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Gewaltfrei gegen Atomkraftwerke in Indien

Brutale Repression gegen südindische Fischerdörfer, die sich gegen die AKW-Baupläne der Regierung wehren

| Horst Blume

Im "Domradio" zu Köln konnte mensch vor gut einem Jahr unter der Überschrift "Kirche unterstützt Hungerstreik gegen Atomkraftwerk in Indien" folgende bemerkenswerte Meldung über das seit vielen Jahrzehnten aktive Kolpingwerk in Indien (Kolping India) lesen: "In Südindien unterstützt die katholische Kirche einen Hungerstreik gegen ein Atomkraftwerk. Indischen Medienberichten zufolge befinden sich insgesamt 127 Menschen, davon 15 Hindus und 112 Katholiken, bereits seit neun Tagen im Hungerstreik gegen das Atomkraftwerk Koodankulam im Bundesstaat Tamil Nadu. Unter ihnen seien auch vier Priester und drei Ordensschwestern. 15 Perso-nen müssten bereits ärztlich betreut werden. Der Fischereidirektor der Diözese Tuticorin und Leiter des Streiks, Pater Rayappan, sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), beim Bau des Atomkraftwerks seien Sicherheitsnormen nicht eingehalten worden. Das Kraftwerk werde den Fischern in den anliegenden Orten schaden." (1)

Bereits 2004 hatten viele hundert Familien in 58 Kolpingdörfern in der Umgebung von dem umstrittenen AKW-Standort Kudankulam unter den furchtbaren Folgen des Tsunamis zu leiden und erhielten in den folgenden Jahren Hilfe von den befreundeten Partnerorganisationen in Deutschland.

Regierung plant acht neue AKWs

Ausgerechnet hier in Südindien, direkt am Meer, sind inzwischen acht Atomkraftwerke geplant; zwei sind sogar schon fast betriebsbereit.

Keine Frage, dass die Bevölkerung, allen voran die FischerInnen, sich große Sorgen machen. Sie haben ja gesehen, was in Fukushima mit einem AKW nah am Meer passieren kann.

Ähnlich wie in Wyhl, wo auch die befürchtete Wolkenentwicklung durch Kühltürme die Ernte der WinzerInnen beeinträchtigen könnte, waren es in Südindien teilweise keine speziellen nukleartechnischen Bedenken, die den Widerstand beflügelten. Das aus den AKWs abgelassene Wasser wird zur Erhöhung der Meerestemperatur führen und die Fanggründe der Fischer gefährden.

Wenn mittlerweile Zehntausende Widerstand leisten wie in Kudankulam, dann ruft dies unweigerlich auch die „Freunde der Massen“ auf den Plan, die in Hamburg im November eine „Internationale Konferenz zur Unterstützung des Volkskrieges in Indien“ durchführen und den seit Jahrzehnten aktiven „Ahnungslosen“ Belehrungen zukommen lassen: „Es geht aber nicht vorrangig um einen abstrakten ‚Umweltschutz‘ wie von bürgerlichen Bewegungen eingefordert, sondern in erster Linie um den Schutz der werktätigen Massen, des Volkes“ (2).

Die Vorgeschichte

Um den kapitalistisch-industrialistischen Weg „erfolgreich“ gehen zu können, benötigt Indien viel Energie. Deswegen wurde der Ausbau der Atomenergie vorangetrieben und seit 1988 eine enge Zusammenarbeit mit der damaligen Sowjetunion vereinbart.

Es folgte 1998 ein Zusatzabkommen, das den Bau von zwei russischen WWER Druckwasser-Reaktoren mit jeweils 1.000 MW Leistung in Kudankulam in Tamil Nadu vorsah (3).

Im Jahr 2000 wurde die andauernde strategische Partnerschaft von den Regierungschefs besiegelt und die Absicht bekundet, Russland insgesamt 18 Atomkrafwerke in Indien bauen zu lassen (4).

Im Jahr 2002 erfolgte der Baubeginn für die beiden ersten Atomkraftwerke in Kudankulam. In St. Petersburg wurden die Reaktoren konstruiert und auf dem Seeweg nach Südindien gebracht.

„Die Betreiberorganisation Nuclear Power Corporation Ltd. (NPCIL) ist ein öffentliches Unternehmen, das der Kontrolle durch das DAE (Department of Atomic Energy) unterliegt. Sie wurde 1987 gegründet, Sitz ist Mumbai.“ (5)

Auffallend ist, dass die Atomwirtschaft frühzeitig betonte, in den umliegenden Gemeinden soziale Aktivitäten, Infrastruktur und sogar Windkraftanlagen zu fördern. Einer der größten Windparks Indiens mit 2.000 MW Leistung ist inzwischen in Kudankulam direkt neben und auf dem AKW-Gelände in Betrieb.

Für die Kraftwerksblöcke Kudankulan 3 und 4 legten Russland und Indien eine Road Map zur weiteren Zusammenarbeit fest (6). Im Juli 2012 wurde von Russland ein Exportkredit von 3,4 Milliarden Dollar mit einer Laufzeit von 14 Jahren für diese Folgeprojekte vereinbart (7).

Es wird für die gewaltfreie Widerstandsbewegung gegen diese Atomkraftwerke sehr schwer werden, sich gegen ratifizierte Verträge gewichtiger internationaler Partner, strategische nationale Eigeninteressen und industriellem Wachstumswahn durchzusetzen.

Wasser für Menschen oder Atomkraft?

Ab dem Jahre 2006 fanden in Tamil Nadu heftige Auseinandersetzungen über die Wassernutzung des über einhundert Jahre alten Stausees Pechiparai Dam statt. Der von Kudamkulam ca. 60 Kilometer entfernte See diente als Trinkwasserreservoir und bewässerte die Felder der Bauern. Diese Wasserquelle sollte nach dem Willen der Regierung in Zukunft hauptsächlich der Kühlung der neuen Atomkraftwerke dienen und nicht mehr den Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung (8).

Der Erörterungstermin fand am Schlusspunkt einer langen Auseinandersetzung gleich auf dem Atomkraftwerksgelände statt. Doch noch vor diesem Termin unterzeichnete der indische Ministerpräsident die Verträge für den Bau von vier AKWs in Kudankulam.

Die ganze Veranstaltung war eine Farce. Die Bewegung hatte also schon sehr frühzeitig ihre Erfahrungen mit der Politik gemacht, was ihrem klarsichtigen Handeln in der Folgezeit nur förderlich war.

Polizei terrorisiert Fischerdörfer

Nachdem die AKW-GegnerInnen jahrelang von den Medien kaum beachtet worden sind, hat sich dies nach der Katastrophe in Fukushima deutlich geändert. Als erster Höhepunkt blockierten Tausende AnwohnerInnen und betroffene FischerInnen im Herbst 2011 die Zufahrtsstraßen zur AKW-Baustelle. Ein befristeter Hungerstreik von 10.000 Menschen und ein unbefristeter von 127 Menschen kam hinzu und erhöhte den Druck dramatisch. Die Betreiber mussten für 6 Monate die Inbetriebnahmevorbereitungen für den ersten Reaktorblock unterbrechen.

Die seit Jahren verzögerte Inbetriebnahme zog sich ein weiteres mal hin.

Als im März 2012 die Arbeiten wieder aufgenommen wurden, demonstrierten 20.000 Menschen vor dem Reaktorgelände; ein weiterer Hungerstreik folgte. Die Regierung verhängte eine Ausgangssperre und schickte 6.000 Polizisten der Spezialeinheit „Rapid Action Force“ nach Kudankulam und terrorisierte die einheimische Bevölkerung. Da an dem Widerstand und in der Organisation „People’s Movement Against Nuclear Energy“ (PMANE) auch ChristInnen beteiligt sind und eine christliche Kirche als Treffpunkt dient, werden von Hindunationalisten gezielt Vorurteile geschürt, indem ihnen „Verrat“ an der nationalen Sache vorgeworfen wird.

Damit sollen religiöse Ausschreitungen gegen die christliche Minderheit provoziert und PMANE ins Abseits gestellt werden. Allerdings ähnelt die Bevölkerungsstruktur in diesem Landstrich eher dem benachbarten Bundesstaat Kerala, wo seit Jahrhunderten Hindus, Christen und Moslems in etwa gleich stark vertreten sind und friedlich und tolerant zusammenleben.

Die Regierung wirft darüber hinaus ausländischen UmweltschützerInnen und Nichtregierungsorganisationen vor, die AKW-GegnerInnen personell und finanziell zu unterstützten und leitete Strafmaßnahmen ein. Wie wenig die indische Regierung tatsächlich in der Hand hat, zeigte sich darin, dass nur ein völlig unbeteiligter deutscher Langzeiturlauber abgeschoben wurde. Die einzigen Äusländer, die in diesem Konflikt involviert sind, sind russische Ingenieure auf der Betreiberseite.

Nur 7 Euro Bußgeld für Vergehen der AKW-Betreiber

Während die indische Regierung und die AKW-Betreiber versuchen, durch die Militarisierung einer ganzen Region ihre Interessen durchzusetzen, ist die staatliche Atomaufsicht völlig überfordert und machtlos, sicherheitstechnische Mindeststandards durchzusetzen.

Wie „Der Spiegel“ (9) berichtete, kann die indische Atomaufsichtsbehörde AERB selbst bei schweren Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen in Atomkraftwerken nur ein Bußgeld von 7,46 Euro verlangen! – Nein, hier fehlen keine Nullen; die sitzen in der indischen Regierung.

Nach weiteren Hungerstreiks und Großdemonstrationen im Mai 2012 eskalierte die Situation vor Ort ein weiteres mal, als im August die Genehmigung zum Anfahren des ersten Reaktors erteilt wurde. Bei einer Demonstration wurde am 9. September ein Fischer von der Polizei erschossen.

Kurz darauf belagerten 20.000 Menschen die Zufahrten zu den AKW-Baustellen. Die Polizei griff die gewaltfreien DemonstrantInnen brutal mit Schlagstöcken und Tränengasgranaten an.

Seitdem wird dieser Polizeieinsatz indienweit heftig diskutiert. Der ehemalige Marinechef Admiral L. Ramdas forderte ein Moratorium. Die Schriftstellerin Arundhati Roy kritisierte öffentlich den quasi-militärischen Ausnahmezustand in der Region und den Vandalismus der Polizei, der sogar in den Häusern der Fischer stattfand (10).

Spektakuläre Seeblockaden

Am 21. September begann die „Seeblockade“ der Atomkraftwerke durch 500 Fischerboote, selbstgebastelte Holzbojen und durch Menschenketten im Wasser. Auf dem Lande durch brutales Polizeiaufgebot bedrängt, praktizierten die FischerInnen diesmal auf ihrem ureigenen „Terrain“ ihren kreativen Widerstand.

Die beeindruckenden Bilder gingen in Indien über viele Fernsehkanäle und sind über YouTube auch in der BRD einzusehen. Es war ein geschickter Schachzug der gewaltfreien Widerstandsbewegung, der militärischen Gewalt auf dem Land zumindest teilweise auszuweichen und jetzt Zuliefererhafen und AKW vom Meer aus zu blockieren.

Am 8. Oktober 2012 wurde Kudankulam erneut vom Meer aus von 800 Fischerboten belagert. Sie kamen bis auf 500 Meter an das AKW heran. Die Küstenwache setzte 10 Polizeiboote ein, um die Demonstranten in dem flachen Gewässer auf Abstand zu halten. Zehn Kilometer weiter wurde aus Solidarität in Koothakuzhi ein „Jal Satyagara“, eine Menschenkette im Wasser, durchgeführt (11). Die gewaltfreien AktivistInnen haben sich in den nächsten Wochen weitere Aktionen vorgenommen, um den Protest in die Hauptstadt von Tamil Nadu, Chennai (früher Madras) zu tragen.

Die couragierten FischerInnen von Kudankulam haben einen übermächtig erscheinenden Gegner. Doch auch das imperiale Großbritannien hätte Anfang des 19. Jahrhunderts nicht gedacht, dass es das aufmüpfige Indien bald verlassen musste. Warum sollte es den nuklearen Kolonisatoren nicht ähnlich ergehen?

Am 29. September 2012 kam es in Frankfurt zu einer ersten Protestkundgebung vor dem Indischen Konsulat. Sicher wäre es hilfreich, wenn sich auch in Europa der Protest vor indischen Einrichtungen oder zum Beispiel bei deutsch-indischen Veranstaltungen wie den „Days of India 2012 – 2013“ erheben würde. Hier ist die internationale Solidarität der Anti-Atomkraft-Bewegung gefragt.

Und die vielen Hundert Kolpinggruppen in der BRD sollten ebenfalls zeigen, dass sie nicht nur karitative Hilfe für Tsunami-Opfer organisieren können, sondern ebenfalls einen gut begründeten gewaltfreien Protest ihrer Partnerorganisation in Indien politisch und praktisch unterstützen.

Weitere Infos

www.dianuke.org