Gene Sharp ist 2012 für seine Theorie der gewaltfreien Aktion, vor allem dargelegt in seinem Buch "Von der Diktatur zur Demokratie - Ein Leitfaden für die Befreiung" (1) mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet worden. Der folgende Artikel unterzieht die Theorie Sharps am Beispiel der arabischen Aufstände und hinsichtlich seiner Zielvorstellung kapitalistischer Demokratie einer gewaltfrei-libertären Kritik.
Der US-amerikanische Theoretiker der gewaltfreien Aktion, Gene Sharp, wird der gewaltfreien Ziel-Mittel-Relation nicht gerecht, weil er als gesellschaftliches Ziel der Aufstände gegen Diktaturen generell die „Demokratie“ ausruft.
Wie unverblümt Sharp dabei die bestehenden westlich-demokratisch-kapitalistischen Gewaltsysteme als unhinterfragte Zielvision der Widerstandsbewegungen gegen Diktaturen behandelt, zeigt gleich zu Beginn seines Buches eine Statistik, in welcher er für das Jahr 2009 eine Zahl von 89 „freien“ Ländern angibt – gegenüber nur 54 „freien“ Ländern im Jahre 1983. (2) Es wird sofort klar, dass die Zielvorstellung „frei“ hier Staaten wie die existierenden westlichen Staaten umfasst, allen voran die USA, aber auch alle europäischen Staaten.
Disziplinierende versus spontane Gewaltfreiheit
Sharp beschreibt bei seinem Eintreten für die Planung einer gewaltfreien Widerstandsbewegung immer wieder die Rolle, die dabei die Disziplin der Aufständischen spielen müsse: „Gewaltfreie Disziplin ist ein Schlüssel zum Erfolg.“ (3)
Er fragt immer wieder: „Werden die Bevölkerung und die Widerständigen sich diszipliniert und gewaltfrei im Verlauf des Kampfes verhalten?“ (4)
Er gibt Ratschläge: „Die Planer müssen über Methoden nachdenken, um die gewaltfreie Disziplin aufrechtzuerhalten.“ (5)
Die große Rolle, welche die Disziplin, ja die Identifikation von Gewaltfreiheit mit Disziplin bei Sharp spielt, ist unübersehbar. Gewaltfreie Aktion, von Sharp bereits in „political defiance“ (politische Herausforderung) umbenannt, wird zu einer großangelegten disziplinierten und geplanten Organisation, die mit Spontaneität so wenig wie möglich zu tun hat.
Es steht für mich jedoch außer Frage, dass die realen Abläufe bei den Aufständen in Tunesien, Ägypten und in den Anfangsmonaten auch in Syrien mit solcherart Disziplinierung nichts zu tun hatten.
Die unstrukturierten Massen auf den Straßen und Plätzen Ägyptens erinnerten eher an die von Klaus Theweleit beschriebenen unüberschaubaren, wild durcheinander laufenden, „flutenden“ Arbeitermassen aus den Zwanzigerjahren denn an disziplinierte Organisationskolonnen. (6)
Ich möchte daher den Einflussgrad und das Ausmaß der praktischen Relevanz der planerischen und organisatorischen Strategie des Buches von Sharp für die arabischen Massenbewegungen infrage stellen.
Mir scheint es eher so, dass die ausgedrückte Gewaltfreiheit in Tunesien und Ägypten eine weitgehend spontane und praktisch sich als sinnvoll erweisende Gewaltfreiheit war, verstärkt vielleicht von einer großen Minderheit, die aufgrund bestimmter historischer Kenntnisse eine bewusste Entscheidung für die Gewaltfreiheit gefällt hat und damit eine Handlungsstabilität erreichte, die bewirkte, nicht beim erstbesten Hereinpreschen der bezahlten Söldner Mubaraks durch die Kamele auf dem Tahrir-Platz diese Entscheidung wieder aufzugeben.
Mit bestimmten Kenntnissen meine ich weniger organisatorisch-strategische Kenntnisse, sondern etwa Kenntnisse über Gandhis Gewaltfreiheit und seinen relativen Erfolg im Kampf gegen den Kolonialismus – eine Grundlagenrezeption Gandhis, die direkt war und im Wesentlichen nicht über den Umweg einer Rezeption Sharps lief.
Das gilt bereits für die algerische Frauenbewegung der 1990er Jahre in ihrem Kampf gegen islamistische Terrorgruppen, wie mir unlängst bei einem Algerienaufenthalt in persönlichen Gesprächen mit Aktivistinnen mitgeteilt wurde, die auch an – allerdings frühzeitig gescheiterten – Aufstandsversuchen in Algerien Anfang 2011 initiierend beteiligt waren (und Sharps Theorien zum Beispiel nicht kannten).
Ich behaupte also, dass die Rezeption Gandhis in Ländern wie Algerien, Ägypten und Tunesien, die ja alle eine Geschichte der Kolonialerfahrung und daher des antikolonialen Widerstands kennen, tendenziell direkt verläuft (sozusagen von Indien nach Ägypten) – und nur sekundär mittels einer nicht weit in die Gesellschaft hineinreichenden Internet-Elite über den Umweg von Sharps US-Strategien und Aktionskatalogen. Viele Aufständische wussten längst, dass Gandhi gewaltfrei war und blieb, auch in schwierigen Situationen.
Es ist dies eine Gandhi-Rezeption, die durchaus mit der überwiegend spontanen Verlaufsform des Aufstands in Tunesien und Ägypten vereinbar war. (7)
Anders ausgedrückt: Ich glaube, dass jener bildungspolitische Werdegang, den George Chabrawi, einer der wenigen Anarchisten Kairos vor dem Aufstand, hier beschreibt, durchaus verallgemeinerbar ist und weit in breite Bevölkerungskreise Ägyptens hineinreicht:
„Ich bin ganz zufällig auf den Anarchismus aufmerksam geworden. Ich las viel über Gandhi (der sich selbst als Anarchist bezeichnet hat), was mich enorm beeinflusste.“ (8)
Nicht jede/r macht sofort den Schritt zum Anarchismus, doch die direkte Gandhi-Rezeption als antikolonialer Kämpfer ist in diesen Ländern weit verbreitet.
Auch die Tatsache, dass bereits bei der ersten, weitgehend gewaltfreien Intifada der PalästinenserInnen 1988-91 das damalige „Palästinensische Zentrum zum Studium der Gewaltfreiheit“ zu einem frühen Zeitpunkt ein Buch über den muslimisch-gewaltfreien Mitstreiter Gandhis, Abdul Ghaffar Khan ins Arabische übersetzt und kostenlos verteilt hatte, soll hier die These stützen, dass die Rezeption der gandhianischen Aktionsformen eher direkt als indirekt über Sharp im arabischen Raum verbreitet wurde und dabei auf einen gewissen, tief sitzenden Resonanzboden im antikolonialen Traditionsbewusstsein großer Teile der Bevölkerung bauen konnte.
Mubarak Awad, der Mitbegründer des Zentrums, meinte später über das Buch zu Ghaffar Khan:
„Wir verteilten das Buch kostenlos in palästinensischen Gemeinden, um Menschen zu mobilisieren und ihnen zu zeigen, dass dem Islam das Konzept der Gewaltfreiheit nicht fremd ist.“ (9) Die meisten Menschen in den Gemeinden haben die gewaltfreie Aktion über diese Traditionslinie kennen gelernt und nicht über das moderne Herunterladen des Buches von Sharp.
Gene Sharps Prokapitalismus und sein Eintreten für den Staat
Sharp beendet sein Buch mit einer Parteinahme für Kapitalismus und Staat, indem er ohne Reflexion über deren Gewaltcharakter einige sehr verräterische Punkte in seine inzwischen vielfach von KommentatorInnen der herrschenden Medien zitierte Auflistung von insgesamt 198 „Methoden der gewaltfreien Aktion“ mit aufnimmt. Dabei behauptet Sharp, er liste diese Methoden wertneutral und abstrakt auf, um die Phantasie der AktivistInnen in allen Diktaturen über die mögliche Vielfalt gewaltfreier Aktionsformen anzuregen.
Doch wir finden da bei genauerem Hinsehen etwa unter der Überschrift „Aktionen für Eigentümer und Manager“ den Punkt 82, „die Weigerung, Eigentum zu vermieten oder zu verkaufen“, und Punkt 83, die „Aussperrung“. (10)
Es gehört schon eine Portion Frechheit dazu, so etwas als gewaltfreien Widerstand oder Methode der gewaltfreien Aktion zu verkaufen. Eine „Aussperrung“ ist noch immer eine Methode von oben nach unten, die prinzipiell nur von Kapitalisten gegen eine größere Menge von ArbeiterInnen durchgeführt werden kann. Die Aussperrung ist somit ein Gewaltmittel der herrschenden gegen die ausgebeuteten Klassen und keine gewaltfreie Aktion.
Solche Listenpunkte verraten das Denken Sharps als nicht wertneutral, sondern als prokapitalistisch. Und schließlich darf ein scheinbar unbedeutender Punkt bei Sharp nicht fehlen; es ist der letzte Punkt 198: „Duale Souveränität und Parallelregierung“. (11)
In Verbindung mit den beiden oben genannten Punkten heißt dies jedoch: Gewaltfreie Aktion der Kapitalisten zur Einführung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems und eines entsprechenden Staates als Ziel! Das hat mit einer gewaltfreien Ziel-Mittel-Relation nichts zu tun.
Verstrickungen mit US-Strategien des „Regime Change“ durch zivilen Ungehorsam im nationalen Interesse
Womit aber dann? Hier öffnet sich leider noch ein weiteres, undurchsichtiges, aber auch nicht zu unterschlagendes Feld: dass nämlich die Albert Einstein Institution Sharps zu jenem Amalgam mehr oder weniger unabhängiger Think Tanks zur sogenannten „externen Demokratieförderung“ gehört, die um das US-amerikanische Außenministerium kreisen und spätestens seit dem Ende des Jugoslawien-Krieges mit einer US-Strategie des Regime-Change im nationalen Interesse mit gewaltfreien Mitteln „vernetzt“ sind. In die Unterstützung von „Demokratiebewegungen“ gegen solche Diktaturen, die US- (und auch EU-)Interessen missliebig sind, flossen seit 1999/2000 Unsummen an Geldern.
Als Illustration nur ein einziges, sozusagen das historisch erste Beispiel für diese Strategien:
„Laut Thomas Carothers wurden von Mitte 1999 bis in den Herbst 2000 für den Milosevic-Sturz von privaten und staatlichen Stiftungen in den USA wie der EU insgesamt rund 80 Mio. US-Dollar ausgegeben. Die Unterstützung der serbischen Otpor-Aktivisten lag im selben Zeitraum bei 1,5 Mio. Dollar allein aus den USA.“ (12)
Die mit diesen Geldern gemästeten Kleinorganisationen und Internet-Blogger hatten seit dem Milosevic-Sturz mehr oder weniger Einfluss auf alle osteuropäischen, zentralasiatischen und nun auch arabischen Bewegungen gegen Diktatoren – nur sollte daraus nicht voreilig der Schluss gezogen werden, diese Bewegungen, besonders die arabischen Bewegungen von heute seien nicht authentisch, sondern allesamt US-gesteuert.
Dennoch sind Kontakte mancher AktivistInnen zu US-Think Tanks, Militärs und sogar Geheimdienstleuten nicht zu leugnen, inzwischen vielfach belegt und erschreckend direkt:
„Ein Teil des Personals, das von den amerikanischen Stiftungen im April 2000 nach Budapest geschickt wurde, um Otpor-AktivistInnen in der Sharpschen Methode zu trainieren, stammt aus dem Kreis um Sharp. So beispielsweise Bob Helvey – einst Oberst der US-Armee, dann Militärattaché in Burma, später Dekan der Militärattaché-Trainungsschule in Washington und Experte für geheime Operationen. Helvey traf sich mit serbischen Aktivisten im Budapester Hilton.
Im Film ‚Bringing Down a Dictator‘ sagt er: ‚Ich erklärte ihnen, dass man sich den gewaltlosen Kampf als Krieg vorstellen muss, dass dieselben Prinzipien gelten wie im Krieg: Ein Ziel ist zum Beispiel, die Kräfte, eine Masse von Menschen, rechtzeitig am entscheidenden Punkt zu haben, und man kann nur gewinnen, wenn man nicht in der Verteidigungsposition bleibt, sondern zum Angriff übergeht.
Das gilt für den gewaltlosen genauso wie für den bewaffneten Kampf.‘ Einer seiner gelehrigsten Schüler ist Srdja Popovic, Mitbegründer des ‚Center for Applied Nonviolent Action and Strategies‘ (CANVAS) in Belgrad und oberster Otpor-Stratege. Schnell avancierte er zum Trainer erst in den eigenen Reihen und dann in Georgien, der Ukraine und später auch in Venezuela beim Versuch, Präsident Hugo Chavez zu stürzen.“ (13)
In Recherchen des „Spiegel“ aus dem Jahre 2005 wird berichtet, dass für die Otpor-Seminare das US-amerikanische „Freedom House“ 5000 (!) Exemplare von Sharps Buch „From Dictatorship to Democracy“ aufgekauft und Otpor gespendet hat. Das Freedom House sitzt in Washington und wurde 2003 zeitweilig von James Woolsey geleitet, dem Ex-CIA-Chef und Berater des damaligen US-Kriegsministers und „Falken“ Donald Rumsfeld. (14)
Wo die Kontakte, Verbindungen und Verwicklungen so eng sind, kann nicht von unabhängiger Gewaltfreiheit gesprochen werden – es geht hier vielmehr um eine Instrumentalisierung von gewaltfreier Aktion und zivilem Ungehorsam für nationalistische Interessen und internationale Herrschaftspolitik, für das Ziel der Aufrechterhaltung weltweiter staatlicher und kapitalistischer Gewalt und Herrschaft: Initiativen etwa, die mittels gewaltfreier Aktion die Diktatur Aserbeidschans stürzen wollten, bekamen keine US-Gelder – da bestimmten lukrative Ölverträge von US-Firmen mit dem Diktator das nationalstrategische Interesse.
Fazit
Je direkter die gewaltfreie Aktion mit konventionell-militärischem Krieg verglichen wird, je mehr Disziplin und Strategie eingefordert wird, je mehr ihr jede spontaneistische, unkalkulierbare und unüberschaubare (und auch jede sozialistische) Dimension abgesprochen wird, desto kompatibler wird sie für Strategien des „Regime Change“.
Der arme Popovic, der sich für selbstbestimmt hielt, er wusste gar nicht mehr, was er in Venezuela tat (ja nicht einmal einen Diktator stürzen, denn Chavez stellt sich regelmäßig demokratischen Wahlen!).
Diese Verwicklungen um das Konzept Gene Sharps zeigen, dass es wichtig ist, genau zu wissen, welche Ziele wir inhaltlich verfolgen, wenn wir gewaltfreien AktivistInnen sagen: „Unsere Mittel entsprechen unseren Zielen.“ Es sind die Ziele einer selbstorganisierten, gewalt- und herrschaftsfreien Gesellschaft. Wir kämpfen nicht für Demokratie – auch wenn die Errichtung einer Demokratie gegenüber einer vorhergehenden Diktatur zweifellos ein zeitweiliger Fortschritt sein kann.
(1) Vgl. sein Buch: "Von der Diktatur zur Demokratie - Ein Leitfaden für die Befreiung", Beck, München, 2. Aufl. 2011, englische Originalfassung: "From Dictatorship to Democracy. A Conceptual Framework for Liberation", 4. US-amerikanische Fassung von 2010, Albert Einstein Institution, Boston, online herunterladbar. Ich beziehe mich mit Zitaten und Seitenangaben auf letztere, also die aktuelle US-amerikanische, englischsprachige Fassung
(2) Sharp, vgl. Anm. 1, siehe Seite 2 der aktuellen englischsprachigen Ausgabe, Übersetzung der Zitate jeweils durch Lou Marin
(3) Sharp, a.a.O., S. 32
(4) Sharp, a.a.O., S. 57
(5) ebenda
(6) Vgl. Klaus Theweleit: "Männerphantasien", Band I und II, Stroemfeld/Roter Stern, Basel/Frankfurt a.M. 1986
(7) Vgl. zum Verhältnis von Disziplin und Spontaneität bei Gandhi vor allem die Gandhi-Rezeption von Ashis Nandy: "Der Intimfeind. Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus", Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2008
(8) "Interview mit George Chabrawi", in: Sebastian Kalicha, Gabriel Kuhn (Hg.): "Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit", Unrast, Münster 2010, S. 217
(9) Mubarak Awad in einem Interview mit Mohammed Abu-Nimer im Jahr 2000; vgl. dazu Muhamed Abu-Nimer, Joe Groves: "Eine Fallstudie zur Ersten Palästinensischen Intifada. Friedensbildung und gewaltfreie politische Bewegungen in arabisch-muslimischen Gesellschaften". Der Text ist eine Übersetzung von Sebastian Kalicha aus dem Englischen und wird in Kürze in einem Buch des Verlags GWR erscheinen. Angabe der US-amerikanischen Originalausgabe: Abu-Nimer, Mohammed: "Nonviolence and Peace Building in Islam: Theory and Practice", Gainesville, University Press of Florida, 2003
(10) Sharp, vgl. Anm. 1, S. 82
(11) Sharp, vgl. Anm. 1, S. 86
(12) Anselm Weidner: "Diktatorensturz und Demokratieexport. Die "Junge Internationale" als fünfte Kolonne?", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9/2007
(13) Anselm Weidner, ebenda
(14) Die "Spiegel"-Informationen sind zitiert in: Thomas S. Eiselberg: "Globalizing Nonviolence? 'Gewaltfreie Revolution' in Osteuropa und Zentralasien im Auftrag nationaler Interessen der USA?", in: GWR 306, Februar 2006, S. 6-7
(15) Anselm Weidner: "Farbrevolutionen auf Arabisch"; zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch unveröffentlichtes Manuskript
(16) Vgl. Slipperman: "Zweifelhafte Helden der Revolution", in: GWR 357, Oktober 2010, S. 10