anarchismus

„Die anarchistische Konzeption nimmt das Gegenüber ernst“

Ein Gespräch mit Wolf-Dieter Narr. Teil 2

| Interview: Bernd Drücke und Muriel Schiller, Juli 2012

Der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr (* 1937) ist u.a. aktiv im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Er reiht sich "selbst in die anarchistische Tradition ein" und ist häufiger Autor der Graswurzelrevolution. Mit ihm sprachen GWR-Redakteur Bernd Drücke und GWR-Praktikantin Muriel Schiller. Das gekürzte Interview drucken wir voraussichtlich in drei Teilen ab. Teil 1 erschien im September in der GWR 371 unter dem Titel "Menschenrechtliche Arbeit, die nicht in der Luft schwebt". Teil 3 erscheint im November in der GWR 373. (GWR-Red.)

GWR: Was sind konkrete Erfolge, die das Komitee für Grundrechte und Demokratie vorzuweisen hat?

Wolf-Dieter Narr (WDN): Ich bin immer Berufsskeptiker gewesen und wenn ich die Entwicklung der Bundesrepublik sehe, speziell in meinem Bereich der Universität, dann ist das eine schiere Katastrophe. Es ist ein richtiges Verbrechen wie mit den Kindern und Jugendlichen umgegangen wird, wie die getrimmt werden und wie perspektivlos sie in eine Welt kommen, die sie nicht verstehen. Zu unseren Erfolgen würde ich sagen, dass wir dadurch, dass wir mit den sozialen Bewegungen zusammen demonstriert haben, es geschafft haben, mehr Leuten als einer kleinen Gruppe deutlich zu machen, dass das Demonstrationsrecht gerade in einer sogenannten repräsentativen Demokratie essentiell ist. Diese repräsentative Demokratie ist ohnehin eine immer an der Blutlosigkeit leidende, die im Grunde so nicht funktionieren kann. Die Demonstrationen alleine sind zwar nicht ausreichend, um die Demokratisierung weiterer Bereiche – also Schule, Krankenhäuser und dergleichen mehr – voranzutreiben, aber wir haben den Artikel 8 des Grundgesetzes offengehalten.

Es gibt natürlich auch rechte Gruppen, die wir nicht lieben, beispielsweise die NPD. Diese nutzen das aus. Mit Verboten kann man keine Lösung herbeiführen: jeder innenpolitische Geheimdienst, wie der Verfassungsschutz, ist nichts weiteres, als eine schwelende Wunde jeder Art von bürgerlich-demokratischer Gesellschaft. […] Ein weiterer Erfolg ist das Ausbreiten eines anderen Denkens. Eine gewisse Kritik hat sich gewissermaßen von selbst verstanden. Das Besuchen einer Demonstration wird nicht mehr per se als etwas „linksradikales“ angesehen.

GWR: Kannst Du uns etwas darüber erzählen, wie es dazu kam, dass Du dich mit Themen wie Anarchismus beschäftigt hast?

WDN: Mir ist es erst spät bewusst geworden, dass das anarchistische Motiv schon immer in meinem Herzen gewirkt hat. An der Ordinarienuniversität war ich von Anfang an kritisch.

Ich habe niemanden mit „Professor“ angeredet und habe diesen Titel später auch nicht geführt. Ein herrschaftskritisches Element war seit dem ersten Semester bei mir vorhanden, aber erst später ist mir klar geworden, dass die anarchistische Idee demokratisch-menschenrechtlich nur konsequent ist. Die anarchistische Konzeption ist radikaldemokratisch, lässt Kritik zu, nimmt das Gegenüber immer ernst und stellt jede Form von Hierarchie in Frage. Keine Organisation wird davon leben können, dass alles spontan geschieht.

Alle Organisationen haben die Tendenz ein Stück Ungleichheit hervorzubringen. Wenn man sich das vor Augen hält, hilft es, die Organisation von einer rigiden Form fernzuhalten.

Für mich und mein Fach, also die politische Soziologie, die politische Wissenschaft und Soziologie, hat sich eine anarchistische Herangehensweise gebildet. Dies geschah vor allem vor der Frage: Wie kann man denn eine Gesellschaft nicht-staatlich organisieren, ohne zu denken, dass plötzlich alle Menschen fröhliche Säuglinge wären? Wie kann man eine große problembehaftete Gesellschaft organisieren, ohne dass es ein Monopol der physischen Gewalt gibt? Insofern steht im Anarchismus für mich die Gewaltfreiheit ganz zentral.

Bakunin aus heutiger Sicht zu kritisieren ist unsinnig. Bakunin hat Gutes geleistet, es kommt darauf an die zentralen Prinzipien ins Heute zu übertragen, als frühere Jahrhunderte zu kritisieren. Kropotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ ist zwar teilweise naiv, aber wunderbar.

Diese Naivität ist nicht blind, sondern zeigt, was generell von Natur aus möglich ist. Meine Konzeption von Menschenrechten ist schon die, dass es keine Ontologie von guten Menschen gibt, sondern dass man das vor dem sozialen Hintergrund sehen muss. Das kann man vom Nationalsozialismus lernen: Das meine Eltern Nazis geworden sind, lag nicht in ihrer Natur. Dazu kenne ich sie zu gut. Menschen sind hochgradig von ihren äußeren Bedingungen abhängig.

Es ist wichtig das Bild einer Gesellschaft auch vor diesem Hintergrund zu sehen und zeitgemäße Veränderungen zu installieren. Den aufrechten Gang muss man lernen, muss man täglich üben, er ist nicht selbstverständlich.

Wenn fast alle Menschen ihn beherrschen, besteht die Chance, dass auch diejenigen, die ihn nicht beherrschen, so behandelt werden können, dass sie nicht in Gefängnisse geworfen werden.

GWR: Heute Abend hältst Du auf Einladung der Occupy-Bewegung in Münster einen Vortrag an der Uni. Worum geht es da und was möchtest du den – überwiegend jungen – Menschen erzählen?

WDN: Ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die Kontakt zu mir aufgenommen haben, selber merken, dass Occupy mit seiner Spontaneität und Programmlosigkeit wunderbar ist. Es ist partiell wie die Pariser Kommune: Einfach mal die Herrschaft loswerden. Man hat kein großes theologisch oder marxistisch geprägtes Programm, sondern kommuniziert miteinander herrschaftsfrei. Das finde ich wunderbar. Aber die Einladenden hatten den Eindruck, dass die Idee von Occupy auch in der Universität ausgeweitet werden muss.

Da man in einer Gesellschaft lebt, die eine Fülle von komplexen Sachverhalten aufweist, kann man da nicht in einer falschen Weise naiv rangehen.

Es ist notwendig zu lernen was auch zum Menschen gehört, um die Welt zu verstehen. Es ist ein Menschenrecht, dass von diesem unsäglichen Bologna-Prozess und sogenannter Exzellenzlehre behindert wird, soviel wie möglich von der Welt zu verstehen, bewusst zu leben und mitbestimmen zu können. […] Als ich für den Vortrag angefragt wurde, habe ich sofort zugesagt und selbstverständlich kein Honorar verlangt.

Organisatorisch sollten sie [die Einladenden von Occupy Münster, d.S.] die Sache aber anders angehen. Mit einem Vortrag über die EU, Griechenland oder Frau Merkel kann man – selbst wenn er gut ist – in einer Stunde vor einem Publikum, das man gar nicht kennt, nur einige Schlagworte abgeben, aber nichts vermitteln. Eine andere Veranstaltungsform wollten sie aber nicht. Wir haben uns dann geeinigt, dass wir einen Seminarvortrag machen. Ich werde so anfangen, dass ich am Anfang die Kommilitonen fragen werde, ob sie Fragen haben, was sie erwarten, was sie wollen. Und danach werde ich über den Zusammenhang von Politik und Ökonomie sprechen. Je nachdem wie weit ich komme, werde ich das dann an Hartz IV, dem Grundgesetz oder der EU festmachen. Ich werde immer wieder schauen, ob Rückfragen da sind und am Ende das Angebot machen, in den E-Mail-Verteiler aufgenommen zu werden. […]

Die jungen Leute sind eher passiv, scheinaktiv oder werden passiv gemacht. Aber irgendwo muss man anfangen. Jeder Tag beginnt neu und wenn jemand meint, man könnte Menschenrechte irgendwann mal abhaken, der täuscht sich darüber, dass das Recht und die Selbstständigkeit dann stirbt, wenn es nicht jeden Tag geübt wird. Wird die Selbstständigkeit nicht jeden Tag übt, ist sie am größten, wenn man im Bett liegt.

GWR: Hast Du die Hoffnung, dass die Passivität der Gesellschaft sich zum Guten verändern wird?

WDN: Ich habe aufgrund meiner Kenntnisse über den Weltmarkt, die Weltbank und deren Dynamik, in dieser Hinsicht keine Zukunftsperspektive. Die Entwicklung des Internets, geht dahin, dass Freiheit schwinden wird. Alle Informationen jederzeit verfügbar zu haben nützt nichts, wenn man keine Urteilsbasis hat. Das Internet ist ein geeignetes Instrument eine Superbürokratie zu errichten.

Ich bin nicht sehr optimistisch, aber wir wissen, dass es kein Ende der Geschichte gibt. Es geht weiter und möglicherweise werden die Probleme der Menschen noch größer. Klimawandel und alternative Energien sind nicht im Sinne des nachhaltigen Wachstums inserierbar. Auch die alternativen Energien haben Kosten für das soziale Dasein.

Wir wissen noch nicht, ob das alles hinhaut. Ich hoffe, dass es genügend kritische Leute gibt, die das im Auge behalten.

Dass die sozialistische Gesellschaft, in meinem Sinne, kommen wird, nehme ich mit Sicherheit an. Es lohnt sich dafür zu streiten.

Eine Lektion für jüngere Leute wäre es, auch singend mit einer Pfeife im Mund Niederlagen zu ertragen.

GWR: Du hast mehrfach ausgeführt, dass Krieg, Militär und Rüstung sich nicht mit Menschenrechten vereinbaren lassen. Was bedeutet das konkret?

WDN: Wenn man Menschenrechte im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Konzeption ernst nimmt, sie gewissermaßen mit den Augen, den Beinen, dem Kopf materiell erfährt und sie nicht als abstrakte Normen begreift, kann man nicht nur sagen „Die Unversehrtheit des Körpers ist wichtig“, da wir in einer Gesellschaft leben, in der permanent die Unversehrtheit verletzt wird.

Es kann schlichtweg versäumt werden, die Menschenrechte zu bewahren. Im Nationalsozialismus sind meine Eltern tief schuldig geworden, das wird nie wieder weggehen. Es kann von Menschen unmenschliches ausgehen. Das macht sie nicht automatisch zu Unmenschen, aber Menschen sind in der Lage je nach gesellschaftlichem Kontext Verbrechen zu begehen, die nicht mehr wieder gut zu machen sind.

Der oft völlig blödsinnig zitierte und verwendete Ausspruch eines meiner größten Lehrer, dem Theodor W. Adorno, es gäbe kein richtiges Leben im Falschen bedeutet: es ist eine tägliche Aufgabe herauszufinden, wie es richtig aussehen kann. Wenn tatsächlich vieles in der Gesellschaft falsch ist, wie kann man sich dann am Richtigen orientieren, ohne mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen?

Da gibt es dieses Bild von zwei Freunden. Der eine schlägt mit dem Kopf gegen die Wand und hält sich den Kopf, weil er wehtut. Da fragt der Andere, warum er dies tut. Darauf erwidert der Erste, dass er erfahren möchte wie der Schmerz nachlässt. Das ist natürlich keine sinnvolle Verhaltensweise.

Sinnvoll ist es zu wissen, dass man täglich scheitern kann und dass es genauso sinnvoll ist täglich mit Kalkül aber nicht opportunistisch in die Welt zu gehen. Wenn ich täglich an meiner Behinderung leide, leide ich an etwas, was nicht mehr behebbar ist. Ich kann damit aber so umgehen, dass ich nicht daran verzweifle.

Anmerkungen

Transkription/Bearbeitung: Martin Schlüter und Bernd Drücke

Teil 3 des Interviews erscheint in der GWR 373