interview

„Menschenrechtliche Arbeit, die nicht in der Luft schwebt“

Ein Gespräch mit Wolf-Dieter Narr. Teil 1

| Interview: Bernd Drücke und Muriel Schiller, Juli 2012 Transkription/Bearbeitung: Martin Schlüter und Bernd Drücke

Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr (geb. am 13. März 1937 in Schwenningen am Neckar) hält am 9. September 2012 im Rahmen der 40 Jahre Graswurzelrevolution-Konferenz in der ESG Münster einen Vortrag zum Thema "Anarchie" (siehe Kasten). Er reiht sich "selbst ... in die anarchistische Tradition ein" und ist einer der bekanntesten Politikwissenschaftler in Deutschland. Seit 2002 ist er häufiger Autor der Graswurzelrevolution. Mit ihm sprachen im Studio des Medienforum Münster GWR-Redakteur Bernd Drücke und GWR-Praktikantin Muriel Schiller. Das gekürzte Interview drucken wir in zwei Teilen ab. Teil 2 erscheint im Oktober in der GWR 372. (Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Wie ist Dein politischer Lebensweg verlaufen? Was waren entscheidende Erlebnisse und Einflüsse?

Wolf-Dieter Narr (WDN): Der politische Lebensweg hat entscheidend damit zu tun […], dass ich 1937 geboren bin. Im Jahr des Hoßbach-Protokolls, ein Jahr bevor die Nazis in Österreich einmarschiert sind, in dem Jahr wo der Vierjahresplan schon ein Jahr gedauert hat.

Und dass vor allem mein Vater oder meine Eltern – meine Mutter nicht ausdrücklich – Nazis waren. Mein Vater war zur Zeit meiner Geburt schon in den Parteidienst eingetreten und ich selber war dann bis ich acht Jahre alt war – also bis 1945 – ein voller kindlicher Nazi.

Ich habe darüber in meinem gerade erschienen und mit Dirk Vogelskamp geschriebenen Buch „Trotzdem: Menschenrechte!“ (1) knapp berichtet, rund um einen Abschnitt mit der Überschrift „Ich Nazijunge“, um nicht nur klar zu machen, was mich geprägt hat, sondern auch um die Kritik, die man betreibt, einigermaßen in Perspektive zu stellen.

Von dieser Grundlage aus wird mein weiteres Leben in starken Maß dadurch bestimmt, dass ich bei der Reeducation – also der Erziehung zur Demokratie von den Amerikanern – voll mitgemacht habe und ich dann in meiner spätpubertierenden Zeit mit 16, 17, 18 Jahren meinen Vater befragte: wie ein Staatsanwalt. Er hat sich darüber bei mir beschwert. Ich wusste: Ich habe Recht und er hat Unrecht.

Er hat nicht das gemacht, was viele Väter gemacht haben, er hat sich nicht verweigert, sondern im Gegenteil. Er hat mir das Gespräch zugestanden und wir haben tagelang über die nationalsozialistische Herrschaft und über sein Beteiligtsein gesprochen. […] Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was für Fragen ich gestellt habe, denn in der Schule haben wir darüber nichts gehört.

Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, was er im Einzelnen geantwortet hat.

Ich weiß nur, dass er geantwortet hat und zwar nicht wie jemand, der ganz unschuldig oder unbeteiligt war.

Er hat aber auch nicht wie ein „Ehemaliger“ geantwortet, der nach wie vor genau die gleiche Position vertritt, die er bis 1945 vertreten hat.

Für mich sind die entscheidenden Effekte von diesen Gesprächen nicht die Erinnerungen oder Einzelheiten, sondern dass er mit mir gesprochen hat und dass ich dabei allmählich erkannt habe, dass die Art mit dem Nationalsozialismus und seinen Konsequenzen umzugehen nicht darin besteht, dass man die älteren Generationen anklagt, sondern dass es auch mein Problem ist.

Von daher hat der weitere Weg ergeben, dass ich in den 50er-Jahren Pazifist geworden bin. Schließlich wurde ich radikaler Demokrat, zunächst ganz im Rahmen des Grundgesetzes und mit der Zeit hat sich das dann, wenn man die Demokratie ernst nimmt, unvermeidlicher Weise etwas darüber hinausentwickelt. Ich bin deswegen später bei verschiedenen Bewerbungen abgelehnt worden, weil ich nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stünde. Das hat mich aber wenig geritzt. […] Meine Position als Prof. an der FU habe ich nie verloren.

Später hat eine gewisse Radikalisierung eingesetzt. Ich bin 1969 Mitglied des Sozialistischen Büros geworden. Dort haben wir dann das Russel-Tribunal 1977/78 organisiert. Ich habe dabei mitgewirkt. Danach haben wir das Komitee für Grundrechte und Demokratie gegründet. Auch da galten Grundrechte und Demokratie nicht wie es im Grundgesetz steht als ideelle Normen, die sozial nicht begründet sind, sondern es galt Menschen- und Grundrechte zu verstehen im Sinne des sozialen Zusammenhangs und der sozialen Konsequenzen, das heißt letztendlich sozialistisch-demokratisch.

GWR: In den 60er-Jahren warst Du Mitglied in der SPD und bist dann ausgetreten. Warum?

WDN: Als ich 1963/64 […] an die Universität Erlangen-Nürnberg gewechselt bin […] waren alle meine Freundinnen und Freunde SPDler. Wir sind täglich Mittagessen gegangen und dann haben sie mich immer darauf gestupst und ich habe dann überlegt, da könntest du ja eigentlich Mitglied werden, aber auch schon mit Vorbehalt. Mir war klar, dass die SPD nicht meine Sache ist.

Ich hatte die gleiche Ansicht wie der Kurt Tucholsky in dem Gedicht „Machen wir nen kleinen Kompromiss“. Da geht er vor allem auf die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik ein und schildert wie diese Partei die Chancen versäumt hat, in dieser Republik zu kämpfen, da sie immer wenn es darauf ankam, Kompromisse geschlossen hat.

Es war nicht meine Sache, ich bin aber dort aktiv geworden und wurde Unterbezirksvorsitzender der Jungsozialisten.

Den Wahlkampf 1965 habe ich mitgemacht, obwohl ich da schon skeptisch war. Wie man Wahlkämpfe neuerdings so führt: indem man sich auf den Boden gelegt hat, plattgemacht hat, nichts will, außer an die Regierung zu kommen. […] Ich bin dann aus dem Wahlkampfteam rausgegangen, weil mir diese Art von Anhündelung an eine modifizierte CDU nicht gefallen hat. Als die SPD 1966 die Große Koalition mit der CDU gemacht hat, bin ich vollends auf Distanz gegangen und habe Vorträge in der SPD gegen diese Regierungsbeteiligung gehalten. Ich wollte nicht aus der Partei austreten, sondern mich lieber rausschmeißen lassen.

Da das dann zu lange dauerte, bin ich irgendwann in den 70er Jahren selber ausgetreten. […]

GWR: Kannst Du zur Gründung des Sozialistischen Büros (SB) etwas genaueres sagen? Was waren Eure Motivationen das Büro ins Leben zu rufen?

WDN: Ich war bei der Gründung nicht dabei. […] Ich wurde für mich überraschend gefragt, ich wusste gar nicht, dass mein Ruf über Konstanz und andere als hochschulpolitische Aktivitäten hinaus gereicht hatte. Ich war in der Notstandsdebatte der sogenannten außerparlamentarischen Opposition dabei. Ich bin dann überraschend vom Büro gefragt worden. Just 1969 bis 1971 war ich jedoch in den USA. Seit 1975 war ich dann aktives Mitglied des SB.

GWR: Du bist immer noch politisch sehr aktiv. Was sind da deine Hauptanliegen?

WDN: Ich bin nach wie vor im 1980 nach dem Russell Tribunal gegründeten Komitee für Grundrechte und Demokratie aktiv, vermittle diese oder jene Anregung und versuche sie umzusetzen.

Ich war vor allem daran beteiligt, die Demonstrationsbeobachtungen zu installieren. Aktivitäten gegen die elektronische Gesundheitskarte, gegen die durchgehend restriktive, vorurteilsfundierte Flüchtlings- und Asylpolitik gehören dazu und sind zentrale Themen. Insbesondere Frontex und die Art und Weise wie die Bundesrepublik mit Asylsuchenden umgeht – besonders mit Sinti und Roma – versuchen wir ohnmächtig zu skandalisieren. Jetzt haben Regierungsstellen wieder Leute in den Kosovo abgeschoben.

Das ist auch der Grund, warum ich mich in der Bundesrepublik nicht als fester Bürger fühle, sondern als displaced person.

Ich habe einen großen Vorteil: ich bin rechtlich Staatsbürger. Man kann mich nicht rausschmeißen.

Ich fühle mich aber in dieser Republik nicht zu Hause. Ich gehöre nicht zum wertestrotzenden und praktisch magersüchtigen „Bündnis der Demokraten“ oder anderer leicht käuflicher Make-Ups.

GWR: Kannst Du auf die Arbeit des Komitees für Grundrechte und Demokratie näher eingehen und beschreiben was Ihr an Arbeiten macht?

WDN: […] Uns ist erst im Kampf gegen die Berufsverbote der 70er Jahre, die augenmaßlose Hatz gegen die terroristischen Perversionen der RAF u. a. aufgegangen, wie zentral Bürgerrechte, recht und angemessener verstanden, Menschenrechte sind. Menschenrechte werden bewusst vorstaatlich verstanden, während Grundrechte eher staatsgegebene Rechte sind. Was von sich links dünkenden Leute leicht unterschätzt wird, ist, dass Urteile und eigene Verhaltensweisen einen Bezug auf die Menschenrechte haben sollten; und dass es sich bei Menschenrechten in Theorie und Praxis nicht um normative Zuckerwatte handelt. Deren soziale Bedingungen in einem weiten und auf den Grund gehenden Sinne, müssen wahrgenommen werden. […]

Als das Komitee, 1980, gegründet wurde, haben wir einen Kompromiss geschlossen: Wir wollten lieber „Menschenrechte und Demokratie“ als Bezeichnung.

Es gab aber doch eine Mehrheit von Linksliberalen dabei, die lieber „Grundrechte und Demokratie“ haben wollten. Die eher Radikalen sind geblieben und die eher „systemischen“ Linksliberalen sind überwiegend gegangen.

Wir haben teils in Kontinuität zum Sozialistischen Büro und teils mit neuen Themen menschenrechtliche Politik im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen politischen Programms jeweils ausschnittweise betrieben. Wir haben die Berufsverbote massiv bekämpft, haben dann das Demonstrationsrecht als zentralen Bezugspunkt genommen und uns gegen lebenslange Freiheitsstrafen und Zwangseinrichtungen generell eingesetzt. Wir haben vereinbart, dass wir keine Gelder aus staatlichen Töpfen annehmen. Wir haben uns nur über Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert. Das ist bis heute so geblieben, weil das die Unabhängigkeit einer radikalen menschenrechtlichen Arbeit schützt. Dass menschenrechtliche Arbeit, die nicht in der Luft schwebt, sondern mit der Ökonomie, mit der Art der sozialen Verteilung, mit durchgehender Teilnahme über den engen Flaschenhals sog. Repräsentativer Demokratie und dergleichen mehr zu tun hat. Für uns ist Freiheit und Gleichheit nicht zufällig zusammen. Gleichheit ist Voraussetzung von Freiheit wie wechselweise. Das geht anders nicht.

(1) 292 S., Preis: 18 Euro, ISBN 978-3-88906-137-9, Hg. und Bestelladresse: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7, 50670 Köln, www.grundrechtekomitee.de

Teil 2 des Interviews erscheint in der GWR 372

Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!

Veranstaltung mit Wolf-Dieter Narr, im Rahmen der 40 Jahre Graswurzelrevolution-Konferenz, 9. September, 10.00 - 12.00 Uhr, ESG, Breul 43, Aula

"Zum laborierenden Laboratorium anarchischer Umgangs- und Organisationsformen inmitten negativer Herrschaftsdialektik heute"

"Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!" war ein oft zu lesender Leitspruch der "Instandbesetzerbewegung" der 70er Jahre, Anfang der 80er Jahre in West-Berlin. Sie gab es und gibt es auch in anderen Städten und Ländern. Sie dümpelt punktuell in Form besetzter Häuer und meist bald wieder polizeilich zerstörten "Wagenburgen" dahin. Auch Occupy, eher globallokal, seit 2011 ff. bildet Muster davon nach, angefangen vom Namen selbst. Ich will an diese immer wieder erscheinende, meist weithin eher untergründige Bewegung erinnern. Meine Assoziation soll auf folgende Aspekte aufmerksam machen. Zum einen: soll auf anarchische Motive und sich spontan bildende Knoten aufmerksam gemacht werden. Anarchie ist potentiell und aktuell immer da. Zum anderen soll erkenntlich werden, wie randständig nicht die Motive, jedoch die Aktivitäten bleiben. Sie kommen und verschwinden und kommen wieder.

Die Schlüsselfrage lautet nicht primär: wie lassen sich gegebene herrschaftliche Formen unterwandern, lockern, Nischen finden, anarchische Flechten bilden u. ä. m.? Das auch. Sie lautet: sind anarchische Formen denkbar, und zwar hier und heute und im vorhersehbaren Morgen, an der sich potentiell alle Menschen orientieren können? Unterstellt wird im Sinne einer anthropologischen Prämisse, dass die radikale Erfüllung der Menschenrechte nur unter Bedingungen der Herrschaftsfreiheit möglich wäre.