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Free Pussy Riot!

| Vladimir Sliwjak Übersetzung aus dem Englischen: Heike

Weil die Feministinnen Marija Aljochina, Nadjeshda Tolonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch von der Frauen-Punk-Band Pussy Riot vor dem Altar der Christus-Erlöser-Kathedrale ein gegen das Putin-Regime und die verbündete Kirchenführung gerichtetes 40 Sekunden langes Punkgedicht gesungen haben, hat ein Moskauer Gericht sie am 17. August zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt. (GWR-Red.)

Die Geschichte ist folgende: Eines Tages betraten ein paar junge Frauen eine Kirche in Moskau. Nicht irgendeine Kirche, sondern die größte und bedeutendste. An hohen orthodoxen Feiertagen wird sie vom russischen Präsidenten, dem Ministerpräsidenten und anderen Halunken besucht. Aber an jenem Tag waren nur ein paar Leute anwesend und es war eigentlich nichts Besonderes los. Die jungen Frauen begannen ein Lied zu singen, oder vielmehr ein Gebet. Es enthielt eine Bitte an Gott (eine weibliche Art Gott, was für die orthodoxe Kultur untypisch ist), Putin rauszuwerfen.

Die Aktion fand im Februar statt, kurz vor den russischen Präsidentschaftswahlen. Zweck der Aktion war, gegen Wladimir Putins Versuch, zum dritten Mal Präsident des Landes zu werden, zu protestieren. Tatsächlich besagt die russische Verfassung, dass niemand mehr als zweimal Präsident werden darf. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die jungen Frauen nannten sich „Pussy Riot“ – eine Punkrockband. Ihr Auftritt in der Kirche dauerte etwa zwei Minuten, dann verschwanden sie wieder. Zunächst regte sich niemand weiter auf. Aber als die Medien die Aktion groß rausbrachten, bekam die Polizei den Befehl, die Frauen zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken. Am 17. August wurden sie von einem Moskauer Gericht zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Es gab eine groß angelegte, wunderbare Kampagne zur Unterstützung von „Pussy Riot“.

In Moskau selbst gab es Dutzende Proteste, in anderen Städten mehr als fünfzig. Viele russische Prominente, bekannte SchriftstellerInnen und KünstlerInnen unterzeichneten offene Briefe.

Weltberühmte MusikerInnen wie Paul McCartney, Sting, die Red Hot Chili Peppers, The Who, Pulp und Björk beteiligten sich ebenso wie zahlreiche Menschenrechts-, Umwelt- und andere Gruppen. Die Kampagne erfuhr große Aufmerksamkeit in den Medien. Aber all das fruchtete nichts – aus einem einfachen Grund: Wladimir Putin ist wütend. Und wenn der russische Diktator wütend ist, dann hört er auf niemanden.

Der ganze Fall klingt wie eine Episode aus „Alice im Wunderland“, er ist voller Absurditäten und Paranoia. Vielleicht fragt ihr euch, was das russische Gesetz zu Aktionen wie der oben beschriebenen sagt. Die Antwort ist fast zu einfach, um wahr zu sein: Es sagt nichts. In Russland ist das Singen von Liedern nicht strafbar, weder in Kirchen noch anderswo. Auch das Herumlaufen in Kirchen ist nicht verboten. Natürlich kann es sein, dass manchen Leuten diese Art von Aktion nicht gefällt. Aber öffentliches Missfallen ist noch lange kein Straftatbestand. Zumindest war das in Russland so, bevor Wladimir Putin das Land zum dritten Mal zu regieren begann.

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Winter und Frühjahr waren von den größten politischen Protesten begleitet, die Russland im 21. Jahrhundert erlebt hat. Für Wladimir Putin kam dies einer persönlichen Beleidigung gleich. Wie ein wütender Schuljunge sinnt er nun auf Rache – und er nimmt keine Rücksichten.

„Pussy Riot“ hat sich ausgerechnet in der Kirche gegen Putin ausgesprochen – der Kirche, die für gewöhnlich die Staatsmacht so vehement unterstützt. Ob die jungen Frauen damit gegen ein Gesetz verstoßen haben, ist vollkommen unerheblich. Sie haben Wladimir Putin beleidigt, direkt vor seiner Wiederwahl. Kurz zuvor waren mehrere Männer, die am 6. Mai an einer Demonstration der Opposition teilgenommen hatten, verhaftet worden. Und die Polizei verfolgt noch immer Menschen, die Wladimir Putin vor seinem Amtsantritt beleidigt haben.

Vor kurzem wurde ein neues Gesetz verabschiedet. Es richtet sich gegen gemeinnützige Organisationen wie zum Beispiel Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, politische Initiativen und WahlbeobachterInnen. Das Gesetz wird mehrere dieser Organisationen zwingen, ihre Arbeit einzustellen, und andere an den Rand des Ruins bringen. Der Grund ist einfach: Diese Organisationen haben die Forderung der Opposition nach fairen Wahlen zu sehr unterstützt. Ein weiteres soeben in Kraft getretenes Gesetz sieht Geldstrafen von bis zu 30.000 Dollar für die Teilnahme an der falschen Demonstration vor. „Falsch“ bedeutet in diesem Fall „gegen Putin gerichtet“.

Putins Wut ist inzwischen maßlos. Ich wäre nicht überrascht, wenn er anfinge, an seinen politischen Widersachern Kannibalismus zu praktizieren. Sehr wahrscheinlich werden wir den Beginn massenhafter Repression erleben. Werden am Ende die Lebenden die Toten beneiden? Einzig die Antwort auf diese Frage ist bislang noch ungewiss.

Anmerkungen

Vladimir Sliwjak ist Aktivist der russischen Umweltgruppe Ecodefense.

Anm.d.Ü.: Nicht nur in Putins Russland werden Menschen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung bestraft, auch der deutsche Staat hat ein recht instrumentelles Verhältnis zur Meinungsfreiheit. Fast zeitgleich mit dem Urteil gegen Pussy Riot verurteilte ein deutsches Gericht Inge Viett zur Zahlung von 1200 Euro, weil sie während einer Podiumsdiskussion gesagt hatte: "Wenn Deutschland Krieg führt und als Antikriegsaktion Bundeswehrausrüstung abgefackelt wird, dann ist das eine legitime Aktion, wie auch Sabotage im Betrieb an Rüstungsgütern. Auch wilde Streikaktionen, Betriebs- oder Hausbesetzungen, militante antifaschistische Aktionen, Gegenwehr bei Polizeiattacken etc." Das Gericht wertete diese Sätze als Billigung von Straftaten. Anfangs war Inge Viett wegen ihrer Äußerung sogar eine mehrjährige Haftstrafe angedroht worden.