anarchismus

Sich der Geschichte stellen!

Gegen Mythen, Selbstgefälligkeit und Sonnenscheinanarchismus

| Philippe Kellermann

Als Anarchist könne man sich "den Luxus der Objektivität leisten", heißt es zu Anfang von Volins Die unbekannte Revolution, in dem er seine Interpretation der Russischen Revolution darlegt, an der er selbst beteiligt war.

Er begründet diesen „Luxus“ wie folgt: Als Libertärer habe er „keinerlei Interesse, die Wahrheit zu verraten, keinerlei Grund, ein ‚geschminktes‘ Bild der Realität zu zeichnen“, er interessiere „sich weder für die Macht noch für eine führende Position“, habe „kein Interesse an Privilegien und auch nicht an dem Triumph einer Doktrin ‚um jeden Preis'“. Einzig „um die Feststellung der Wahrheit, denn nur die Wahrheit ist fruchtbar.“

Das hört sich wunderbar an und es wäre zu schön, wenn man als Libertärer so erhaben über den Dingen schweben würde. Nun ist die Sache so einfach nicht und da sollte man sich nichts vormachen. Auch und vielleicht besonders „unter uns“ gibt es Kampf um Deutungshoheit – man denke an die Auseinandersetzung zwischen Nelles/Döhring (GWR 362); und gibt es für meine Begriffe kaum nachvollziehbar drastische Reaktionen auf einem nicht genehme Positionen und Thesen. Wenn beispielweise im Diskussionsforum auf syndikalismus.tk zum Boykott gegen den Unrast Verlag aufgerufen wird oder vom „finsterste[n] reaktionäre[n] Pfaffengebiet“ die Rede ist, weil dort ein von mir herausgegebener Sammelband mit einem Aufsatz von Michael Seidman publiziert wurde, kann man sich schon wundern.

Ich würde beispielsweise nicht mal im Traum darauf kommen öffentlich zum Boykott des PapyRossa-Verlags aufzurufen, wenngleich dieser eine wirklich abgründige Stalin-Biographie von Domenico Losurdo veröffentlicht hat.

Es gibt einen Satz von Bakunin, über den ich, obwohl er so simpel ist, lange nachdenken musste und der meines Erachtens zu seinen wichtigsten gehört. „Es ist leicht möglich“, schreibt er 1872, „daß Marx sich theoretisch zu einem noch rationelleren System der Freiheit erheben kann als Proudhon, aber Proudhons Instinkt fehlt ihm“.

Mir geht es dabei nicht um Bakunins Interpretation von Marx und Proudhon, sondern was Bakunin hier mit dem nicht unproblematischen Begriff des „Instinktes“ in Abgrenzung zum Theoretischen ins Feld führt.

Vielleicht sollte man eher von einer „Haltung“ oder – für FoucaultfreundInnen – einer Form der „Ästhetik der Existenz“ sprechen. Denn: Was letztlich die AnarchistInnen ausmachen sollte ist genau jene freiheitliche Haltung, die sich gerade dann beweisen muss, wenn es ärgerlich und ungemütlich wird. Denn bei Sonnenschein sind wir alle meist freundlich, aber wer von uns ist so vermessen, sich als einen Melchor Rodríguez García (vgl. GWR 346) zu imaginieren?

Anders als García befinden wir uns glücklicherweise (noch) nicht im Bürgerkrieg und haben es deshalb eigentlich verhältnismäßig leicht, uns eine libertäre Haltung zu gönnen. Und zu dieser gehört meines Erachtens, dass wir die Stimmen und die Kritik der Anderen wahr- und ernstnehmen. Das bedeutet auch, eine Konfliktkultur zu kultivieren, bei der nicht alles persönlich genommen wird, und wo man nicht – ganz KP-Mentalität – die Geborgenheit der „Partei“-Familie aufs Spiel setzt, wenn man mal abweichende Positionen vertritt.

Als Schreibtischhausmann und unproletarischer Feierabend-Akademiker denke ich hierbei vor allem an Auseinandersetzungen mit Büchern. Gegen die Arbeit von Michael Seidman mit seiner Kritik an der CNT-Politik, Felix Schnells Abhandlung über Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933, in der Machno als ein, den Bolschewisten im Grunde gleichender, Warlord erscheint: „Die sowjetische Geschichtsschreibung stellte Machno als gewissenlosen Banditen und Konterrevolutionär dar und übersah dabei gerne, wie viel er im Grunde mit der Revolution zu tun hatte, ja dass er in gewisser Weise aus demselben Holz geschnitzt war wie die Bolschewiki, die im Bürgerkrieg und dann später bei der Kollektivierung die Sowjetmacht behaupteten und die sowjetische Staatsbildung durchsetzten“; oder schließlich Martin Baxmeyers beeindruckendes Buch über Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild, dessen Hauptthese folgendermaßen lautet: „Die anarchistische Bürgerkriegsliteratur war nicht die Verwirklichung der kulturellen Utopie der Anarchisten im Sinne einer neuartigen, freien und kollektiven Praxis, die anarchistische Ideologeme aktualisierte, gestaltete und zu verbreiten half.

Zwar veränderten sich während des Bürgerkriegs in der Tat die literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen.

Inhaltlich und formal jedoch entfernte sich die libertäre Bürgerkriegsliteratur in signifikanter Weise von ihren ideologischen ‚Wurzeln‘. Sie näherte sich stattdessen der profranquistischen Bürgerkriegsliteratur an, aktualisierte nationalistische, kolonialistische und sogar rassistische Theoreme und schuf ihren eigenen Spanienmythos.“

Wie soll man auf all diese Texte reagieren?

Soll man sich schmollend in die Ecke legen oder reagieren wie die StalinistInnen seinerzeit auf Solschenizyn: mit Verleumdung? Das wäre lachhaft und würde nur jenen Recht geben, die, wie seinerzeit Marx und Engels, meinen, dass der Anarchismus eine „Sekte“ oder eine „hanswurstische Karikatur“ sei. Nein, man muss all diese Darstellungen und Thesen nüchtern diskutieren, kritisieren oder auch anerkennen. Jens Kastner hat in einem Gespräch mit mir zu Seidman und Baxmeyer erklärt: „Diese Bücher sind gerade da besonders stark, wo sie politisch am frustrierendsten sind.“

Und genau darum geht es: Man sollte solche Arbeiten als Herausforderung begreifen, als wichtige Wegweiser aus einer anarchistischen Phantasiewelt, als notwendige Demystifizierungen, an denen wir alle mit unseren Mitteln teilnehmen sollten. Kein Mensch lässt sich von angeblich unfehlbaren Helden und Heldinnen beeindrucken und die, welche das nötig haben, sind wohl beim KIKA besser aufgehoben.

Diese notwendige Auseinandersetzung beinhaltet aber auch, dass es nicht angehen kann alles Vergangene, sofern es den eigenen Vorstellungen von Anarchismus nicht passt, kurzerhand als unanarchistisch beiseite zu schieben und somit dasselbe Spiel zu spielen, wie jene unermüdlichen BeweisastronautInnen, nach denen Marx nicht Engels nicht Lenin nicht Stalin nicht Mao usw. usf. ist und man am Ende nichts weiter serviert bekommt als einen „reinen Marx“ auf der einen und eine „böse Geschichte des Marxismus“ auf der anderen Seite; in der gewaltfrei-libertären Variante: die „wunderbaren TolstoianerInnen“ auf der einen und der „barbarische Rest“ auf der anderen.

Im kritischen Marxismus ist man da oft schon weiter, wenn man bedenkt, wie ernsthaft dort selbst Marx, zumindest ab und an, kritisch diskutiert wurde und wird.

Es wäre deshalb nicht zuletzt ein Armutszeugnis sondergleichen, wenn der (kritische) Marxismus uns in Sachen Selbstreflexion davonläuft und uns als HüterInnen eines Erbes zurücklässt, dessen Darstellung nur durch eines besticht: Ignoranz gegenüber dem eigenen Elend.