Nachdem die Stuttgarter Widerstandsbewegung gegen das Großprojekt S21 Ministerpräsident Mappus im Frühjahr 2011 endlich los war, glaubten viele, dass mit der neuen Grün-Roten Landesregierung auch ein Ende des wortwörtlichen Durchprügelns von S21 gekommen war. Damit hatten sie Recht - aber anders, als sie dachten.
Es ist Punkt sechs Uhr an einem Freitagmorgen, Mitte August 2011, als es an der Wohnungstür des Stuttgarter Fotografen Jens Volle klingelt. Zwei Mal, lang und schrill hallt es durch die morgendliche Stille.
Er zieht sich schnell etwas über und öffnet die Tür. Im Hausflur warten mehrere Beamtinnen und Beamte, allesamt in Zivilkleidung. Eine blonde Frau stellt routiniert einen Fuß in die Tür, so dass diese nicht mehr schnell zugezogen werden kann. „Guten Morgen. Polizei Stuttgart, Dezernat Staatsschutz. Wir haben hier einen Durchsuchungsbeschluss, der Sie betrifft.“
Durch den Türspalt reicht sie ihm mehrere DIN A4-Seiten mit den Worten, es handele sich um die Vorkommnisse am 20.6. auf dem Gelände für die Baustelle des Grundwassermanagements (GWM). Jens überfliegt die Zeilen: Vorwurf u.a. schwerer Landfriedensbruch. Sämtliche gespeicherte Fotos seien sicherzustellen. Nachdem er die BeamtInnen in die Wohnung gelassen hat, beginnen sie zielstrebig Laptop, PC und sämtliche Speicherkarten der Kamera des professionellen Fotografen einzusammeln. Er wird gefragt, ob er noch weitere Speichermedien irgendwo habe.
Dies verneint er – trotzdem folgt darauf der Blick in den Backofen und in den Schuhschrank, die Badezimmertür wird nur kurz geöffnet. Dann muss Jens Volle mit aufs Revier, er wird fotografiert, gemessen, gewogen und seine Fingerabdrücke werden abgenommen. Dann darf er wieder gehen.
Die nächsten drei Tage verbringt er bei seinen Eltern und seiner Freundin, aus Angst, sie könnten wieder kommen.
Es braucht mehrere Monate, bis er sich in seiner Wohnung wieder einigermaßen sicher fühlt. Von den Behörden hat Jens Volle seither nichts mehr gehört.
„Mittlerweile bin ich sicher, dass man mich als kritischen Berichterstatter nur einschüchtern und an meine Bilder wollte. Ich glaube nicht mehr, dass es noch zu einer Verhandlung der absurden Vorwürfe wegen dem 20.6. kommt“, konstatiert er ein Jahr später.
20.6.12: Eine Baustellen-Besetzung und die Folgen
Der Fotograf Jens Volle ist einer der vielen S21-GegnerInnen, die unter den Repressionen der Stuttgarter Behörden zu leiden haben.
Waren es am 30.9.2010, dem „Schwarzen Donnerstag“, noch Wasserwerfer, Knüppel und Pfefferspray, die hunderte aufmüpfige StuttgarterInnen direkt am eigenen Körper zu spüren bekamen, ist die Wirkung der Maßnahmen nach dem besagten 20.6.2011 subtiler und selektiver.
Doch wie kam es überhaupt dazu?
Im Anschluss an eine der wöchentlichen Montagsdemos am 20. Juni 2011 hatten etwa 800 S21-GegnerInnen einen Baustellenplatz für die Grundwassermanagement-Anlage (GWM) für einige Stunden besetzt. Einige lose Rohre der Anlage wurden beschädigt oder über den Zaun des Geländes geworfen, bei einem LKW wurde die Luft aus den Reifen gelassen und Zucker in den Tank geschüttet, eine Lichtanlage beschädigt und die gesamte Örtlichkeit wurde mit hunderten von Anti-S21-Aufklebern beklebt. Zudem wurde ein Böller gezündet und es gab ein kurzes Gerangel mit einem bewaffneten Zivilbeamten, der darauf ins Krankenhaus fuhr.
Die AktivistInnen bemerken viele Ungereimtheiten: Wer stürzte den Zaun des Geländes um? Wer zündete den Böller? Warum klagten nur Polizisten über ein Knalltrauma und kein einziger Demonstrant?
Was hatte ein bewaffneter Zivilbeamter auf einer Demonstration zu suchen? Wurden womöglich agents provocateurs eingesetzt? Für die Behörden gab es ein klares Fazit: Schwerer Landfriedensbruch, gemeinschaftliche, schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung in Millionenhöhe.
Die Hausdurchsuchungswelle bricht los
Schon Anfang Juli 2011 sollte es dann zu einer Durchsuchung des Parkschützer-Büros und der Privatwohnung des Pressesprechers der S21-GegnerInnen, Matthias von Herrmann, kommen – wegen eines frei zugänglichen Youtube-Videos, das er ein paar Tage vorher bei einer Pressekonferenz gezeigt hatte. Nachdem von Herrmann den BeamtInnen einen Datenträger mit dem Video übergab, verzichteten diese auf eine Durchsuchung der Räumlichkeiten.
Noch bei mindestens zwei weiteren Fotografen und einem halben Dutzend Livestream-Filmern der Plattform Cams21 wurden Hausdurchsuchungen Ende Juli und Anfang August 2011 durchgeführt. Etliche Laptops, Kameras und sonstige Speichermedien der freien Journalisten wurden beschlagnahmt und erst nach Wochen wieder zurück gegeben.
Hieß es bei den ersten Hausdurchsuchungen im Juli noch, es handelte sich hier nur um Zeugen, waren alle späteren Fälle zugleich mit der Beschuldigung einer Straftat – meist schwerer Landfriedensbruch, Sachbeschädigung oder Körperverletzung – verbunden.
Jede könnte die nächste sein…
Bei etlichen Demos, bei Blockadeaktionen oder auch einfach so im Schlossgarten patrouillierten anschließend Grüppchen von PolizistInnen, ausgestattet mit Steckbriefen der verdächtigen S21-GegnerInnen.
Wurde man „erkannt“, wurden die Personalien festgestellt oder abgeglichen. Wer richtig Pech hatte, musste gleich mit aufs Revier zur erkennungsdienstlichen Behandlung (ED).
Ein paar wenige erhielten die Vorladung zur ED direkt per Post, ohne vorher von BeamtInnen auf der Straße mit dem Steckbrief abgeglichen zu werden. Es erwischte auch manche, die nachweislich am 20.6. gar nicht in Stuttgart waren. Eine angstvolle Stimmung machte sich breit: Jede könnte die nächste sein. Auch die Demoteilnehmerzahlen gingen im Laufe des letzten Jahres zurück.
Unerwünschtes BürgerInnenengagement?
Nicht nur die Vorfälle am 20.6. führten zu Hausdurchsuchungen bei S21-GegnerInnen.
Die Gründe sind dabei so vielfältig, wie absurd. Ein Scherz über Twitter? Hausdurchsuchung. Protestbriefe an Bau-Unternehmen, die sich an Stuttgart 21 beteiligen? Hausdurchsuchung. Bei einer Blockadeaktion liegt eine Molotow-Cocktail-Bastelanleitung auf der Straße? Hausdurchsuchung.
Ein Onlineformular, um Protestmails an PolitikerInnen zu versenden? Hausdurchsuchung.
Etwa 20 Hausdurchsuchungen innerhalb der letzten 2 Jahre zählen die S21-GegnerInnen.
Es könnten aber noch mehr sein, da sich nicht jeder beim zuständigen Arbeitskreis der Parkschützer meldet. Polizei und Staatsanwaltschaft führen nach eigener Aussage keine Statistiken mehr über S21-Anzeigen. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hatte mit solch einer Datensammlung im Frühsommer 2010 einmal begonnen. Doch schon nach einem dreiviertel Jahr und 1494 gezählten S21-Verfahren war Schluss.
Die Datenmenge sei einfach nicht mehr zu bewältigen gewesen, heißt es bei der Pressestelle der Staatsanwaltschaft.
Ein ehemaliger Richter erlangt ungewollt Prominenz
Dass mit der Hausdurchsuchungswelle auch nach dem Fällen der verbliebenen Bäume im Mittleren Schlossgarten noch immer nicht Schluss ist, zeigt der jüngste Fall dieser behördlichen Praxis.
Der ehemalige Staatsanwalt und Richter a.D. Dieter Reicherter war am 30.9.2010, dem „Schwarzen Donnerstag“, Zeuge des überzogenen Polizeieinsatzes im Stuttgarter Schlossgarten. Seit Ende 2010 arbeitet Reicherter in verschiedenen Gruppen mit, um insbesondere eine Aufklärung der Geschehnisse des 30.9.2010 zu erreichen.
Am 24.2.2012 veröffentlichte Reicherter Informationen zur Überwachung von S21-GegnerInnen, über den Einsatz von verdeckten Ermittlern im S21-Widerstand und das Nutzen von Informationen des Verfassungsschutzes über diese.
Er war in den Besitz entsprechender Dokumente der Sicherheitsbehörden gelangt, der die Gefährdungslagebilder verschiedenster Aktivitäten der S21-GegnerInnen erfasst.
Selbst Gottesdienste wurden hier, neben Treffen der Seniorinnen gegen S21 und anderer Fach- und Aktionsgruppen, aufgelistet. (1)
Erst 4 Monate später bekam Reicherter die Reaktion der Behörden zu spüren – mit einer Hausdurchsuchung. Während er sich Ende Juni für einige Tage im Ausland aufhielt, durchsuchten Staatsanwaltschaft Stuttgart und Polizeikräfte sein Haus und beschlagnahmten zwei Computer sowie schriftliche Unterlagen. Ihm wurde weder eine freiwillige Herausgabe der gesuchten Beweismittel angeboten, noch die Möglichkeit gegeben, zumindest einen Zeugen zur Überwachung der Durchsuchung zu kontaktieren.
NachbarInnen wurden Befragungen zu seiner Person unterzogen, in denen wahrheitswidrig erklärt wurde, dass er verschollen sei. Reicherter macht seine Erfahrungen öffentlich, die Resonanz ist groß.
Etliche Medien, darunter der Spiegel sowie verschiedene Tageszeitungen und Fernsehmagazine berichten ausführlich über seinen Fall. Die anderen Hausdurchsuchungen werden in der Berichterstattung oft nicht einmal erwähnt.
Ein harter Kern lässt sich nicht einschüchtern
Immer noch finden fast wöchentlich Blockadeaktionen vor den Baustelleneinfahrten statt. Zu den Montagsdemos kommen jede Woche noch 1.000 bis 2.000 S21-GegnerInnen, die sich offensichtlich nicht so leicht in ihrem Engagement beirren lassen. „Wenn man begreift, was mit der Repression bewirkt werden soll, dann lässt man sich auch weniger leicht einschüchtern“, meint Jens Volle. Und Dieter Reicherter erklärt: „Sofern der Zweck der Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktion gewesen sein sollte, mich einzuschüchtern und von meiner Arbeit abzuhalten, möchte ich klarstellen, dass dies nicht gelingen wird. Im Gegenteil…“. (2)
(1) Der Text Reicherters zur Uberwachung der S21-GegnerInnen findet sich hier: www.bei-abriss-aufstand.de/2012/02/25/bespitzelt-der-verfassungsschutz-parkgebete/
(2) Dieter Reicherters Erklärung zu seiner Hausdurchsuchung ist hier nachzulesen: www.bei-abriss-aufstand.de/2012/07/15/hausdurch suchung-erklarung-von-richter-reicherter/
Anmerkungen
Julia von Staden ist Soziologin und freie Journalistin. Sie ist in verschiedenen Gruppen des Widerstands gegen S21 aktiv.