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Gegen postkoloniale Justiz!

Ein Kommentar zum Urteil im Hamburger "Piraten"-Prozess

| reclaim-the-seas.blogspot.com

"Ich spüre ein großes Unrecht", sagte einer der Angeklagten. "Betroffen ist die Freiheit des internationalen Seeverkehrs", sagte der Richter. Der seit fast zwei Jahren andauernde 'Piraten'-Prozess gegen zehn somalische Angeklagte in Hamburg ist am 19. Oktober 2012 zu Ende gegangen. Nach 105 Verhandlungstagen ist es eher plötzlich zur Urteilsverkündung gekommen.

Zwei Tage zuvor, als die Plädoyers schon alle gehalten waren und die Angeklagten ihr ‚letztes Wort‘ hatten, nannte einer von ihnen überraschend noch einen Zeugen. Dieser sollte beweisen, dass der Angeklagte D., der sich durch seine belastenden Aussagen gegenüber den Anderen selbst zum ‚Kronzeugen‘ befördert hatte, ein Lügner ist. Wie die meisten Entlastungszeugen wurde der Antrag abgelehnt.

Dann wurde zum sechsten Mal die Beweisaufnahme geschlossen und der Richter verkündete das Urteil.

Er sprach ruhig und gelassen, vier Stunden lang – nach einer angemessenen Pause, damit die Presse und der Oberstaatsanwalt auch dabei sein konnten – wie sich das gehört für eine solche Inszenierung. Schuldig des vollendeten erpresserischen Menschenraubs und des bewaffneten Angriffs auf den Seeverkehr. Zeit und Ort der Tat: April 2010, 500 Seemeilen vor der Somalischen Küste an Bord des deutsch-geflaggten Containerschiffs Taipan.

Die Strafen: zwei Jahre Haft für die drei Heranwachsenden, die schon zwei Jahre Untersuchungshaft hinter sich haben und damit jetzt frei sind. Sechs bzw. sieben Jahre für die Älteren. Auch der ‚Kronzeuge‘, für den der Staatsanwalt einen Rabatt von vier Jahren vorgesehen hatte, musste sechs Jahre einstecken.

Ende eines (Lern)Prozesses

Die detaillierte Begründung der strafmildernden und belastenden Umstände jedes Angeklagten hörten sich an wie eine Zusammenfassung der Kritik, die Prozessbeobachter_innen in den letzten zwei Jahren geäußert hatten. Es war die Rede von Vernichtung des Fischbestands durch ausländische Fangflotten, Giftmüllverklappung vor der Küste Somalias und kolonialistischer Justiz.

Der Richter sprach sogar von „Subsistenzpiraterie“, ein Begriff, der vor Prozessbeginn sicherlich nicht zu seinem Wortschatz gehörte, und so waren viele Anwesende überrascht von dem offensichtlichen Lernprozess.

Die Begründung der Haftstrafen basiert auf zwei Dingen.

Erstens, die Vermutung, dass es keine Zwangsrekrutierung gegeben habe, wie fast alle Angeklagten geltend gemacht hatten. Diese Argumentation war durch die standhafte Weigerung des Gerichts möglich geworden, auch nur einen Zeugen aus Somalia zu hören, der die Aussagen der Angeklagten hätte bestätigen können.

Zweitens die angeblich professionelle Ausrüstung und die militärische Vorgehensweise der Somalier, angeblich bewiesen durch die verwendeten Schnellboote, Waffen und den Sachschaden an der Taipan.

Feuer frei für Atalanta (1)

Wer die Bilder der mit T-Shirts und Flip-Flops bekleideten Somalier bei ihrer Gefangennahme gesehen hat, fragt sich, wie denn nach Ansicht des Richters eine nicht-militärische Truppe aussehen würde. Und inwieweit die Einschüsse auf der Taipan durch das Dauerfeuer der holländischen Fregatte während der Befreiungsaktion entstanden sind, wurde nie untersucht.

In vielen Aspekten musste der Richter zugeben, dass es ihm trotz 105 Verhandlungstagen nicht gelungen war, der Wahrheit näher zu kommen.

So konnte nicht festgestellt werden, wer als Erster die Taipan geentert, wer das Ruder übernommen, und wer geschossen hatte. Allerdings gestand er den Angeklagten zu, nicht diejenigen zu sein, die die Aktion geplant hatten und dass sie keine Tötungsabsicht hatten. Der zaghafte Ansatz des Gerichts, anzuerkennen, dass es problematisch ist, Ereignisse vor der Küste Somalias mit deutschen Rechtsbegriffen zu erfassen, hat es nicht daran gehindert, lange Haftstrafen zu verhängen. Stattdessen glich die Urteilsbegründung stellenweise seelischer Körperverletzung.

Zwei Punkte machten die Bereitschaft des Gerichts, eine Re-Traumatisierung in Kauf zu nehmen, besonders deutlich.

Einer der Angeklagten hatte sein Alter mit 13 angegeben. Hätte das Gericht das akzeptiert, hätte er hier nicht in Untersuchungshaft genommen werden können und es hätte ihm kein Strafprozess gemacht werden können. Deshalb wurde alles unternommen, ihn älter zu machen. Seine Geburtsurkunde, Bescheinigungen der Schule und der eigenen Mutter wurden ignoriert mit der Begründung, dass es in Somalia keinen funktionierenden Staat gäbe und es daher auch keine gültigen Urkunden geben könne [vgl. Artikel in GWR 368].

Stattdessen wurden die zweifelhaften Methoden der Hamburger Gerichtsmedizin herangezogen. Der Angeklagte war nach seiner Ankunft in Hamburg ohne Übersetzer zu einer Altersfeststellung gebracht worden, wo er mit Hand- und Fußfesseln gewogen und seine Hand unter ein Röntgengerät gehalten wurde. Der junge Somalier, der noch nie moderne medizinische Geräte gesehen hatte, ging davon aus, dass ihm die Hand abgehackt werden würde.

Ein anderer Angeklagter ist seit längerem psychisch krank. Sein kleiner Sohn war entführt worden, um ihn zur Begleichung seiner Schulden zu zwingen. Er hatte ausgesagt, an dem Überfall auf die Taipan teilgenommen zu haben, um seinen Sohn auslösen zu können, hatte dies aber in seinem Schlusswort nicht wiederholt.

Für den Richter war seine Aussage damit unglaubwürdig. Der Angeklagte hätte also die für ihn traumatisierenden Geschehnisse wiederholen müssen, um glaubwürdig zu bleiben. Der Gedanke, dass es für den Angeklagten unerträglich sein könnte, die Geschichte nochmals erzählen müssen, ist dem Richter offensichtlich nicht gekommen.

Die genannten Ungereimtheiten bestätigen die Einschätzung, dass es bei der gesamte Inszenierung, inklusive Urteilsbegründung, vor allem darum geht einen Millionen schweren Militäreinsatz gegenüber der Öffentlichkeit zu legitimieren. Dutzende hoch gerüstete Kriegsschiffe aus den Machtzentren der Welt sind nicht wegen ein handvoll Piraten mit alte Waffen und Flipflops im Einsatz, sondern weil es um die Kontrolle des Warenverkehrs zwischen den Produktions- und Konsum-Zonen geht.

(1) "Operation Atalanta" ist ein multinationaler Kriegseinsatz der Europäischen Union "zum Schutz der freien Seefahrt und zur Bekämpfung der Piraterie" vor der Küste Somalias am Horn von Afrika im Golf von Aden und bezeichnet gleichzeitig einen gemischten multinationalen Kriegsmarineverband. Der Name lehnt sich an die gleichnamige jungfräuliche Jägerin aus der griechischen Mythologie an.

Anmerkungen

Um das gefangene Kind des Angeklagten frei zu bekommen, ist ein Pixie-Buch produziert worden, dessen Erlös an die Familie geht [s. Artikel in GWR 372]. Die Summe ist fast erreicht, der Verkauf geht weiter.