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Ich habe nicht angezeigt, weil…

| Maria

Fünf Frauen der Arbeitsgruppe Kofra (1) in München haben sich daran gemacht, eine bemerkenswerte bundesweite Aktion aufzuziehen. Viel Arbeit, Engagement und viele Emotionen stecken darin, was sie seit Anfang Mai 2012 mit der Unterstützung einiger Sympathisantinnen versuchen, voranzutreiben.

#ichhabenichtangezeigt….

In Anlehnung an französische, italienische und englische Aktivistinnen haben sich die Fünf entschlossen, vergewaltigten Frauen und Männern eine Plattform zu bieten, auf der sie sich äußern können.

Damit sie nicht länger im Verborgenen bleiben, damit sie nicht weiterhin „die Dunkelziffer“ sind, nur weil sie, aus welchen Gründen auch immer, den Vergewaltiger, in manchen Fällen auch die Vergewaltigerin, nicht angezeigt haben und damit in der Statistik der beurkundeten Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen nicht auftauchen.

Jede einzelne Vergewaltigung, jeder sexuelle Übergriff ist eine persönliche Katastrophe und ein Übergriff zuviel.

Es ist wichtig aufzuzeigen, wie groß die Anzahl an Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen in Wirklichkeit ist, um das vorherrschende, die Realität verharmlosende Bild von einzelnen Geschehnissen aufzubrechen.

#ichhabnichtangezeigt, weil ich damals ein Kind war und ich sexuellen Missbrauch noch nicht verstanden habe. Weil es mein ältester Bruder war, der daraus ein Spiel machte („das bleibt ein Geheimnis, das erzählen wir nicht den anderen Brüdern oder den Eltern“).

#ichhabnichtangezeigt, weil ich damals der Meinung war, dass es meine Schuld war

Noch immer wird der Fokus hauptsächlich auf den bösen Unbekannten und den der Sicherungsverwahrung entgangenen Straftäter gerichtet, was schon mehrere Male bis zu Demonstrationen vor der Wohnung eines nach Verbüßung seiner Strafe entlassenen Sexualstraftäters führte, wo die aufgebrachte Menge kurz vor der Lynchjustiz stand.

Wie viele in diesem, nicht selten von neofaschistischen Kräften aufgestachelten Mob, selbst vergewaltigende Väter, Brüder oder Partner sind, die, möglicherweise ohne jedes Schuldbewusstsein, regelmäßig mit Gewalt „ihre Rechte“ einfordern, wird ein Geheimnis bleiben müssen.

Die naheliegende und viel größere Gefahr innerhalb von Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis bleibt durch dieses öffentlich immer noch gerne aufrecht erhaltene Bild des unbekannten „Triebtäters“, der Frauen, die sich nachts allein auf dunklen Straßen bewegen, „bestraft“, in den Hintergrund gerückt und wird verharmlost.

Dies trägt dazu bei, dass die innerfamiliären oder im Freundeskreis auftretenden Übergriffe weiterhin oft nicht rechtzeitig als solche erkannt werden und dadurch den „Opfern“ die Möglichkeit, sich zu schützen, verwehrt wird.

#ichhabenichtangezeigt, weil ich glaubte, selbst Schuld zu sein, weil ich ein Kind war, weil es mein Freund war, weil ich Angst hatte, weil es mein Vater/Bruder/Cousin war und ich meine Familie nicht verlieren wollte

– dies sind die häufigsten Begründungen für die Nichtanzeige, die auf der Internetseite http://ichhabnichtangezeigt.wordpress.com/ auftauchen.

Dabei geht es im Grunde gar nicht in erster Linie darum, warum nicht angezeigt wurde. Dafür hat jede und jeder einen anderen, ihren oder seinen eigenen Grund.

Es bedarf keiner Erklärung und keiner Rechtfertigung, woher dieser Grund stammt, warum der Täter/die Täterin nicht der Justiz überantwortet wurde. Aber es existiert bisher keine andere Möglichkeit, öffentlich und schwarz auf weiß festzuhalten, wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene zum Opfer von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen werden, außerhalb der Möglichkeit einer Anzeige.

Hier liegt der große Verdienst dieser Kampagne, die zunächst auf einen Monat begrenzt war und nun erst einmal bis Mitte Juni verlängert worden ist: Schwarz auf weiß äußerten und äußern sich zahlreiche „Opfer“ von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen und zeichnen so ein erschreckendes, manchmal fast erschlagendes Bild des Ausmaßes dieses gesellschaftlichen Missstandes.

#ichhabnichtangezeigt… weil ich meinen Halbbrüdern nicht ihren Vater nehmen wollte. ich hatte ja schon keinen…

Für ein Kind gibt es keine schlimmere Bedrohung als den Verlust seiner Bezugspersonen.

Aber auch Jugendliche und Erwachsene haben sich zumeist das gesellschaftlich immer noch hoch gehaltene und fest zementierte Bild der heilen/heiligen Familie, bestehend aus Vater-Mutter-Kind, als unumstößlichen Wert zu eigen gemacht. „Blut ist dicker als Wasser“, „Am Ende bleibt ja doch immer nur die Familie, auf die man zählen kann“ – solche Sprüche begleiten unser Leben auch heute noch von Beginn an und lassen so nur die Wenigsten erkennen, und noch Wenigere, selbst im Erwachsenenalter, den Mut fassen, für sich zu akzeptieren, dass keine Familie besser ist als eine schlechte Familie und dass Familie auch ein selbst ausgewählter Zusammenhang sein kann, wenn dieser besser funktioniert, als das Konstrukt, in das jemand hineingeboren wurde.

#ichhabenichtangezeigt, weil…

Den Initiatorinnen geht es in erster Linie darum, bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten ein Klima zu schaffen, das es vergewaltigten Frauen und Männern einfacher macht als bisher, sich zu einer Anzeige zu entschließen, weil ihnen mehr geglaubt wird und sie bessere Hilfestellung erhalten sollen, als dies bisher der Fall ist.

Was wir wollen:

Unser Ziel ist es, die Missstände in unserer Gesellschaft aufzuzeigen, damit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den entsprechenden Institutionen sexualisierte Gewalt mit der Aufmerksamkeit behandelt wird, die denjenigen, die sie erlebt haben, zusteht. Damit es künftig leichter wird, Anzeige zu erstatten und damit gehört zu werden.

Schon dieser erste Ansatz scheint kräftemäßig von den Organisatorinnen der Kampagne kaum noch länger weitergeführt werden zu können. Und dennoch wäre es dringend geboten, im Anschluss an diese Aktion ein weitaus umfassenderes Ziel ins Auge zu fassen.

Zum Einen wäre es sicher kein Fehler, eine solche oder eine ähnliche Plattform als Dauereinrichtung aufrechtzuerhalten, um die unglaubliche Anzahl von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen auch in Zukunft anonym dokumentieren zu können, ohne die „Opfer“ zu nötigen, sich persönlich vor irgend jemandem zu outen, geschweige denn sie zu den Unannehmlichkeiten einer Anzeige zu zwingen, die viele nicht auf sich nehmen wollen, viele auch nicht auf sich nehmen werden, falls die Bedingungen sich verbessern sollten.

Denn eine Anzeige bedeutet immer, sich noch einmal und immer wieder dem traumatischen Ereignis zu stellen und sich Menschen gegenüber zu öffnen, mit denen die Betroffenen im Grunde nichts verbindet und denen sie im Normalfall nicht einmal vom Geburtstag ihrer Mutter oder vom letzten Urlaub erzählen würden.

Es gibt viele Gründe für die Betroffenen, auf eine Anzeige zu verzichten, die durch keine Verbesserungen endgültig aus der Welt geräumt werden können:

  • sie sehen für sich keinen Sinn in einer Anzeige
  • sie haben oder hatten selbst Probleme mit Polizei und Justiz und sind nicht bereit, sich erneut auseinander zu setzen.
  • die Angst vor der Rache der angezeigten Person ist zu groß
  • …weil mein Vater von der Vergewaltigung weiß, aber bisher den Namen nicht kennt und ich befürchte, dass er sonst zum Mörder wird

Für diejenigen, die eine Anzeige nicht als den für sie richtigen Weg sehen, bzw. auch als begleitendes Angebot zum Weg durch die Justiz, müssen Möglichkeiten geschaffen werden, sich nach einem sexuellen Übergriff jemandem anvertrauen zu können, organisatorische, emotionale und therapeutische Hilfestellung und Unterstützung im weiteren Alltag, das heißt auch bei der Möglichkeit, tragende Ersatzstrukturen für die Familie zu finden, zu erfahren.

Ein weiterer und wohl der wichtigste Schritt muss sein, nicht nur an der Vereinfachung der Sanktionierung der Tat und den oben erwähnten Hilfsangeboten für die Betroffenen zu arbeiten, sondern ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das die Anzahl solcher Übergriffe weniger werden lässt.

Auch hier gilt: Jede einzelne Vergewaltigung, jeder einzelne sexuelle Übergriff weniger ist ein Erfolg.

Ansätze hierzu gibt es, beispielsweise das Projekt der theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück „Mein Körper gehört mir“ (2).

Aber auch zahlreiche andere Projekte schulischer wie außerschulischer Präventionsarbeit, wie sie EigenSinn (3) – Prävention von sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen e.V. und andere anbieten, zeigen einen guten Weg auf, leiden aber allesamt an der fehlenden finanziellen Unterstützung durch die öffentliche Hand.

Hier müssen mit Nachdruck ausreichende, großzügige Budgets und die Schaffung genügend neuer Stellen eingefordert werden, um mit fundierten Erkenntnissen, Fantasie und Engagement daran ansetzen zu können, dass künftig Kampagnen wie #ichhabenichtangezeigt …. möglichst überflüssig gemacht werden.

Bis dahin allerdings ist es ein weiter Weg und so wäre es auch dringend geboten, aktuell denen, die bereit sind, Kampagnen- und andere vorbereitende Arbeiten zu übernehmen, finanzielle Unterstützung bereitzustellen, um diese Kampagne weiterführen und ausweiten zu können.