontakte vertieften sich, bis im April 1995 H.I.J.O.S. entstand. Zum ersten landesweiten Treffen im Oktober kamen nach Angaben der Organisation bereits 350 TeilnemerInnen aus ganz Argentinien. Im April 1996 waren es 600. Heute hat H.I.J.O.S. Niederlassungen in allen argentinischen Provinzen, aber auch in Uruguay, Mexiko, Spanien, den Niederlanden, Frankreich und Schweden. H.I.J.O.S., spanisch für „Söhne“ (obwohl in diesem Fall wohl besser mit „Nachkommen“ übersetzt werden sollte), steht für Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio [‚Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit gegen das Vergessen und das Schweigen‘].
Die Organisation vervollständigt das Spektrum der argentinischen Menschenrechtsorganisationen, die sich wie eine zivilgesellschaftliche „Familie“ um die Leerstelle der Generation der „Verschwundenen“ gruppieren: Neben den bereits erwähnten Madres de la Plaza de Mayo gibt es die Abuelas de la Plaza de Mayo [‚Großmütter des Mai-Platzes‘], die in erster Linie nach Spuren ihrer geraubten Enkelkinder suchen, und eben H.I.J.O.S., die Organisation der unmittelbaren und mittelbaren Nachfahren.
Unter den drei Organisationen ist H.I.J.O.S. ohne Zweifel die radikalste. Mittlerweile in mehrere Flügel gespalten, präsentiert sich die Organisation unter dem Motto: „Wir vergessen nicht. Wir verzeihen nicht. Wir versöhnen uns nicht“.
Auf ihrer Homepage heißt es: „Wir sind nicht einverstanden mit jenen Gesetzen und Verordnungen, die die Mörder und Verantwortlichen für den Völkermord in Freiheit lassen, denn ein Land wird niemals Frieden finden, wenn nicht die Schuldigen bestraft und aller Welt gezeigt wird, dass Verschwindenlassen, Folter und Mord die schlimmsten Verbrechen sind, die man begehen kann. Wir wollen nicht, dass diese Mörder behandelt werden wie gewöhnliche Leute“.
Zu ihren Prinzipien – neun an der Zahl – gehört die unbedingte Unabhängigkeit von offiziellen Institutionen und Parteien. Entscheidungen werden im Konsens getroffen.
Offen steht die Organisation prinzipiell jeder Person, die sich auf ihre Statuen einlassen will.
Der Altersdurchschnitt ist auch heute noch bemerkenswert niedrig. H.I.J.O.S. ist mit Veranstaltungen über die Diktatur an Schulen präsent und für junge, städtische Engagierte attraktiv.
Erinnerung versteht die Organisation ausdrücklich als „eine Verpflichtung, sich sozial zu engagieren, die eigene Zukunft zu gestalten. […] Wir wollen keine abstrakte und bequeme Erinnerung, sondern eine aktive“.
In Buenos Aires teilt H.I.J.O.S. das Lokal mit der Gewerkschaft der Motorrad-Kuriere, der einzigen unabhängigen Gewerkschaft des Landes.
Bei der Einweihung des Lokals im Jahr 2000 gab Manu Chao ein unangekündigtes Konzert.
Es geht H.I.J.O.S. nicht allein um die Abrechnung mit ehemaligen Mördern, Verantwortlichen und Profiteuren der Diktatur. Sie wollen mit ihren Aktionen auch die solidarischen Strukturen – vor allem in den ärmeren Vierteln – wiederherstellen helfen, die der Terror der Militärs nachhaltig zerschlug.
In Argentinien, so der Romancier Tomás Eloy Martínez, seien damals eben nicht nur Menschen verschwunden, sondern auch Seen, Berge, Bahnhöfe, halb erbaute Städte… Schönheit, Hoffnung und Raum für ein erfülltes Leben.
Der Escrache
Die spektakulärsten Aktionen von H.I.J.O.S. jedoch, und jene, die auch international die größte Aufmerksamkeit erregt haben, sind die sogenannten Escraches. Escrachar, ein Wort aus dem Lunfardo, der Sprache der Einwanderer, der Hafenarbeiter von Buenos Aires, der niederen Schichten und des Tango, das zahlreiche Vokabeln europäischer Sprachen aufgenommen hat (in diesem Fall aus dem Italienischen) bedeutet „kenntlich machen“, „demaskieren“, „entlarven“.
„Die Straflosigkeit“, erklärt H.I.J.O.S., „hat dafür gesorgt, dass viele Mörder, Folterer und Komplizen frei herumlaufen.
Wir begegnen ihnen auf der Straße, sie sind unsere Nachbarn, und viele führen noch immer die Waffen, die wir ihnen bezahlen – zu unserem ‚Schutz‘. […] Mit dem Escrache wollen wir die Identität dieser Personen öffentlich machen.
Damit ihre Arbeitskollegen wissen, was für eine Rolle sie während der Diktatur gespielt haben; damit die Nachbarn wissen, dass neben ihnen ein Folterer wohnt; damit man sie in der Bäckerei erkennt, in der Bar oder im Supermarkt.
Wenn es schon keine Verurteilung gibt, so gibt es wenigstens eine soziale Strafe. Wir zeigen sie auf der Straße als das, was sie sind: Verbrecher. Damit sie keine öffentlichen Ämter bekleiden können.
Damit Politiker und Unternehmer (die ihre Vergangenheit für gewöhnlich kennen) sie hinauswerfen oder verurteilen müssen, um der Schande zu entgehen, vor aller Welt einzugestehen, dass sie Mörder beschäftigt haben – oder um keine Kunden oder Stimmen zu verlieren“.
Escraches, die sich mit bemerkenswerter Schnelligkeit organisieren lassen und ein weites Spektrum jugendkultureller und zivilgesellschaftlicher Gruppen mobilisieren können, machen Täter, aber auch Parteigänger und Profiteure der Verbrechen der Junta durch ein wildes, buntes, allerdings durchgängig gewaltfreies Spektakel vor ihrem Wohnsitz und/oder ihrer Arbeitsstelle öffentlich kenntlich.
Sie können sich ebenso sehr gegen zweifelsfrei identifizierte Mörder und Folterer richten wie gegen Geschäftsleute, die sich an den Morden der Junta bereicherten, Politiker, die unmenschliche Dekrete unterzeichneten oder Presseleute, die sich allzu eifrig an der lügenhaften Propaganda der Junta beteiligten und daran heute nur ungern erinnert werden wollen.
„Einer der ersten Escraches„, schreibt Estela Schindel in einem lesenwerten Beitrag über die Vergangenheitspolitik in Argentinien, „betraf einen Arzt, der in der ESMA [Technikschule des Militärs in Buenos Aires, heute Gedenkstätte; größtes der illegalen Haft- und Folterzentren mit zeitweise über 4000 Häftlingen, Anm. MB] Geburten von inhaftierten Schwangeren einleitete.
Während vier aufeinanderfolgender Freitage demonstrierten etwa 30 Personen vor dem Privathaus des Arztes und vor dem Krankenhaus, in dem er arbeitete und wiesen mit Transparenten auf seine Vergangenheit hin. Am vierten Freitag wurde der ehemalige Geburtshelfer entlassen und musste umziehen“.
Dieser Arzt, Jorge Magnaco, war von einer Überlebenden wiedererkannt worden, die nichtsahnend zur Behandlung ins Krankenhaus gegangen war und dort ihrem ehemaligen Peiniger wiederbegegnete.
Als sie ihre Entdeckung H.I.J.O.S. mitteilte, schritt die Organisation zur Tat. Der Erfolg ließ die Zahl der Escraches in den Folgejahren sprunghaft ansteigen – und das trotz zum Teil massiver Einschüchterungsversuche und Feindseligkeiten, die bis zu Folterungen und Mordversuchen an einzelnen Mitgliedern reichten, einer starken staatlichen Repression und einer fast durchgängig negativen Berichterstattung.
Praktisch alle zwei Wochen kam es irgendwo zu einem neuen Escrache vor dem Haus eines Folterers oder Profiteurs.
Der Ablauf der Aktionen ist relativ ähnlich: Für gewöhnlich zieht ein Demonstrationszug vor das Haus und/oder die Arbeitsstädte des Täters oder Verantwortlichen. Das Haus wird mit roter Farbe – dem Blut der Opfer – markiert oder auf andere Weise kenntlich gemacht.
Ist die „Demaskierung“ einmal vollzogen, verwandelt sich der Zug, fast wie bei einer Beerdigung in New Orleans, wo nach der Grablegung das Leben mit Musik und Tanz gefeiert wird, in einen wilden, fröhlichen Karneval.
Darin erschöpft sich die Ächtung der Täter allerdings nicht. Plakate mit dem Konterfei des Ecrachado werden überall im Viertel aufgehängt, Informationen über seine Taten sind frei verfügbar. Er kann praktisch keinen Schritt mehr tun, ohne überall über seine Vergangenheit zu stolpern. H.I.J.O.S. versucht gegenwärtig, die Frequenz der Escraches zu reduzieren, um jede Aktion intensiv mit dem sozialen Umfeld des Täters vorbereiten zu können.
Und sicherlich auch, um verheerende Fehler zu vermeiden (etwa die Ächtung eines Unschuldigen). Theater- und KünstlerInnengruppen beteiligen sich auf vielfältige Weise an den Aktionen. So entwarfen zum Beispiel bildende Künstler in Buenos Aires parodistische Straßenschilder, die den Weg zu den Heimen von Folterern oder illegalen Haftzentren weisen.
Nicht selten offenbaren die Escraches auf bedrückende Weise, wie dünn die Patina des vorderhand demokratischen Miteinanders in Argentinien tatsächlich ist.
Gewalttätige Übergriffe der Polizei und fadenscheinige Anklageerhebungen sind keine Seltenheit.
Besonders pikant war der Fall eines Escrache, bei dem TeilnehmerInnen verhaftet und angeklagt wurden, weil sie das „Recht auf Privatbesitz“ verletzt hätten, als sie in den Garten eines ehemaligen Militärs eindrangen.
Das Haus gehörte diesem jedoch eigentlich gar nicht. Er hatte es sich während der Diktatur illegal angeeignet.
Die ursprünglichen BesitzerInnen waren „Verschwundene“. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass das leibliche Kind der Ermordeten während des Escrache im gestohlenen Garten seiner Eltern stand – um dann mit einer Anklage wegen „Verletzung von Privatbesitz“ vor Gericht gestellt zu werden.
Ein Blick in die Zukunft?
Insbesondere die Ausweitung der Escraches auf führende Politiker und Wirtschaftsunternehmer dürfte dazu beigetragen haben, dass H.I.J.O.S. in Argentinien nahezu durchgängig in den Medien als „Chaotentruppe“ und „Störer der öffentlichen Ordnung“ beschimpft wird.
Die Angst, der materielle Status Quo könnte durch derlei Aktionen langfristig gefährdet und die Elitensolidarität ein weiteres Mal aufgekündigt werden, ist mit Händen zu greifen.
Dabei sind die Escraches, so Schindel, mittlerweile fast so etwas wie ein eigenständiges Kulturphänomen geworden, eine Mischung aus Karneval, Straßenfest, Happening, Musik, Kunst und Protest mit einer eigenen Formensprache.
„Die letzte Erneuerung, der so genannte Escrache móvil, besteht aus einer bunten Karawane, die auf Motorrädern, Fahrrädern und Lastwagen über mehrere Stunden hinweg an verschiedenen Wohnhäusern von ehemaligen Militärs vorbeifährt.“
Die gewaltfreie Aktionsform des Escrache hat auch außerhalb Argentiniens und sogar in Europa NachahmerInnen gefunden.
Allerdings hat diese Nachahmung mitunter zu einer Verwässerung des ursprünglichen Konzepts geführt.
Verzaubert von einem gewissen radikalen Schick und der Möglichkeit, endlich etwas tun zu können, verkamen manche Escraches zu einem linken Denunziantenkarneval, bei dem man einfach jedem rote Farbe an die Mauer spritzen konnte, der einem nicht gefiel.
Dabei gehörte – und gehört – zu den unbedingten Stärken der Escraches in Argentinien, dass sie die Rückbindung an die Menschen aus den Vierteln suchen, diese in die Planung mit einbeziehen und deren Einverständnis bei der sozialen Ächtung der Betreffenden unbedingt nötig ist.
Ohne diesen Rückhalt und ein soziales Klima, das die Kennzeichnung von Tätern und Verantwortlichen von schwersten Verbrechen angesichts fortgesetzter Straflosigkeit grundsätzlich gutheißt, wären die Escrachen nichts weiter als ein Radikalen-Rummel und würden sich über kurz oder lang selbst ins politische Abseits stellen.
Auch die Neigung von H.I.J.O.S., sämtliche Opfer der Diktatur pauschal als „Widerstandskämpfer“ anzusehen, deren politisches Erbe es – wenn auch, so wird betont, „kritisch“ – wiederzuerwecken gelte, ist im Kontext der argentinischen Vergangenheitspolitik zwar verständlich, aber diskussionsbedürftig. Denn beileibe nicht alle Opfer der Diktatur hätten sich über eine solche Etikettierung gefreut.
Gleichviel, sind die Escraches in Argentinien weit mehr als „nur“ ein buntes, fröhliches Politspektakel. Sie sind, letztlich ein Akt gewaltfreier, zivilgesellschaftlicher Rechtsfindung.
H.I.J.O.S. geht das Wagnis ein, strafwürdige, aber (noch) nicht justiziable Vergehen gegen die Menschenrechte zu definieren, zu belegen und unabhängig von der bestehenden Rechtsordnung auf eine Weise zu bestrafen, die politisch produktiv ist, da sie moralische Werte festigt und verteidigt.
Die Escraches haben mitunter massiven Druck auf die politische Nomenklatura ausgeübt und könnten vielleicht langfristig ihren Anteil daran haben, dass bei neuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Zukunft nicht mehr nur die Täter vor Gericht stehen werden, sondern auch jene, die aus ihren Morden skrupellos Nutzen zu ziehen verstanden.