Der Soziologe Luz Kerkeling (geboren 1972) arbeitet als freier Journalist, als Referent in der Erwachsenenbildung und als Filmemacher (1). Nachdem der Aktivist der zapatistischen Gruppe B.A.S.T.A. Anfang April 2012 von einer mehrmonatigen Mexiko-Reise zurückkam, interviewten ihn Bernd Drücke, Redakteur der Graswurzelrevolution, und GWR-Praktikantin Monika. (GWR-Red.)
Monika: Was ist Zapatismus? Was verstehst Du darunter? Was sollten wir darunter verstehen?
Luz: Die Bewegung der Zapatistas lehnt sich an den Namen von Emiliano Zapata [1879 – 1919] an. Zapata war ein bäuerlich-indigener Revolutionär in der Mexikanischen Revolution. Die begann 1910, als oppositionelle Gruppen damit anfingen, den Diktator Porfirio Díaz zu stürzen. Der Aufstand gegen Díaz war der Beginn von Kämpfen, die große Teile Mexikos bis in die 1920er Jahre erfassten. Dabei wurde zum Teil auch eine echte soziale Revolution verwirklicht. Tragend für die sozialrevolutionäre Seite der Revolution war vor allem die zapatistische Bewegung, die sich auch auf die Ideen der anarchistischen Magonistas stützte, die unter der Parole Tierra y Libertad („Land und Freiheit“) einen indigenen Kollektivismus und libertären Sozialismus propagierten.
Zapata hat maßgeblich zum Sturz der damaligen Diktatur beigetragen. Er hat mit seinen Leuten für eine dörfliche Selbstverwaltung gekämpft. Es gab da auch viele Frauen, die gekämpft haben. Es ging Zapata nie darum, die zentrale Macht von Mexiko zu übernehmen, sondern darum, die Gesellschaft auf den Kopf zu stellen, eine Basisdemokratie aufzubauen. Die Leute sollten dort, wo sie leben, bestimmen und über ihr eigenes Schicksal entscheiden können.
Seinen Namen haben die Neozapatistas als Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) aufgegriffen, um an diese Tradition anzuknüpfen. Sie haben 1994 in Chiapas, im Südosten Mexikos, einen bewaffneten Aufstand gemacht, unter dem Motto „Ya Basta! Land und Freiheit“.
Das war eine interessante Zeit. Bei vielen Menschen herrschte nach dem Fall der Mauer und dem Niedergang des „Realsozialismus“ die Stimmung, dass der Kapitalismus sich durchgesetzt habe. Es wurde ein „Ende der Geschichte“ behauptet, der Kapitalismus sei die einzig mögliche Wirtschafts- und Gesellschaftsform.
Genau in diesem Moment sagten die Zapatistas sinngemäß: „Es reicht uns! Das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Wir wollen etwas ganz anderes: Eine Gesellschaft ohne kapitalistische Ausbeutung, Rassismus und patriarchale Unterdrückung.“
Die Zapatistas haben es geschafft, dass viele Großgrundbesitzer sich verkrümelt haben. Sie selbst sagen nicht, „wir haben die Ländereien besetzt“, sondern „wir haben sie uns wieder angeeignet“ und haben sie an Tausende Familien verteilt. Jetzt können die Leute besser leben als zuvor. Sie haben also nicht nur politisch gekämpft, sondern auch die materiellen Bedingungen der Menschen verbessert.
Bernd: Die Zapatistas kämpfen seit 1994 im Grunde weitgehend gewaltfrei. Die EZLN setzt seitdem keine Waffen mehr ein. Kannst Du beschreiben, wie sich das entwickelt hat? Wie ist die internationale Bewegung entstanden ist? Was war die Motivation eine zapatistische Gruppe ins Leben zu rufen?
Luz: Kurz vorab zu meinen Einschätzungen: Ich kann und will keineswegs für die Zapatistas sprechen. Sie sprechen für sich selbst und alle Leute, die es interessiert, können ihre Erklärungen leicht finden, in diversen Sprachen. Meine Aussagen beruhen zwar auf langjährigen Erfahrungen vor Ort, aber wir müssen uns dabei immer unserer privilegierten Position als weiße Menschen aus Europa, vor allem ich als Mann, bewusst sein – und diese Aspekte permanent hinterfragen. Zurück zur Bewegung: Sie ist sehr heterogen. Sie ist entstanden aus urbanen Linken in den Städten und aus den Traditionen der indigenen Kämpfe vor Ort. Außerdem gab es einen gewissen Einfluss der katholischen Basiskirche, also die Strömungen der Befreiungstheologie. Und natürlich gab es noch die Kämpfe der Frauen. Diese Mischung hat dazu geführt, dass sie Abstand genommen haben von einem avantgardistischen Konzept. Weite Teile der engagierten Zivilbevölkerung Mexikos haben 1994 gesagt: „Eure Forderungen sind legitim, aber wenn ihr weiter bewaffnet kämpft, werdet ihr niedergerungen und ermordet“.
Darauf haben die Zapatistas gesagt: „Wir gehorchen der Bevölkerung, der Gesellschaft“ und beschlossen, dass sie ihre Waffen bis auf Weiteres nicht mehr benutzen.
Besonders interessant war auch die historische Situation, denn es schien so, als hätte sich ohne nennenswerte Widerstände global der Kapitalismus durchgesetzt, auch ideologisch. Die Zapatistas haben gesagt, die politischen und ökonomischen Eliten seien längst gut vernetzt und wir müssten uns als Linke von unten neu vernetzen. Aus diesem Kontext ist dann ein Netzwerk entstanden, nach dem Motto „wir müssen eine Internationale der Hoffnung bilden“. Es war nicht marxistisch, leninistisch, maoistisch orthodox, sondern ein buntes Gewebe von Leuten, die zusammen gekommen sind. Essenziell war das Intergalaktische Treffen gegen Neoliberalismus und für die Menschheit 1996, das im Aufstandsgebiet der Zapatistas stattfand.
Da sind Tausende in ein Aufstandsgebiet gereist, wurden von der mexikanischen Armee kontrolliert, aber weil die Sympathie so groß war, mussten die Leute durchgelassen werden. Da haben Menschen miteinander gesprochen, die das sonst wahrscheinlich nie getan hätten. Das gilt als einer der Gründungsmythen der globalisierungskritischen Bewegung.
Bernd: Du warst gerade wieder mehrere Monate in Mexiko, hast Mexiko oft bereist und dort gute Kontakte. Wie sind Deine Eindrücke von der Entwicklung der zapatistischen Bewegung? Wie sieht es konkret in den zapatistischen Gemeinden aus?
Luz: Mexiko ist ein extrem vielfältiges Land. Es gibt große Unterschiede im Alltagsleben. Wir hören ja im Moment hauptsächlich etwas vom Drogenkrieg. Das ist berechtigt, weil sich dieser Aspekt des aggressiven militaristischen Kapitalismus einerseits wegen der krisenhaften Situation in Mexiko so breit machen konnte und andererseits aufgrund von außenpolitischen Aspekten. Die USA, wo weltweit am meisten Drogen nachgefragt werden, haben Kolumbien mit einem Krieg überzogen.
Daraufhin sind viele Drogenkartelle ausgewichen und werden durch die mexikanischen Narcos vertreten.
Aber: Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die autonomen Gebiete der Zapatistas, wo der Staat im Prinzip nicht anwesend ist, zu den sichersten Dörfern im ganzen Land gehören.
Dazu kommt noch, dass die zapatistischen Frauen – auch gegen den Widerstand ihrer eigenen Genossen – ein Alkohol- und Drogenverbot durchsetzen konnten. Das hat die Gewalt in ihren Gemeinden stark reduziert.
Sie sind immer noch eine diszipliniert organisierte Bewegung. Das führt dazu, dass die Situation meist eigentlich „tranquilo“, ruhig ist.
Es handelt sich um eine Massenbewegung, die es geschafft hat, Fortschritte im Bereich Gesundheit, Bildung und Frauenbeteiligung zu erreichen, allen internen Widersprüchen und autoritären Ausfällen der zapatistischen Armee zum Trotz.
Auch als Soziologe ist es für mich fast ein Wunder, dass die Bewegung überhaupt noch existiert: Ob der militärischen Umzingelung, ob des ganzen Geldes, mit dem die Menschen auch immer wieder korrumpiert werden und aus der Bewegung rausgekauft werden sollen. Leider geht die Gewalt gegen einige zapatistische und andere oppositionelle Gemeinden weiter, der Staat ist nach Beobachtungen der Zapatistas eindeutig involviert und unabhängige Menschenrechtsorganisationen erheben weiterhin schwere Vorwürfe gegen alle Regierungsebenen
Bernd: Du hast ein Standardwerk zum Thema Zapatismus geschrieben: „La Lucha Sigue! [Der Kampf geht weiter!], das 2006 in zweiter Auflage im Unrast Verlag erschienen ist. Momentan schreibst Du an einer Doktorarbeit zum Thema. Was würdest Du sagen, was der Zapatismus seit 1994 für die Bevölkerung und besonders auch für die Frauen gebracht hat?
Luz: Ich glaube, das Wichtigste ist, dass die zapatistische Bewegung eine Alltäglichkeit des Widerstandes partizipativ produziert. Die Jugendlichen und auch die Frauen werden stark in die Organisation einbezogen.
Es gibt eine dörfliche Selbstverwaltung. Mehrere Dörfer schließen sich in autonomen Landkreisen zusammen. Diese schließen sich wiederum in einer Zone zusammen. Von diesen Zonen gibt es fünf. Dort gibt es jeweils einen „Rat der guten Regierung“ – so nennen sie das in Abgrenzung zur offiziellen, schlechten Regierung. Da werden dann Bauern und Bäuerinnen eingesetzt. Da geht es nicht um Kader oder Politkommissare, sondern es sind wirklich die Leute die da arbeiten, die dann auch in der Regel nach einer Woche wieder zurück auf ihr Feld gehen. Das führt dazu, dass erfolgreich vermieden wird, eine neue politische Klasse zu etablieren. Es sollen möglichst viele Menschen lernen, die Selbstverwaltung auszuüben.
Das geht auf indigene Traditionen zurück, auch auf verschiedene linke Strömungen, nicht zuletzt auf die anarchistischen Strömungen um die Brüder Flores Magón.
Die Situation der Frauen ist interessant. Es ist ja nicht nur in Deutschland so, dass wir unter einem Patriarchat leiden, und natürlich besonders die Frauen, sondern in Mexiko ist es noch einmal heftiger. In den indigenen Gemeinden gibt es stark verwurzelte autoritäre Traditionen. Aber die zapatistischen Frauen konnten ein revolutionäres Frauengesetz durchsetzen, was sich in unseren westlich-urbanen Ohren vielleicht ein bisschen „reformistisch“ anhört, weil es geht darum; wir haben die gleichen Pflichten und die gleichen Rechte, aber die Frauen wurden zuvor in aller Regel zwangsverheiratet!
Die Zapatistinnen halten es für revolutionär und ihr Wort zählt, sie kennen ihre Realität. Interessant ist, dass in der EZLN von mehr Gender-Gerechtigkeit gesprochen werden kann. Männer müssen genauso reproduktive Arbeit leisten, Scheidungen und Verhütung sind anders als in vielen Dörfern kein Tabu, es gibt auch mehr Bildung, aber es ist nichts Romantisches, wie uns immer gesagt wurde, sondern ein hartes Leben im Untergrund.
Und wenn wir uns alle an die eigene Nase fassen: Wie lange hat es gedauert, hier ein bisschen in Richtung Geschlechtergerechtigkeit vorwärts zu kommen?!
Monika: Du hast erzählt, dass die Zapatistas am Anfang bewaffnet gekämpft haben. Glaubst Du, dass sie die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auch erlangt hätten, wenn sie von vornherein unbewaffnet gekämpft hätten?
Luz: Ich glaube, dass das schon ein Faktor war, dass sie den mexikanischen Staat herausgefordert haben. Wir müssen uns aber klar machen, dass Chiapas bis heute quasi ein feudalistischer Bundesstaat ist. Also, es gibt Großgrundbesitzer – auch deutscher Abstammung – und die hatten die Leute völlig unterworfen. Es gab so ekelhafte Sachen, wie das „Recht der ersten Nacht“, d.h., bevor die jungen Frauen geheiratet haben, hatte der Großgrundbesitzer de facto das Recht, sie zu vergewaltigen. Das sind Gründe, die verständlich machen, warum die Leute gesagt haben: „Das reicht uns! Wir können das nicht nur mit Slogans machen, sondern wir müssen die Leute wirklich enteignen und entmachten.“ Den Zapatistas ist es weitgehend ohne Blutvergießen gelungen, die Großgrundbesitzer zu verjagen und ihre Macht teilweise zu brechen. Gleichwohl wurden die Großgrundbesitzer von ihren Klassenbrüdern, also von der politischen Elite, reich entlohnt. Die haben in der Regel riesige Abfindungen bekommen und dann irgendwo anders ihre neuen Geschäfte gegründet. Also, da muss man niemanden bedauern von den Großgrundbesitzern.
Ich glaube, man kann das mit den Waffen nicht wegkriegen, so sympathisch das ist, dass sie jetzt nicht mehr bewaffnet kämpfen. Aber ich glaube, 1994, bei dieser Aggressivität der Regierung, war friedlicher Protest schwer. Es gab keine Öffentlichkeit, die sich empört hat und keinen funktionierenden Rechtsstaat.
Monika: Dann war das quasi Selbstverteidigung?
Luz: Ja. Es ging nicht um einen Eroberungskrieg, sondern es war Selbstverteidigung.
Bernd: Die GWR ist ja eine gewaltfrei-libertäre Zeitung. Du hast in der GWR auch schon über „Die Bienen“ geschrieben, eine gewaltfreie Bewegung in Mexiko. Könntest Du dazu etwas erzählen?
Luz: „Las Abejas“, auf deutsch „die Bienen“, sind aktiv in sechs Landkreisen in 29 Gemeinden. Sie teilen die Forderungen der Zapatistas nach dörflicher Selbstverwaltung, was auch die Selbstbestimmung über die Ressourcenausbeutung und über sogenannte Entwicklungsprojekte bedeutet. Und sie sind sehr erfolgreich. Sie kommen vorwärts, sind jetzt wie die Zapatistas dabei, eigene Bildungs- und Gesundheitssysteme aufzubauen, haben ein Radio, eine Internetseite,… All das war früher undenkbar. Sie wurden ausgegrenzt vom mexikanischen Staat. Das ist jetzt also eine ziemliche Erfolgsgeschichte. Sie arbeiten Schulter an Schulter mit den Zapatistas. In der Hauptgemeinde in Actéal wohnen sie auch mit Unterstützerinnen und Unterstützern der EZLN zusammen.
Bernd: Du schreibst auch für die Zeitung „Tierra Y Libertad (Land und Freiheit) – Nachrichten aus Mexiko und mehr. In der aktuellen Nr. 71 geht es um Biopiraterie, um das Thema „Finger weg von unseren Pflanzen“. Kannst Du dazu etwas erzählen?
Luz: Chiapas ist ein extrem ressourcenreicher Bundesstaat: Es gibt Süßwasser, Öl, Gas und neben Bodenschätzen wie Goldvorkommen oder Uran, vor allem die biologische Vielfalt.
Da gibt es von verschiedenster Seite großes Interesse das zu kontrollieren, von mexikanischen Eliten und Konzernen aber auch aus Kanada, den USA, Europa, Asien, China, und jetzt auch aus Brasilien, um an den Lakandonischen Regenwald ranzukommen, der auch durch die Erklärungen der EZLN bekannt ist. Das Problem bei der Biopiraterie ist ja, dass Konzerne Allgemeingut privatisieren wollen, weil sie minimale Änderungen an bestimmten Pflanzen vornehmen wollen und dann meinen, sie gehören ihnen. Das würde dazu führen, dass die Menschen das bezahlen müssen, was ihre Vorfahren entwickelt haben.
Kleinbäuerliche Gesellschaften kommen größtenteils ohne Geld aus, d.h., sie können eine Autonomie realisieren, die wir uns in Deutschland kaum vorstellen können. Sie sind zu 80% autonom. Wenn sie ihr Saatgut und ihr Wissen über Heilpflanzen austauschen, dann ist es möglich, auf eigene Faust vorwärts zu kommen, nicht korrupt werden zu müssen, sich nicht an den Machtspielchen zu beteiligen. Die Forderung „Finger weg von unserem Saatgut!“ ist legitim und wird auch von der Bevölkerung getragen. Sie ernähren sich ja täglich von ihrem Mais, ihren Bohnen, ihren Kürbissen etc. Das ist eine 8.000 Jahre alte Kultur, die sogenannte Milpa, also das Feld zur Selbstversorgung. Da wachsen Mais, Bohnen, Chili, Tomate, Reis, Gewürze und andere Sorten. Es gibt einen UNO-Bericht, der besagt, dass es die beste Form ist, das Land zu bewirtschaften. Die Bohnen wachsen an dem getrockneten Mais heran und die Pflanzen geben sich gegenseitig Nährstoffe.
Das ist nicht zu romantisieren, es gibt auch Brandrodung usf. Aber die Milpa zur Selbstversorgung ist etwas ganz anderes, als den Regenwald zu roden, um dort Rinder zu züchten.
Monika: Also geht es in dem Kontext auch um Genmanipulation?
Luz: Ja, indirekt schon. Natürlich geht es Konzernen wie Bayer oder Monsanto darum, Saatgut und Pestizide zu vermarkten. Und es gibt ja das sogenannte Terminator-Gen, das in genmanipulierte Sorten eingebaut wird, und dafür sorgt, dass der Maiskolben nicht mehr als Saatgut taugt. Das ist ein Problem bei einer Kultur, die sich selber reproduziert, relativ vorbei am kapitalistischen Markt. Sie haben interne, kleine Märkte und tauschen ihre Produkte aus. Aber das ist etwas anderes als der aggressive agroindustrielle Markt.
Bernd: Während Deines Aufenthalts in Mexiko habt ihr einen Film gedreht (2). Kannst du dazu etwas sagen?
Luz: Wir stellen einen Film fertig, der heißt „Wenn das Land zur Ware wird“. Da geht es darum, dass die kleinbäuerlich indigenen Ländereien von der Selbstversorgungswirtschaft zwangskonvertiert werden zu Monokulturen und zu touristischen Großprojekten. Das ist eine existentielle Bedrohung für die Menschen.
Was von der Regierung von Chiapas gepusht wird, sind die Monokulturen von Ölpalmen, hauptsächlich zur Herstellung von Fetten, die in der Nahrungsmittelindustrie verwendet werden. Langfristig wird auch die Herstellung von Biotreibstoffen angestrebt.
Das dritte Thema des Films sind die „nachhaltigen Landstädte“. Es gibt ein Programm der Regierung von Chiapas mit großer Unterstützung der mexikanischen Bundesregierung, die Leute umzusiedeln. In Chiapas existieren 14.000 Siedlungen mit weniger als 100 Menschen. Die Regierung sagt, „Der Grund für die Armut ist die Verstreuung dieser kleinen Gemeinden, denn wir können unmöglich in 14.000 Gemeinden Wasser und Strom legen“. Das klingt zunächst plausibel, aber es ist eine alte Taktik aus dem Kolonialismus. Das haben die Deutschen in Kamerun gemacht, die Franzosen in Algerien, Franco hat es innerhalb von Spanien gemacht, mit den anarchistischen und kommunistischen Dörfern.
Es ist ein Mittel zur totalen Kontrolle der Bevölkerung. Es geht um politische Kontrolle und um Freisetzung der Ländereien. Ich habe gerade die UNO positiv zitiert, jetzt zitiere ich sie negativ: Es geben sich einige Beraterinnen und Berater dafür her, zu sagen: „Diese neuen Landstädte, diese Zwangsumsiedlung von Kleindörfern in eine neue ländliche Stadt, würde die acht Milleniumsziele für nachhaltige Entwicklung erfüllen“.
Es ist übel. Als im September 2009 die erste Landstadt in Chiapas eingeweiht wurde, wurden 65 Botschafter aus Mexiko-Stadt herangekarrt, in ein Kuhkaff nach Chiapas, um ihr zu applaudieren. Damit auch das Fernsehen etwas zum Berichten hat. Erfreulicher Weise haben die sozialen Bewegungen früh die Bedeutung dieses Programms erkannt. Es gilt mittlerweile als mehr oder minder gescheitert. Das ist schön. Ich bin da nicht objektiv. Ich finde, es ist eine Zumutung für die Menschen. Es wird ihnen einfach ihre Lebensweise unmöglich gemacht. Sie werden zwangsumgesiedelt, sie werden konvertiert von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in ein neues Proletariat.
Dann gibt es da die sogenannten Maquiladoras, wo sie in Billiglohnfabriken schuften müssen. Das ist ein aggressives Programm. Zum Glück hat sich das wohl mittlerweile so herum gesprochen, dass das wohl scheitern wird.
Diese drei Themen: Ölpalmenmonokulturen, die großen Tourismusprojekte, die auch Probleme mit sich bringen, weil es auch um Landraub geht, und die Landstädte sind die Themen des Films. Wir machen ihn auf deutsch und spanisch, damit er in den Gemeinden verteilt werden kann. Uns ist immer wieder gesagt worden, dass diese Filme etwas bringen. Die Leute haben in ihren Dörfern kein Internet, aber irgendeine Familie hat immer einen DVD-Player und wenn dann ein Film kommt, dann ist das auch immer ein kleines Event für das Dorf.
Es ist ein Privileg, das wir in all den Jahren erlebt haben, diese Widerstandsprozesse auch ein bisschen unterstützen zu können.
Bernd: In der GWR 221 ist 1997 ein Artikel unter dem Titel „Ist der Zapatismus ein Anarchismus?“ erschienen. Wie würdest Du diese Frage beantworten?
Luz: Ich würde sagen, der Zapatismus ist kein Anarchismus, hat aber viele libertäre Elemente. Die zapatistische Befreiungsarmee EZLN ist nichts demokratisches, wobei sie auch sagen, wir haben uns gegründet, um zu verschwinden. Aber vor allem die Alltagsselbstorganisation hat für mich klare libertäre Züge. Ein wichtiges Motto der Bewegung ist: „mandar obedeciendo“, also das „gehorchende Befehlen“. Das heißt, dass die Leute, die ein Amt haben, nur da sind, um ihren Job zu machen. Es gibt keine große Idee von Funktionärstum. Funktionsträgerinnen oder -träger können jeder Zeit ersetzt werden. Das haben wir auch schon erlebt, als ein älterer Mann, der sich während des Aufstandes seine Lorbeeren verdient hat, später als Präsident eines autonomen Landkreises ein Auto von der staatlichen Stromkommission angenommen hat. Er wurde dann wegen Korruption abgesägt.
Du musst nicht ideologisiert sein, um beim Zapatismus mitarbeiten zu können, sondern es ist etwas alltägliches, was mit deinen Bedürfnissen im Alltag zu tun hat. Dieses Prinzip des „gehorchenden Befehlens“ sorgt dafür, dass die Leute keine politischen Kampagnen machen und sagen „ich möchte den Job haben“, „ich möchte der und der Funktionär sein“, sondern es läuft eher so, dass die Gemeinde vorschlägt, „mach du doch diesen Job“.
Das ist etwas ganz anderes, als unser Verständnis vom professionalisierten Politikmachen.
Das ist ein Ergebnis auch von Analysen von anderen sozialen Bewegungen aus Lateinamerika. Sie sagen „fragend gehen wir voran“, sie haben keine „Mao-Bibel“, die alle befolgen, lesen und auswendig lernen müssen und dann wird die Menschheit glückselig, sondern: „wir machen Fehler“. Da schließt sich der Kreis, da können wir viel von lernen, auch für die Politik hier.
Bernd: Du wolltest etwas erzählen vom „Rebellischen Zusammentreffen“ und zur Organisierung der zapatistischen Solidaritätsbewegungen international?
Luz: Es ist nicht mehr so laut um die Zapatistas, der berühmte Subcomandante Marcos schreibt nicht mehr so viel, aber die Bewegung ist Realität. Die Solidaritätsbewegung ist da, wenn sie vielleicht auch quantitativ kleiner geworden ist. Wir als Ya-Basta-Netz (3), ein Netzwerk im deutschsprachigen Raum, sind auch vernetzt mit anderen Gruppen in Europa, aus den USA, aus Südamerika. Wir machen seit zwei Jahren ein sogenanntes rebellisches Zusammentreffen. Das ist ein offenes Treffen. Da geht es nicht nur um die „Antis“, akademische oder szenefixierte Kritik an den herrschenden Zuständen, an Kapitalismus, Militarismus, Patriarchat und Umweltzerstörung, sondern auch um den Aufbau von Alternativen. Was gibt es schon für Projekte? Und es gibt absichtlich viele Pausen bei diesen Treffen, weil es immer die Pausen sind, wo die Leute sich wirklich kennen lernen.
Es ist ein Versuch, zur unabhängigen Organisierung von links unten beizutragen in einer antikapitalistischen und antisystemischen Perspektive. Wir glauben nicht, dass es durch die Parteien machbar ist, sondern, dass es durch die Leute in einem ständigen Reflexionsprozess passieren muss. Das nächste Treffen findet vom 25. Juli bis 1. August 2012 im Wendland statt, einer Region, wo es spektrenübergreifenden sozialen Widerstand von unten gibt, mit beachtlichen Teilerfolgen.
(1) Bücher von Luz Kerkeling: La Lucha Sigue! - Der Kampf geht weiter! Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands, 2. erw. Aufl., Unrast, Münster 2006; Hg. mit Bernd Drücke und Martin Baxmeyer: Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Gespräche, Verlag Edition AV, Frankfurt/M. 2004; mit Findus: Kleine Geschichte des Zapatismus. Ein schwarz-roter Leitfaden, Unrast, Münster 2011
Der vom alternativen Bildungs-, und Forschungs-Verein "Zwischenzeit e.V." herausgegebene Film kann online bestellt werden unter www.zwischenzeit-muenster.de
Anmerkungen
Das Gespräch wurde im April 2012 im Studio des Medienforum Münster geführt. Eine Aufzeichnung ist auch als Radio Graswurzelrevolution-Sendung auf www.freie-radios.net dokumentiert.