transnationales

Das Grab der Guerrilleros

Zum Wandel der Erinnerung an den bewaffneten Kampf der siebziger Jahre in Argentinien

| M. Baxmeyer

Es gibt in der Geschichts- und Sozialforschung einen Ansatz, das Jahr 1968 als politische Chiffre nicht als ein mehr oder weniger zufälliges Durcheinander von Ereignissen in Europa und den USA zu begreifen, sondern als globales Phänomen, das sich auf "Studentenunruhen" oder "Generationenkonflikte" nicht reduzieren lasse. (2) Dieser Ansatz, der eine national beschränkte Perspektive ausdrücklich verwirft und die komplexen Beziehungen zwischen sozialen Unruhen auf fünf Kontinenten in den Blick nehmen will, hat manches für sich. Wenn es aber richtig ist, 1968 globalgeschichtlich zu betrachten, so gilt dies umso mehr für das Jahrzehnt danach. Denn eine globale Perspektive verspricht im Fall von "68" zwar Erkenntnisgewinn. Im Falle der siebziger Jahre ist sie schlechterdings unabdingbar.

Der linksrevolutionäre bewaffnete Kampf der siebziger Jahre war, wie der politische Aufbruch des vorherigen Jahrzehnts, ein globales Phänomen.

„Er war keine Marginalie“, schreibt die Sozialforscherin Pilar Calveiro, die durch die Hölle der argentinischen Folterzentren ging: „Die Anwendung von Gewalt wurde quasi zur conditio sine qua non für die radikalen Bewegungen jener Jahre“. (3)

Die internationalistische Denkweise der sechziger Jahre degenerierte nur ein Jahrzehnt später (auch) zum Bauplan für militärische Auseinandersetzungen. Denn kaum einmal wurden nationale Grenzen in einem solchen Maße überschritten wie während des „revolutionären Kampfes“ der bewaffneten Linken und des „Kriegs gegen der Terrorismus“, den die Herrschenden dekretierten.

Im Gegensatz zu den gelegentlich hilflosen Versuchen der global history, für das Jahr 1968 Kausalbeziehungen zwischen unterschiedlichen Ereignissen herzustellen, sind solche Verbindungen im Falle der siebziger Jahre greifbar und konkret.

Die skandalös begütigende Politik der Regierung Schmidt-Genscher gegenüber der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) beispielsweise lässt sich nur begreifen, wenn man bewusst hält, dass zur gleichen Zeit, 1977, der sogenannte „Deutsche Herbst“ eine Terroristenhysterie im Lande schürte, in der mancher gegen ein „blutiges Großreinemachen“ gegen Linke nach argentinischem Vorbild nichts einzuwenden hatte. (4)

Aber auch ganz unmittelbar überschritten politischer Terrorismus und offener Staatsterror nationale Grenzen: Bewaffnete Widerstandsgruppen kooperierten ebenso wie Regierungen und Geheimdienste miteinander, sie belieferten sich – wenn auch in unterschiedlichem Maße – mit Waffen, bildeten einander aus und legitimierten ihr Tun durch Öffentlichkeitsarbeit im In- und Ausland.

Eine globale Perspektive darf freilich nicht dazu führen, nationale Unterschiede zu vernachlässigen.

In Deutschland wurde der politische Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) zum Vorwand, die politische Kritik der 60er Jahre insgesamt zu verwerfen.

Nachdem ein Teil der nicht-parlamentarischen, radikalisierten Linken in den 80er Jahren auf diesen Versuch der Geschichtsentsorgung noch mit einer extrem intoleranten Beharrungsmentalität reagiert hatte, hat der größte Teil der linken Bewegungen sich mittlerweile ebenfalls weitgehend von allen heroisierenden Lesarten des gewaltsamen politischen Kampfes verabschiedet. Ganz anders war die Lage dagegen bis vor kurzem in Argentinien.

Im Schatten der Montoneros: Der bewaffnete Kampf in Argentinien (1970-1977)

Bewaffnete linksrevolutionäre Gruppen monopolisierten (auch) in Argentinien während der 70er Jahre die politischen Hoffnungen von 1968 mit Gewalt. Der hochtrabende Traum vom revolutionären Bündnis der Studierenden- und ArbeiterInnenschaft wurde durch die Zunahme des politischen Terrors ad absurdum geführt.

Im Mai 1969 hatten im argentinischen Córdoba Studentinnen und Studenten und Arbeiterinnen und Arbeiter noch gemeinsam gegen die Einführung der Samstagsarbeit demonstriert. (5)

Ein paar Jahre später war an einen solchen gemeinschaftlichen Protest nicht länger zu denken. Die klandestinen Strukturen bewaffneter Gruppen isolierten sie von möglichen Bündnispartnern und der sozialen Basis, für die sie doch zu kämpfen beanspruchten. Die immer brutalere Repression des Staates machte ihrerseits die Arbeit anderer politischer Gruppen fast unmöglich.

Im Inneren reproduzierten die Guerillaorganisationen durch ihre zunehmende Militarisierung eben jene autoritären Strukturen, die sie eigentlich bekämpfen wollten.

Die herrschenden Eliten dagegen nahmen die zunehmende Militarisierung sozialer Konflikte zum Vorwand, die Gesellschaft mit einer Welle brutalster Gewalt zu überziehen. Die Verteidigung der Menschenrechte interessierte im Grunde keinen der Beteiligten.

Wie auch in anderen Ländern der Welt radikalisierten sich in Argentinien zu Beginn der 70er Jahre vor allem Teile einer bürgerlichen, akademisch gebildeten Jugend, deren Bündnis mit anderen sozialen Kräften oft kaum mehr war als eine Erklärung des guten Willens und deren Lebenserfahrung sich in Grenzen hielt.

Argentinische Guerillagruppen wie die Fuerzas Revolucionarias Armadas (FRA) [‚Bewaffnete Revolutionäre Kräfte‘] oder der trotzkistische Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) [‚Revolutionäres Heer des Volkes‘] unterschieden sich kaum von anderen bewaffneten, linksrevolutionären Gruppen in Lateinamerika, Europa oder den USA. Sie orientierten sich an den Schriften Maos und Che Guevaras, blickten mit Bewunderung auf die Kubanische Revolution und waren der Überzeugung, nur eine zu allem entschlossene „Avantgarde“ könne den Umsturz herbeiführen und die „trägen Massen aufrütteln“.

Ein genuin argentinisches Phänomen dagegen waren die Montoneros. Sie waren wesentlich aus der Juventud Peronista (JP) [‚Peronistische Jugend‘] hervorgegangen, wurden 1970 mit dem Mord an Ex-Diktator General Pedro Eugenio Aramburu schlagartig berühmt und waren nicht nur zahlenmäßig die Stärkste der drei genannten Gruppen. Die Montoneros vereinten heterogenes, linksradikales Gedankengut mit einer geradezu mystischen Verehrung für Juan Domingo Perón, den ebenso populären wie populistischen vormaligen Regierungschef Argentiniens.

Vor allem aber galt ihre Liebe dessen verstorbener Frau „Evita“, die sie in den Stand einer regelrechten Mutter Gottes erhoben. „Evita Montonera“ hieß eine wichtige Zeitschrift der Gruppe, und auch bei politischen Graffitis fehlte selten der emphatische Ausruf „Evita!“, egal, was die Botschaft sonst noch vermitteln sollte. (6)

Nach Peróns Sturz 1955 hatten sich die Positionen innerhalb der machtvollen peronistischen Bewegung Argentiniens extrem polarisiert. Für Linksperonisten bedeutete eine Rückkehr Peróns aus dem spanischen Exil den Beginn der Revolution.

Rechtsperonisten erhofften sich eine Stabilisierung des Landes und das Zurückdrängen der ungebührlichen Linken.

Die Spaltung war so tief, dass, als Perón am 20. Juni 1973 tatsächlich kam, Links- und Rechtsperonisten sich blutige Feuergefechte auf dem Flughafen Ezeiza lieferten, während sie auf ihren gemeinsamen Helden warteten… (7)

Von Spanien aus hatte Perón den bewaffneten Kampf der Montoneros noch gutgeheißen und ihm viel Zulauf verschafft.

1970 hatte er verkündet: „Die Diktatur, die unser Vaterland peitscht, wird in ihrer Gewalt nicht nachgeben, es sei denn, vor einer noch größeren Gewalt. […] Die kommende Revolution muss gewalttätig sein“. (8) Nach seiner Rückkehr an die Macht erwartete er jedoch, dass die Montoneros ihren Kampf einstellen und die konservative Politik seines Regimes stützen würden. Sie taten es nicht. Eine Serie von Überfällen, Entführungen, Attentaten, Morden und Aufstandsversuchen folgte, die die militaristische und politische Rechte unter anderem 1973 mit der Gründung der Todesschwadron Triple A [‚Dreifach A‘ für Alianza Anticomunista Argentina, ‚Argentinische Antikommunistische Allianz‘] beantwortete.

Deren Morde wurden pikanterweise von dem rechtsperonistischen Minister für Soziale Wohlfahrt José López Rega koordiniert.

1974 mordete die Triple A statistisch gesehen bereits alle 19 Stunden. (9) Folter gehörte – im Gegensatz zu den Montoneros – für sie zum täglichen Handwerk. Und auch die Praxis des „Verschwindenlassens“ [vgl. GWR 369] begann schon lange vor der Diktatur. Als diese am 24. März 1976 begann, erhoffte sich eine deutliche Mehrheit der argentinischen Bevölkerung, dass das blutige Chaos von Terror und Gegenterror endlich ein Ende nehmen würde. (10) Tatsächlich jedoch sollte sich der Staatsterrorismus in sieben Jahren Diktatur auf ein in Lateinamerika bis dahin nicht gekanntes Maß steigern.

Nada de héroes [‚Wahrlich keine Helden‘]. Die Montoneros während der Diktatur (1976-1983)

Verteidiger der Junta rechtfertigen deren ungeheuerliche Verbrechen bis heute mit den vermeintlichen Notwendigkeiten des „Kriegs gegen die Subversion“. Fest steht jedoch, dass bereits 1977 alle bewaffneten Guerillagruppen des Landes militärisch zerschlagen waren.

Innerhalb kaum eines Jahres verloren 2000 tatsächliche oder vermeintliche Montoneros ihr Leben. Der ERP wurde ausgelöscht. Am 23. November 1976 kritisierte der Schriftsteller Rodolfo Walsh, der innerhalb der Montoneros den Rang eines Majors bekleidete, in einem internen Communiqué den wirklichkeitsfernen Triumphalismus seiner Gruppe und warnte davor, die eigenen Stärken hochzuspielen: „Wir müssen uns an das halten, was wirklich ist, und nicht an das, was in den Büchern steht […]. Einer der großen Erfolge unseres Feindes war es, den Krieg gegen uns führen zu können, und nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Und das ist zu einem großen Teil unsere Schuld, weil wir uns mit unserem Ideologismus isoliert haben und für wirkliche Menschen keine politischen Vorschläge hatten. […] Es ist falsch, dass sie [die Militärs, Anm. MB] keine Reserven mehr haben und hektisch Truppen von einem Ort zum anderen verschieben. Sie setzen uns schwer zu, und brauchen dazu nur einen minimalen Bruchteil ihrer Kräfte. Sie machen Fortschritte sowohl im Politischen als auch im Militärischen. Wir sind in beiden Bereichen auf dem Rückzug. […] Wir müssen selbstkritischer sein, und realistischer“. (11)

Seine Worte stießen auf taube Ohren. Die Spitze der Montoneros war überzeugt, dass es genüge, eine kleine Gruppe von Aktivisten – einige hundert – im In- und Ausland kampfbereit zu halten, um doch noch den Sieg davonzutragen.

Mit dieser Politik lieferte sie die Mehrheit der eigenen Basis im wahrsten Sinne des Wortes den Militärs ans Messer.

1979 befahl der Kommandorat von Havanna aus sogar eine Gegenoffensive (!), die zu diesem Zeitpunkt für die beteiligten Aktivistinnen und Aktivisten blanker Selbstmord war.

Die Sicherheitsvorkehrungen für die Guerilleros waren so lax, dass der argentinische Geheimdienst SIDE sie in aller Ruhe an den Grenzen erwarten und postwendend in die Folterzentren expedieren konnte.

2003 kam es in Argentinien zu einem Prozess gegen die ehemaligen Spitzen der Montoneros, der klären sollte, wie ein solcher Massenmord an den eigenen Leuten möglich gewesen sein konnte. Es stellte sich heraus, dass einige Kommandeure mit den Militärs konspiriert hatten, um sich selbst zu schützen oder politische Vorteile zu erlangen. (12)

Der Irrsinn des militarisierten Widerstands war mit Händen zu greifen. Rodolfo Walsh war bereits 1977 auf offener Straße von einem militärischen Greifkommando erschossen worden. Die Geschichte der bewaffneten revolutionären Linken endete in Argentinien in einem See aus Blut.

Fragen an Lebende und Tote. Die zögerliche Aufarbeitung (1983-2003)

Angesichts der Verbrechen der Junta ließ die kritische Aufarbeitung der linksrevolutionären Gewalt in Argentinien lange auf sich warten. Es war schließlich schwierig genug, die Verbrechen der Junta öffentlich zu machen.

Eine Mitverantwortung der Guerilla an der extremen Gewalt der siebziger Jahre stand für Überlebende und die kritische Linke des Landes zunächst nicht zur Debatte.

„Während der Militärdiktatur“, schreibt die argentinische Kultursoziologin Beatriz Sarlo, „konnte man über bestimmte Fragen nicht wirklich nachdenken. Man überdachte sie vorsichtig oder verschob sie auf später in der Hoffnung, dass die politischen Umstände sich ändern würden. Die Welt war klar in Freund und Feind getrennt, und unter einer Diktatur ist es entscheidend, die Überzeugung aufrecht zu erhalten, dass diese Trennung eindeutig ist. Die Kritik am bewaffneten Kampf […] erschien auf tragische Weise paradox, wenn die Aktivisten gleichzeitig ermordet wurden“. (13)

1984, ein Jahr nach dem Sturz der Diktatur, etablierte sich nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts der argentinischen Wahrheits-Kommission, „Nunca Más“ [‚Nie wieder‘], die sogenannte „Theorie der zwei Dämonen“, die ebenfalls nicht dazu angetan war, eine selbstkritische Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit seitens der Linken zu fördern. Nach dieser Theorie – die sich auf einen einzigen Satz im Vorwort des Berichts bezog (14) – hatte sich die argentinische Bevölkerung während der 70er Jahre hilflos zwischen den beiden „Dämonen“ des Linksradikalismus und des Faschismus befunden. Aber ganz davon abgesehen, dass die Bezeichnung „Dämonen“ die damaligen Akteure im Grunde von aller menschlichen Gemeinschaft ausschloss, ihnen somit auch keine menschlich nachvollziehbaren Handlungsmotivationen mehr zubilligte, suggerierte dieser Erklärungsansatz, dass die Kräfte des Staates und der Guerilla gleichstark gewesen seien.

Dafür wurde das gros der argentinischen Bevölkerung freimütig von jeder Verantwortung freigesprochen.

Auf diesen Versuch, die Konsequenzen der jüngsten Vergangenheit im Qualm der Hölle verschwinden zu lassen, reagierten Menschenrechtsorganisationen mit einer Politik, die betonte, auch die tatsächlichen oder vermeintlichen Mitglieder bewaffneter Gruppen seien Opfer der Diktatur gewesen: Opfer, und nicht Täter. Was angesichts des durchschaubaren Versuchs der Politik unter den Präsidenten Alfonsín und Menem, Links- und Staatsterror gleichzusetzen, nachvollziehbar war, negierte wiederum die Tatsache, dass die Opfer der Diktatur bewusst handelnde, zum Teil politisch engagierte Menschen gewesen waren. (15)

Über lange Jahre hinweg sprach somit auch die kritische Menschenrechtsarbeit in Argentinien den Opfern keine eigenständige, politische Persönlichkeit zu. Man konnte demnach schlecht Fragen nach Ihrer Verantwortung stellen.

Erst die Ende der 90er Jahre gegründete Organisation der Angehörigen von „Verschwundenen“, H.I.J.O.S., stellte sich ausdrücklich gegen diese „zweite Entmenschlichung“ der Toten – allerdings, bemerkenswerter weise, um den Preis einer neuerlichen Idealisierung des bewaffneten Kampfes.

H.I.J.O.S. bezeichnet bis heute pauschal alle Ermordeten der Junta als „Widerstandskämpfer“, und auch, wenn die Organisation ihre kritische Distanz zu den „Fehlern der Vergangenheit“ immer wieder betont, dominieren doch eindeutig Bewunderung und Respekt für das Engagement der Elterngeneration. Hinzu kommt, dass mittlerweile zahlreiche ehemalige Montoneros in einflussreiche Positionen der argentinischen Gesellschaft gerückt sind. Der Schriftsteller und „Fernsehphilosoph“ José Pablo Feinmann ist nur ein besonders populäres Beispiel.

Als die Regierung Kirchner 2003 an die Macht kam, berief sie gezielt Ex-Guerilleros auf wichtige Posten.

Oft sind es allerdings, Ehre, wem Ehre gebührt, Meinungsführer wie Feinmann, die eine kritische Diskussion über die politische Gewalt der 70er Jahre vorantreiben. (16)

Innere Fäulnis. Die Rolle der Literatur

Interessanterweise ist aber vielleicht die argentinische Literatur der probateste Spiegel, um zu sehen, wie sich die öffentliche Wahrnehmung des Guerilleros auf Seiten der Linken zu wandeln beginnt.

Aus einer selbstlosen, für die gute Sache kämpfenden, ewig jungen und schönen Märtyrerikone wird ein Bild mit deutlich stärkeren Schwarz- und Grautönen.

Es wäre möglich, dass die Literatur bei diesem Wandel sogar eine Vorreiterrolle spielt, die kritische Geister wie Beatriz Sarlo ihr eigentlich gar nicht mehr zubilligen mochten: „Alles, was man mit etwas Glück beim Schreiben erreichen kann, ist, die üblichen Themen, die allgemein angesagt sind, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten […]“. (17)

Dabei waren Diktatur und politische Gewalt jahrzehntelang alles andere als „gängige Themen“ in der argentinische Literatur. José Pablo Feinmann hat anschaulich geschildert, wie groß der Widerwillen der schriftstellerischen Intelligenz im Argentinien der 80er und frühen 90er Jahre war, sich einem Thema wie den desaparecidos [‚Verschwundenen‘] zuzuwenden.

Diejenigen, die es doch taten, wurden öffentlich als „inescrupuloso“ [’schamlos‘] beschimpft, getrieben einzig von ihrem Wunsch, mit einem grausigen Thema Figur zu machen. Oder man bezeichnete sie als referencialistas, also Dichter, die die Literatur in den Dienst der Politik zu stellen versuchten. Oder man brandmarkte sie als moralvergessene Opportunisten, die nur alte Wunden aufreißen wollten. (18)

Zu einem Zeitpunkt, da, so Feinmann, praktisch die gesamte Welt Argentinien mit den Schrecken der Juntaverbrechen identifizierte, seien diese Verbrechen im Land selbst kein Thema gewesen – auch nicht in der Literatur. So tief habe der Widerwille gesessen, dass in Literatenkreisen sogar eine despektierliche Bezeichnung für allzu großes künstlerisches Interesse am Thema der Verschwundenen zirkulierte: „[la] desaparedología“ [etwa: ‚Die Verschwundologie‘].

Heroisierung der Opfer war unter diesen Umständen in den wenigen literarischen Werken zum Thema kaum verwunderlich. Noch 1998 lies Elsa Osorio in ihrem Roman „Mein Name ist Luz“ ihre Protagonistin lediglich ein paar knappe Bemerkungen zur linksradikalen Gewalt machen, die im Gesamtkontext des Werkes fast untergehen. Luz, eine junge Frau Anfang 20, ist ein unter der Diktatur geraubtes Kind und auf der Suche nach ihrer eigenen Geschichte.

Ihre leiblichen Eltern Liliana und Carlos waren am bewaffneten Kampf beteiligt. Liliana wird auf offener Straße erschossen, Carlos verlässt das Land. Seine leibliche Tochter zu finden bemüht er sich allerdings nie.

Als sich beide in Madrid schließlich doch treffen, legt Osorio Carlos einige Sätze in den Mund – sozialchauvinistisch, engstirnig, ideologisch verbrämt – die immerhin ein erstes Fragezeichen hinter das Heldenbild der ehemaligen Kämpferinnen und Kämpfer setzen. Auch Lilianas Gewaltbereitschaft kommt im Roman durchaus zur Sprache. Sie wird allerdings eher abseitig behandelt, denn es dominiert – mit Recht – noch die Darstellung eines unendlich viel gewalttätigeren Regimes. (19)

Osorios leicht süßliche, erinnerungsdidaktische Fiktion war (noch) kein ernsthafter Versuch der Aufarbeitung. Die fiktionalen Fragen an ehemalige Kämpferinnen und Kämpfer sollten in den Folgejahren allerdings spürbar unbequemer werden.

Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist der Roman „Das Kaninchenhaus“ der argentinischen Exil-Autorin Laura Alcoba. Erzählt wird aus der Perspektive eines Kindes, das von seinen Eltern zurückgelassen wird, damit sie sich dem bewaffneten Kampf anschließen können. Das titelgebende Kaninchenhaus wird zum Schutzraum für die Träume des Kindes, das nicht verstehen kann, warum es keine Eltern haben darf. (20)

Kaum ein anderer Autor jedoch hat die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit so vehement herbeigeschrieben wie der Ex-Montonero Martín Caparrós mit seinem Roman „Wir haben uns geirrt“. (21)

Sein Werk ähnelt über weite Strecken einem zornigen Pamphlet. Protagonist Carlos ist ein verbitterter Altlinker, möglicherweise ein Ex-Montonero, und ein Muster an Lebensüberdruss. Er kann sich nicht einmal aufraffen, Nachforschungen über das Schicksal seiner unter der Diktatur ermordeten, schwangeren Frau anzustellen. Er verweigert jede Erinnerung, die Konsequenzen haben müsste. Stattdessen versucht er, sie zu zerreden. Und weiß das auch genau: „Wir sind ja so feige: Wir glauben, das Wort könne uns erlösen. Wir denken, es genüge, bestimmte Dinge zu sagen, und schon stünden wir über ihnen. Die Straße ist voller Schlaglöcher, und ein Schild warnt ‚Vorsicht, Straßenschäden‘; der Belag wird dadurch nicht besser, aber keiner kann behaupten, man habe es ihm nicht gesagt“. (22)

Die siebziger Jahre sind für Carlos eine Zeit wehmütigen Andenkens, seine eigentliche „Lebenszeit“. Gelegentliche kritische Fragen, die er sich im Stillen zu seinen Handlungen und seiner Verantwortung stellt, kratzen das idyllische Bild zwar an, dürfen es aber keinesfalls zerstören. Die leblose, starre Erinnerung an „früher“ ist für Carlos die Rechtfertigung seiner Untätigkeit in der Gegenwart und die Ursache seiner sozialen Lähmung. Ein verheerendes Detail in Carlos‘ Leben wird im Roman zu einem besonders drastischen Sinnbild für eine Generation, die sich wie schiffbrüchig an die Planke ihrer pseudoheroischen Vergangenheit klammert: Carlos verfault innerlich! Eine widerlich stinkende, unerklärliche, schwarze Substanz rinnt ihm aus den Eingeweiden und bringt ihn schließlich dazu, doch noch tätig zu werden, ehe es mit ihm zuende geht.

Zuletzt…

Eine wesentliche Vorbedingung für die kritische Auseinandersetzung mit der linksradikalen Gewalt in Argentinien war die neuerliche Strafverfolgung der Diktaturverbrechen und ein gesellschaftliches Klima, das ein Schweigen über diese Verbrechen nicht länger zulässt.

Ein Teil der kritisch-literarischen Intelligenz scheint nun nicht länger bereit zu sein, mit Blick auf die linksradikalen bewaffneten Gruppen der 70er Jahre weiter Motivationen vor tatsächlichen Handlungen gehen zu lassen. Denn wohl kaum jemals hat der Zweck die Mittel so wenig geheiligt wie im bewaffneten Kampf der 70er Jahre. Das Prestige, das die emanzipatorischen Ziele der Montoneros (und anderer) in Argentinien bis heute genießen, erklärt sich nicht zuletzt aus der blutgierigen, stupiden und ignoranten Dumpfheit ihrer politischen Gegnerinnen und Gegner.

Die Tatsache, dass die Verbrechen der Junta zu den großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts zählen, reicht in Argentinien aber nicht mehr aus, um eine Diskussion über die Verantwortung der bewaffneten Linken an der grausigen Apotheose der Gewalt der 70er Jahre zu verweigern. Denn extreme Gewalt dieser Art entsteht nicht aus dem Nichts. Sie hat immer einen „Vorlauf“.

Auch die bewaffnete Linke trug dazu bei, dass Gewalt in Argentinien zu einer Alltäglichkeit wurde, dass politische Meinungsverschiedenheiten mit der Waffe ausgetragen wurden und alternative Formen gesellschaftlicher Veränderungen immer weniger möglich waren. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich der „Kampf um die Erinnerung“ an die Montoneros, den ERP oder den FRA weiter entwickelt. Möglicherweise werden noch einige Romane wie „Das Kaninchenhaus“ oder „Wir haben uns geirrt“ geschrieben werden müssen, damit der durch die politische Kultur Lateinamerikas geisternde Guerillero endlich Ruhe finden kann.

(1) Titel: "La tumba del guerillero" ['Das Grab des Guerillero'] war ein heroisierendes Lied auf den bewaffneten Kampf der Sandinistischen Revolution von Carlos Mejía Godoy: "La tumba del guerillerro/donde donde donde está/ su madre está preguntando/ nadie le responerá/ La tumba del guerillero/ donde donde donde está/ el pueblo está preguntando/ y un día lo sabrá" ['Das Grab des Guerilleros/ wo nur, wo, wo mag es sein?/ Seine Mutter fragt und fragt/ niemand wird ihr antworten/ Das Grab des Guerillero/ wo nur, wo, wo mag es sein?/ Das Volk fragt und fragt/ und wird es eines Tages erfahren'].

(2) Vgl. u.a. Kastner, Jens, David Mayer (Hg.), Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien (Mandelbaum) 2008.

(3) Calveiro, Pilar, Poder y desaparición. Los campos de concentración en Argentina, Buenos Aires (Colihue) 2001, S. 14.

(4) Vgl. u.a. Kaleck, Wolfgang, Kampf gegen die Straflosigkeit. Argentiniens Militärs vor Gericht, Berlin (Wagenbach) 2010, S. 48-72; 108-120.

(5) Vgl. Carreras, Sandra, Barbara Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2010, S. 210-211.

(6) Vgl. u.a. "Documentos montoneros", in: www.elortiba.org/docmon.html [1.8.2012].

(7) Vgl. Carreras, Potthast, Geschichte, a.a.O., S. 214-215.

(8) Zit. n. Calveiro, Poder, a.a.O., S. 15.

(9) Vgl. ebenda, S. 18.

(10) Vgl. u.a. Lvovich, Daniel, "Sistema político y actitudes sociales en la legitimación de la dictadura militar argentina (1976-1983)", in: Ayer 75, 2009, S. 275-299.

(11) Walsh, Rodolfo, "Documento de Rodolfo Walsh a la Conducción Nacional de Montoneros", in: www.elortiba.org/docmon.html [1.8.2012]

(12) Vgl. Argento, Analía, Paula, du bist Laura! Geraubte Kinder in Argentinien, Berlin (Ch. Links) 2010, S. 106-108.

(13) Sarlo, Beatriz, Tiempo pasado. Cultura de la memoria y giro subjetivo. Una discusión, Buenos Aires (Siglo XXI Editores) 2005.

(14) Vgl. Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP), Nunca más, Buenos Aires (EUDEBA) 1984, S. 7-11.

(15) Vgl. u.a. Fuchs, Ruth, Umkämpfte Geschichte. Vergangenheitspolitik in Argentinien und Uruguay, Münster (Lit) 2010.

(16) Vgl. u.a. Feinmann, José Pablo, La sangre derramada. Ensayo sobre la violencia política, Barcelona (Seix Barral) 2005.

(17) Sarlo, zit. n. Pagni, Andrea, "Von der Revolutionsutopie der siebziger zur Medienkritik der neunziger Jahre: Orte der Intellektuellen", in: Klaus Bodmer, Andrea Pagni, Peter Waldmann (Hg.), Argentinien heute. Politik. Wirtschaft. Kultur, Frankfurt/M. (Vervuert) 2002, S. 589-606.

(18) Vgl. Feinmann, Sangre, a.a.O., S. 114-115.

(19) Vgl. Osorio, Elsa, Mein Name ist Luz, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007.

(20) Vgl. Alcoba, Laura, Das Kaninchenhaus, Berlin (Insel) 2010.

(21) Vgl. Caparros, Martín, Wir haben uns geirrt, Berlin (Berlin Verlag) 2008.

(22) Ebenda