Helge Döhring: Kein Befehlen, kein Gehorchen! Die Geschichte der syndikalistisch-anarchistischen Jugend in Deutschland seit 1918. Apropos Verlag, 426 Seiten, Bern Ende 2011, ISBN 978-3-905984-07-1, 14 Euro
Gesamtdarstellungen der Geschichte der anarchistischen und syndikalistischen Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit sind rar. In der Forschung fand diese Minderheitenströmung lange Zeit kaum Beachtung.
Pionierarbeit haben auf diesem Gebiet vor allem Ulrich Linse, Uli Klan und Dieter Nelles geleistet. Mittlerweile liegt eine stattliche Zahl von Einzeldarstellungen, lokalen und regionalen Forschungsberichten sowie Überlieferungen von ZeitzeugInnen vor, die sich zentral oder punktuell auch mit diesem besonderen Kapitel befassen.
Die offenbar zu Rate gezogene Literatur des Autors einer unlängst erschienenen Schwerpunktstudie wäre deshalb durchaus zu ergänzen.
Die vom Historiker Helge Döhring mit „Kein Befehlen, kein Gehorchen!“ vorgelegte Gesamtdarstellung zur SAJD ist opulent. Zugleich liefert sie einen Überblick über anarchosyndikalistische Nachkriegsversuche, die mehr oder weniger an die Tradition der Weimarer SAJD anknüpften, ohne dabei organisatorische Kontinuitäten aufweisen zu können.
Ausschlaggebend, sich eingehender mit ihrer Geschichte zu befassen, waren nach eigenem Bekenntnis Döhrings die ab 2009 zunächst wie Pilze aus dem Boden schießenden lokalen Gruppen der Anarchosyndikalistischen Jugend (ASJ), denen er den zweiten (Interview-)Teil seiner Untersuchung widmet.
Abgerundet wird der Band durch einen umfangreichen und guten Dokumentenanhang.
An einigen Stellen wirkt Döhrings Eifer jedoch wie überschießende Akribie, die den sonst guten Lesefluss eher störend beeinflusst. Etwa die Auflistung sämtlicher Regionaltreffen und Tagesordnungspunkte der neuen ASJ in NRW.
Oder die detaillierte Erklärung des Funktionskörpers eines Vereins, um nur zwei Beispiele zu nennen. Demgegenüber bleiben Lücken und Ungenauigkeiten, etwa durch das Fehlen einer Darstellung des Verhältnisses der SAJD zu den kommunistischen Anarchisten (FKAD).
Auch die Auflistung der SAJD-Gruppen ist ungenau. Zwar wird das FKAD-Organ „Der freie Arbeiter“ am Ende in den Quellen erwähnt. Doch wurde es wohl nicht im erforderlichen Maße zurate gezogen.
Im Kapitel über die heutigen ASJ wäre gerade die Darstellung von Gruppen interessant gewesen, an deren Orten und in deren unmittelbarer Umgebung keine lokale FAU existiert. So entsteht eher der Eindruck, die Auswahl der interviewten Gruppen wurde auf der Grundlage direkter Beziehungen des Autors getroffen. Das ist schade!
Döhring setzt sich dadurch positiv ab, dass er überwiegend der konstruktiven Arbeit der SAJD Raum gibt, statt den anfänglichen Reibereien mit der Erwachsenorganisation FAUD oder zunächst in der Jugendbewegung einflussreichen Persönlichkeiten wie Ernst Friedrich.
Fazit: Ein Buch, das viel Widerspruch auslöst. Über einige Darstellungen des Autors kann man gewiss streiten. Z.B. dass junge Menschen per se „offener“ seien. Oder dass Artikel einzelner AutorInnen in Verbandsorganen wie „Der Syndikalist“ oder „Junge Anarchisten“ repräsentativ für die Gesamtausrichtung einer Organisation sein sollen.
Andere kann ich schlicht nicht teilen: Etwa, wenn der Begriff „Proletariat“ so offenkundig eng und starr gefasst wird wie vom Autor.
Neuzusammensetzungen sind damit nicht erfassbar und machen zeitgemäße Analysen leider unmöglich. Gerade das sollte aber eines der Anliegen seines Buches sein.
Anmerkungen
Die vollständigen libertären buchseiten 2012 gibt es auch als PDF zum Download.