Wenn ich die Nachrichten aus Syrien verfolge, muss ich an ein Bild denken, das ich 2009 im Zentrum von Damaskus aufgenommen habe (siehe Foto auf Seite 17). Es ist eine typische Szene aus einem Straßencafe, die sich genauso in Neapel oder Tel Aviv abspielen könnte. Im Vordergrund sieht man eine junge Frau mit offenem blonden Haar in ärmellosen T-Shirt, die in ihren Laptop vertieft ist. Sie ist online, das Cafe bietet wie viele andere Punkte der Stadt freien Wi Fi Zugang. Im Hintergrund einige junge Männer und Frauen mit langen offenen Haaren, sommerlich gekleidet und fröhlich miteinander plaudernd. Mit diesem Handy-Schnappschuss wollte ich meinen Freunden in Deutschland und auch mir selbst beweisen, dass Damaskus eine mediterrane und weltoffene Stadt ist, in der der islamische Fundamentalismus kein Zuhause hat.
Ich war in der Stadt, um gemeinsam mit dem syrischen Regisseur Nabil Maleh einen Film vorzubereiten über die Drusendörfer auf den Golanhöhen, die seit 1967 von Israel besetzt sind. In den Gesprächen, die ich in Damaskus führte, wurde immer wieder betont, dass man nichts so sehr fürchte wie die Geschehnisse im benachbarten Irak. Dort hat eine urbane Kultur mit einer breiten gebildeten Mittelschicht, die ein Kernelement zivilgesellschaftlicher Entwicklung ist, praktisch aufgehört zu existieren.
Damaskus und Bagdad lassen sich miteinander vergleichen, sie sind das Ergebnis Jahrtausende alter städtischer Hochkulturen, geprägt vom Zusammenleben unterschiedlicher Völker, Kulturen und Religionen, kosmopolitisch und säkular zugleich.
Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wollten sich diese Lebensweise nicht nehmen lassen, und nicht wenige schienen bereit, sich mit dem Baath-Regime zu arrangieren und dafür den Preis der politischen Unfreiheit zu bezahlen.
Es ist kein Zufall, dass der Aufstand im Hinterland Syriens begann und erst viel später die großen Städte an der Küste erreichte. Die agrarisch geprägte Landbevölkerung hatte nichts von der vierzigjährigen Klientel- und Günstlingswirtschaft einer kleinen Herrschaftsclique rund um die Familie Assad, die das Land mit einem monströs aufgeblähten Geheimdienstapparat beherrscht. Linke, aufgeklärte Westeuropäer neigen dazu, einem säkular geprägten autoritären Regime den Vorzug zu geben gegenüber der Gefahr einer archaischen religiösen Diktatur. Ich habe diesen Fehler 1992 ebenfalls begangen, als islamistische Fundamentalisten die demokratischen Wahlen in Algerien gewannen und ein Militärputsch sie anschließend in den Untergrund trieb.
Während mehrerer Reisen durch Algerien hatte ich ihre fanatischen Prediger in den Dörfern und Oasen im Hinterland kennen und fürchten gelernt. Ich beginne erst heute zu verstehen, woher der islamische Fundamentalismus seine Attraktivität bezieht.
Das Kosmopolitische, die ethnische und kulturelle Vielfalt der urbanen Gesellschaft übersteigt das Fassungsvermögen der Menschen aus den Dörfern und kleinen Städten des agrarisch geprägten Hinterlands und widerspricht ihrem Ideal einer eher konservativen geschlossenen Lebensform.
Das Baath-Regime hat sich die Unterstützung der BewohnerInnen der Städte gesichert und nie etwas dafür getan, um die Lebensqualität auf dem Land zu erhöhen. Es hat die Landbevölkerung missachtet und ihr offen seine Geringschätzung gezeigt. Diese jahrzehntelange Demütigung hat die Identität der Menschen in der Peripherie radikal in Frage gestellt und ihr Misstrauen gegenüber der fremden urbanen Welt geschärft.
Ein Blick auf die Entwicklungen in Tunesien lässt uns verstehen, warum der Islam aus der arabischen Revolte nicht wegzudenken ist. Wie war es möglich, dass in einem arabischen Land, in dem die Verwirklichung westlicher Ideale so weit fortgeschritten war, eine islamistische Partei die Oberhand gewinnen konnte?
Der Erfolg der Ennahda liegt in ihrer Botschaft: „Der radikale Bruch mit dem alten System wird nur möglich durch die Wiedergewinnung des Stolzes auf arabisch-muslimische Identität. Das haben die tunesischen Laizisten als Hieb gegen Verwestlichung verstanden. Aber die Botschaft vom Stolz ist viel simpler; sie streicht heilende Salbe auf die gequälte arabische Psyche, auf die Wunden jahrzehntelanger Demütigung und Selbstdemütigung.“ (1)
Der Aufstand gegen die Diktatur in Syrien ist auch der Kampf um die Wiedergewinnung der Identität. Die Revolte war viele Monate lang strikt gewaltfrei. Erst die brutale und gezielt menschenverachtende Reaktion des Regimes hat die Gewaltspirale ausgelöst. Der Hass gegen den Diktator kann sich in eine entfesselte Wut gegen die Polis und ihre Symbole verwandeln, die die gemeinsame Kultur und Geschichte zerstören würde. (2)
Paolo Rumiz hat in seiner leider viel zu wenig beachteten Analyse des Zerfalls Jugoslawiens aufgezeigt, wie dieser offenbare Gegensatz zwischen den Lebenswelten der städtisch und bäuerlich geprägten Kultur politisch manipuliert und in einen ethnischen Konflikt umgemünzt wurde. (3)
Dem Assad-Regime ist es gelungen, den spontan gewaltfreien Widerstand in einen blutigen Bürgerkrieg zu verwandeln, der scheinbar ethnisch und religiös motiviert ist. Um zu verstehen, wie es die Diktatur erreichen konnte, Menschen zu Bestien zu machen, muss man die entscheidende Rolle der Schabiha berücksichtigen.
Das Regime griff die DemonstrantInnen – unbewaffnete Frauen und Männer, Alte und Kinder – mit den Schabiha-Milizen an, deren Mitglieder aus dem subproletarischen Milieu der Küstenstädte stammen, die mehrheitlich von Alawiten bewohnt werden. Diese jungen Männer sind mit den „einfachen Soldaten“ der italienischen Mafia vergleichbar, sie sind streng hierarchisch organisiert und haben nichts zu verlieren. Sie verdienen sich ihren Unterhalt mit Schmuggel und Erpressung. Ihre alawitische Zugehörigkeit macht sich das syrische Regime zunutze.
Das sagt jedoch nichts über ihre Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit aus, die sich jederzeit gegen jede Volksgruppe in Syrien richtet. Seit ihren Anfängen in den siebziger Jahren stand die Schabiha unter dem Schutz der Diktatur. Der Assad-Clan hat sich praktisch eine Bande im Standby-Betrieb gehalten, die seit 2011 als Todesschwadron zum Einsatz kommt. (4)
Die oppositionelle syrische Journalistin Samar Yazbek, die aus einer alteingesessenen alawitischen Familie stammt, wurde von Mitgliedern der Bande verfolgt. Diese jungen tätowierten Männer mit aufgepumpten Muskeln und dem Tod im Blick befolgen keine Befehle von Offizieren der Armee. Sie gehorchen einer höheren Gewalt: „Ich hörte das Aufheulen ihres Autos, eine Staubwolke umhüllte den Wagen, der wie wahnsinnig lospreschte.
Ich schrie: ‚Das sind Verbrecher, die haben Pistolen!‘ Der Offizier drehte mir den Rücken zu und ließ mich bei seinen Soldaten zurück. Der Soldat, der beinahe von dem Auto angefahren worden wäre, war wütend. Er kam zu mir und sagte: ‚Fahren Sie weiter, Schwester, das sind Sachen, die uns nichts angehen.'“ (5)
Die Kommentare in den westlichen Medien spekulieren über den Einfluss fremder Mächte und bemühen sogar den alten Ost-West-Konflikt und dessen geostrategische Komponente, um den Bürgerkrieg in Syrien zu erklären. Dabei versuchen sie nur in den seltensten Fällen einen innersyrischen Blickwinkel einzunehmen. Die Bürgerkriegsparteien sind jedoch keine ferngesteuerten Statisten, die sich hundertprozentig von geostrategischen Interessen manipulieren lassen. Sie verfolgen durchaus ihre eigene Agenda und sind dabei natürlich auch auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen.
Wenn wir uns die Kriege ansehen, die in der benachbarten Region um Afghanistan geführt wurden und immer noch werden, können wir leicht feststellen, dass es sich nicht nur um Kriege zwischen Afghanistan und ausländischen Mächten handelte. Es gab zugleich immer den Konflikt innerhalb Afghanistans zwischen der städtischen Bevölkerung vor allem in Kabul, die Modernisierung wollte und vorantrieb, und einer Landbevölkerung, die sich jedem sozialen Wandel gewaltsam widersetzte. Beide Seiten haben sich ihre Unterstützung unter anderem auch im Ausland gesucht. Dabei spielten und spielen ideologische Ausrichtungen eine untergeordnete Rolle. Die urbane Elite Kabuls fragte sich in erster Linie, wer die Modernisierung zustande bringt. Sie versuchte, ihre Interessen der Reihe nach mit der konstitutionellen Monarchie, einem „Sozialismus“ sowjetischen Stils und heute einer von Nato-Truppen beschützten „Demokratie“ durchzusetzen. Dabei geht es in erster Linie um Kompetenz, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass ehemalige kommunistische Kader heute wieder an Schaltstellen der aktuellen Regierung sitzen und dort die kompetentesten Akteure sind. (6)
Vor dem Hintergrund der eigenen sozialen und kulturellen Herkunft stehen wir westlichen Beobachter des Bürgerkriegs in Syrien der weltoffenen städtischen Kultur und ihrem Modernisierungswillen sehr viel näher als dem Beharrungswillen einer konservativen Landbevölkerung, die dem sozialen Wandel misstraut. Meine Annäherung ist ähnlich verlaufen, und es ist kein Zufall, dass meine Gespräche und Beobachtungen in Damaskus in erster Linie im säkular bürgerlichen und intellektuellen Milieu angesiedelt waren. Die Dominanz der städtischen Kultur in der öffentlichen Wahrnehmung führt zu einer Verzerrung der Wirklichkeit und verstärkt das Unterlegenheitsgefühl der bäuerlichen Bevölkerung. Ideologische Falschmünzer wenden es in ethnische Überlegenheit, womit der Ethnisierung des Konflikts Tür und Tor geöffnet wird. Westliche Medien spielen das Spiel mit.
In der Ära nach dem Sturz des Assad-Regimes wird sich zeigen, ob die Syrer noch genügend Toleranz besitzen, in einer gemeinschaftlichen Kraftanstrengung, die Peripherie zu modernisieren, um dort den Lebensstandart anzuheben, ohne zugleich die konservativen Wertemuster der bäuerlich und religiös geprägten Menschen zu missachten und ihre Identität infrage zu stellen. Ohne offensive Auseinandersetzung mit dem Stadt-Land-Konflikt wird es meines Erachtens zu keiner langfristig stabilen Befriedung kommen.
Mein Kollege Nabil Maleh, den ich 2009 in Damaskus besuchte, ist inzwischen vor drohender Verhaftung nach Dubai geflüchtet. Ich habe ihm kürzlich drei Fragen gestellt, die er im nebenstehenden Interview beantwortet.
(1) Charlotte Wiedemann: Tunesisch denken; in Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe, November 2011
(2) Der britische Economist schrieb Ende August 2012, dass es den bewaffneten Gruppen nicht gelungen sei, die Bevölkerung der beiden Städte Damaskus und Aleppo für sich zu gewinnen. Die Aufständischen seien größtenteils Bauern, denen die Städter skeptisch gegenüberstünden. Zudem hätten die Rebellen standrechtliche Erschießungen und Hinrichtungen von Assad-Getreuen durchgeführt, was bei Bürgern Entsetzen und Abscheu ausgelöst habe (zit. nach FR, 3.9.2012, S. 9).
(3) Paolo Rumiz, Masken für ein Massaker. München 2000
(4) In their most basic form, the shabiha are defined by four essential characteristics. The first is the bonds of blood and sect that link them to the family of the ruler. The second is a predisposition to be hostile towards society, which makes them a perfect means to practice violence, both organized and arbitrary, against the civilian population. This anti-social tendency may be a distorted version of the anti-authoritarian, subversive attitudes that prevail in all marginalized and minority social groups. Such attitudes contain a kind of primitive democratic thought, but in the Assad era they have been inverted and transformed into a hostile, conservative worldview placed in the service of dictatorship and social fragmentation. The third characteristic is their obedience to their leaders, a form of fetishism facilitated by ties of kinship and obligation. Finally, there is also powerful economic motive. Many of the shabiha work as smugglers. (The Syrian Shabiha and their State by Yassin al-Haj Salih, 2012)
(5) Samar Yazbek, Schrei nach Freiheit, München 2012
(6) vgl. dazu Cristian Parenti: Wer war Nadschibulla? In: Le Monde Diplomatique, deutsche Ausgabe, August 2012