St. Imier, ein von der Uhrenindustrie geprägtes Dorf mit ca. 4800 EinwohnerInnen im französischsprachigen Teil des Schweizer Jura, erlebte vom 8. bis 12. August 2012 einen Ansturm von 3.000 (Do.) bis 4.500 (Sa.) AnarchistInnen aller Altersstufen und aus aller Welt.
Die AnarchistInnen waren zur 140. Jubiläumsfeier der Gründung der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA) 1872 (nach dem Bruch zwischen Marx und Bakunin in der I. Internationale) gekommen.
Doch fremd waren den BewohnerInnen die für meinen Geschmack noch immer zu einheitlich Schwarzgekleideten keineswegs: Der Anarchismus gehört zum Teil ihrer Dorfgeschichte, die IAA wurde 1872 schließlich im hiesigen Rathaus gegründet. Kein Wunder also, dass wir AnarchistInnen von DörflerInnen freundlich gegrüßt oder uns beim Utensilienkauf in Geschäften (etwa den typisch schweizerischen Stromstecker-Adapter für die Steckdosen) „ein schönes Treffen noch“ gewünscht wurde. Wenn ich da an die DorfbewohnerInnen meines bayrischen Geburtsortes denke…
Das Programm war inhaltlich vielfältig, mit Vorträgen zu historischen oder ökologischen Themen, mit morgendlichen separaten oder gemischten Treffen zum Anarchafeminismus oder etwa Workshops zum Zivilen Ungehorsam oder zur Situation der AnarchistInnen in bestimmten Staaten (z.B. Griechenland, Weißrussland oder Brasilien).
Doch für den Ansturm der Massen war die Anzahl der Angebote insgesamt viel zu klein. So gab es lange Schlangen und ungeheure Überfüllung in den fast für jedes Thema zu kleinen Räumen. Wenn dann noch die Übersetzung in mehrere Sprachen nicht im Vorhinein gut vorbereitet war oder nicht klappte, oder wenn beim ersten Diskussionsbeitrag zu einem ebenso langen Co-Referat angesetzt wurde, konnte es schon geschehen, dass es zu Wutausbrüchen, Verlassen des Saales oder spontanen Arbeitsgruppen im Freien kam.
Schnell entstanden die üblichen Probleme über patriarchalisches Rollen- und Redeverhalten. Anarchistische Feministinnen klebten vor dem Anlaufpunkt, dem Espace Noir, dem ehemaligen Gewerkschaftshaus der anarchistischen Uhrmacher-Handwerker, einen Aushang, der zur Gender-Rücksicht durch Moderation, alternierendes Sprechen von Frauen und Männern oder zum Recht auf Abbruch eines Statements durch die deutliche Formung eines großen G mittels den Händen aufforderte.
Trotz allem war die Stimmung prächtig. In den Veranstaltungen, die ich miterlebte, bestand eine sehr gute Mischung aus Jung und Alt, auch ein sehr großes Interesse Jugendlicher an historischen Themen – viele schrieben die Thesen der Vorträge mit. Bei den Diskussionen zeigte sich gleichzeitig auch eine große Informiertheit am Thema und sogar die Möglichkeit, detaillierter zu werden, tiefer zu dringen und manche libertäre Interpretationen mit vielen zu teilen, für die man/frau in der publizistischen Öffentlichkeit doch lange Zeit einsam stritt und nur sporadisch positive Rückmeldung aus dem internationalen anarchistischen Milieu bekam.
Marianne Enckell vom anarchistischen Dokumentationsarchiv CIRA aus Lausanne machte an verschiedenen Tagen in wechselnden Sprachen einen gut besuchten Rundgang zu historischen Stätten in St. Imier.
Die insgesamt vier Tage dauernde internationale libertäre Buchmesse war ständige Gesprächsgelegenheit und sehr gut besucht (besonders großes Interesse bestand beim GWR-Stand am Seidman-Buch „Gegen die Arbeit“).
So manche Überraschung konnte ich erleben, etwa als ich einen Dörfler, Sven, kennen und schätzen lernte, der vor vielen Jahren als Jugendlicher in der Kneipe des Espace Noir ausgeschenkt hatte. Damals hörte er Punk und ist heute Sänger klassischer Arien, kennt fast alle Welt im Dorf, aber blieb seinen libertären Ideen treu – schon durch familiäre Herkunft aus einer vormaligen ketzerischen Wiedertäufertradition, die in dieser Gegend der Schweiz sehr verbreitet ist.
Wo so wenig Reibungspunkte zwischen „InvasorInnen“ und örtlicher Bevölkerung bestand, musste für jene, die mit weniger Feier- und Diskussionsbedarf, sondern eher mit einer Art Aktionsüberhang angereist waren, das Konfliktpotential erst noch gesucht werden. Und innerhalb der eigenen Reihen wurde es dann auch gefunden. Obwohl mehrere vegane Volxküchen für das leibliche Wohl aller TeilnehmerInnen sorgten (mit spürbarem Grummeln mir bekannter älterer AnarchistInnen, die dann im Gasthof Steak essen gingen), hatte sich im hinteren Hof des Espace Noir eine Wurstbraterei eines örtlichen migrantischen Grillstandbetetreibers am Abend etabliert. Diese wurde am vorletzten Abend von VeganerInnen angegangen. Mit körperlichem Einsatz und fest eingehakt formierten sich diese zu einem Blockadering um seinen Wurststand, verlasen in dramatischem Ton eine Erklärung und schütteten mehrmals Wasser auf seinen glühenden Rost, was durchaus aggressiv und gefährlich wurde.
Schließlich kam es zum Handgemenge, bei dem einige ältere Fleich essende Anarchisten die anarchistischen VeganerInnen als „Faschisten“ bezeichneten: auch wieder daneben.
Obwohl selbst Veganer, sehe ich hier aber doch eine unverhältnismäßig harte Aktion gegen einen örtlichen Menschen durchgeführt, der nun wirklich nicht zur Speerspitze der Fleischindustrie gehört – wo es ein einfacher Infoflyer oder ein Versuch eines argumentativen Gesprächs doch auch getan hätte. Hier brach sich m.E. ein oft beobachtbares Phänomen der Veganszene Bahn, nämlich die Unfähigkeit, die eigenen Aktionen entsprechend einer differenzierten Analyse dosieren zu können.
Wenn es jemand in St. Imier gab, der nach diesem Treffen von AnarchistInnen die Schnauze voll hatte, dann wohl dieser Kollege, der zum Espace Noir gute Beziehungen pflegte. Und er wird sicher der Letzte sein, der durch diese Aktion vom Veganismus überzeugt werden konnte.
Die wirklichen Gegner müssen durch direkte gewaltfreie Aktionen bekämpft werden. Innerhalb der eigenen Reihen reichen gute Argumente! Denn trotz allem ist der Veganismus innerhalb der anarchistischen Bewegung nahezu unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Und die hat an Argumenten, Ideen und Theorien in fast jedem gesellschaftlichen Bereich, das zeigte dieses einmalige und leider zu kurze transnationale Treffen, zuhauf!