Über viele Jahre hin lagerten sie in ministeriellen und behördlichen Archiven: Massen von "VS"-Akten. Das Kürzel meint hier nicht den Verfassungsschutz, sondern bedeutet "Verschluss", Geheimhaltung also. Mit den Ämtern für Verfassungsschutz allerdings hatten die Archivalien ihren Zusammenhang, denn unter anderem ging es um deren Tätigkeit, und um die Verfassung selbst ging es allemal, und zwar darum, wie sich der Artikel 10 des Grundgesetzes im großen Stil unterlaufen ließ, ungesetzlich und doch von Amts wegen.
Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis war es, das betroffen war, in der Verfassung als „unverletzlich“ normiert, zu „beschränken nur aufgrund eines Gesetzes“ – und eine solche gesetzliche Grundlage für „Horch und Guck“ in seiner westdeutschen Version bestand bis 1968 nicht.
Dennoch wurden, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth jetzt in einer sorgfältigen Studie nachweist, seit Bestehen des Grundgesetzes und Gründung der Bundesrepublik Jahr für Jahr millionenfach Brief- und Paketsendungen geöffnet und kontrolliert, Telefongespräche abgehört und ausgewertet, zu politischen Zwecken, in einer verschwiegenen Kumpanei von Nachrichtendiensten der westlichen Besatzungsmächte bzw. Alliierten und westdeutschen Behörden.
Als erster Außenstehender erhielt Foschepoth Einsicht in die bis dahin abgeschirmten Akten zur Post- und Telefonkontrolle zwischen 1949 und 1968. „Überwachtes Deutschland“ hat er sein jüngst im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienenes Buch über dieses bisher verschlossene Kapitel westdeutscher Nachkriegsgeschichte betitelt.
Angedeutet ist damit der gesamtdeutsche Charakter des großangelegten amtlichen Schnüffelns und Lauschens
Trotz der ideologischen Konfrontation der teildeutschen Staaten gab es sozusagen gemeinsame Wesenszüge.
Besonders heftiges Interesse bei der flächendeckenden Überwachung richtete sich auf die Kommunikation zwischen Ost und West im deutschen Territorium; seitenverkehrt gilt das auch für die Kontrolleure in der DDR.
Wozu der riesige Aufwand, um aus dem postalischen oder telefonischen Verkehr Informationen herauszuholen, zahllose Brief- und Paketsendungen auch, wie es im Amtsdeutsch hieß, „durch Verbrennung zu vernichten“?
Seit 1947 war entschieden, dass die westlichen Besatzungsmächte, geführt von den USA, deutschlandpolitisch auf Teilstaatlichkeit setzten, und mit dem Ausbruch des Koreakonfliktes verschärfte sich ihr Wille, die Bundesrepublik zu einem Frontstaat im Kalten Krieg auszugestalten. Die Perspektiven der tonangebenden politischen und wirtschaftlichen Eliten in Westdeutschland stimmten damit überein. Über „einen halbdeutschen Staat ganz zu verfügen“, so hieß es bei ihnen, sei sehr viel besser als „über einen gesamtdeutschen Staat nur halb zu bestimmen“.
Das war die Absage an die damals noch vieldiskutierten Vorschläge für eine „österreichische“, also blockfrei-gesamtdeutsche Lösung. Ein neutrales Deutschland hätte geo- und militärpolitisch die westlichen Fähigkeiten gemindert, die Sowjetunion unter Druck zu setzen. Befürchtet wurde auch, dass eine gesamtdeutsche Neutralität gesellschaftspolitische Zugeständnisse der Kapitalseite an die Linke erfordern könnte, etwa in Sachen Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen und Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeinbesitz.
Der westalliierten und der westdeutschen Politik kam es demnach darauf an, die Bevölkerung in der frühen Bundesrepublik so zu beeinflussen, dass nicht nur kommunistische Aktivitäten oder Ideen, sondern auch gesamtdeutsch-neutralistische Neigungen keine Chance erhielten.
Selbstverständlich wurde in den internen Rechtfertigungen für die rechtswidrige Überwachungspraxis betont, diese diene „der Abwehr kommunistischer Agitation und Unterwanderung“, aber schon in den 1950er Jahren, bereits vor dem Verbot der KPD, bestand keine Gefahr, dass der Kommunismus in Westdeutschland zu einem umstürzlerischen Machtfaktor werden könnte, mochten auch aus der DDR noch so viel Traktätchen oder V-Leute nach Westdeutschland exportiert werden.
Realiter war das wichtigste Ziel der Kommunikationskontrolle, jede Opposition gegen die Verfestigung des westdeutschen Teilstaates und dessen außen-, militär- und wirtschaftspolitische Einbindung in das nordatlantische Blocksystem zu diskreditieren, zu schwächen und zu unterdrücken. Und so wurden dann Ergebnisse des Schnüffelns und Lauschens nicht nur bei Prozessen gegen Angehörige verbotener kommunistischer Organisationen eingesetzt, sondern auch zur Einschüchterung und Verfolgung von nichtkommunistischen Oppositionellen, insbesondere von GegnerInnen der Remilitarisierung, Ostermarschierern und ähnlichen „Staatsfeinden“.
Außerdem wurde „Kontaktschuld“ konstruiert, wenn sich jemand gesprächsbereit zeigte gegenüber der „Ostzone“ oder mit KommunistInnen diskutierte.
Allerdings brachte, wie das bei „Sicherheitsdiensten“ für den Staat meist der Fall ist, die Gier nach der kleinsten einschlägigen Information auch Leerlauf hervor. In einer Fernsehsendung äußerten sich jetzt Zeitzeugen, ehemalige „kleine Kontrolleure“; deutlich wurde, wie fragwürdig sie selbst ihre damaligen Aufträge fanden. (3sat, kulturzeit, 19.11.2012, „Überwachungsstaat“)
Foschepoth erwähnt, dass Postbeamte, die für solche Tätigkeiten herangezogen wurden, rechtsstaatliche Bedenken anmeldeten; sie wurden ruhiggestellt mit dem Hinweis, dass die Pflicht zur „Staatstreue“ höheren Rang habe als die Rücksichtnahme auf einen Artikel im Grundgesetz.
Mit den Pariser Verträgen 1955 schien trotz mancher Vorbehaltsrechte der bisherigen Besatzungsmächte so etwas wie staatliche Souveränität der Bundesrepublik erreicht – das System der Überwachung brauchte eine juristische Grundlage, die Westalliierten waren nicht mehr unmittelbar zuständig.
Bundeskanzler Konrad Adenauer scheute zurück vor einer gesetzlichen Regelung, die ja Offenlegung einer ungesetzlichen Praxis bedeutet hätte.
Er schloss mit den Nato-Verbündeten ein Geheimabkommen, demzufolge die Überwachungshoheit weiterhin bei den Alliierten lag, diese jedoch deutsche Dienste als ihre Helfer und Mittäter nutzen sollten, den Verfassungsschutz, den BND und den militärischen Abwehrdienst.
Als ausführende Organe wurde die damals noch staatliche Post benutzt, die bei Briefen, Paketen und Telefonverbindungen das Monopol hatte, sowie der Zoll.
Foschepoth wertet diese Vereinbarung als „schweren Verfassungsbruch“.
Durch mancherlei Skandale, etwa die „Spiegel“-Affäre, geriet in den 1960er Jahren die Überwachungspraxis in öffentliche Aufmerksamkeit. Im Kontext der Notstandsgesetze erhielt sie 1968 eine Rechtsgrundlage durch das sogenannte „G 10“-Gesetz, das erstmals die Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses juristisch regelte. Aus eindeutigem staatlichen Unrecht wurde nun zweideutiges Recht. Inwieweit die gesetzlich eingerichtete parlamentarische Kontrolle des amtlichen Schnüffelns und Lauschens wirklich greift, ist strittig; im Halbdunkel liegt, welche Überwachungskompetenzen nach wie vor die Nachrichtendienste der ehemaligen Besatzungsmächte haben.
Was die deutsche Nachkriegsgeschichte angeht, ist die Studie von Foschepoth eigentlich eine Sensation: Die schöne Legende, im westdeutschen Staat sei es, im absoluten Gegensatz zur „Stasi-DDR“, allenthalben rechtstaatlich zugegangen, lässt sich nicht halten.
Ein Grundrecht wurde vom Staat systematisch, im großen Maßstab und dauerhaft verletzt, Unrecht war als „Verschlußsache“ verdeckt. Aber viele PolitikerInnen, Beamte und StaatsdienerInnen wussten das und waren daran beteiligt.
Ein unangenehmes Forschungsresultat – kein Wunder, dass die Medien nur sehr zögerlich darüber berichten.
Damals war angeblich die westdeutsche „Staatssicherheit gefährdet“, und nun kommt ein westdeutsches Selbstbild in Gefahr.
Zum Autor
Arno Klönne (* 1931) ist emeritierter Professor für Soziologie (Uni Paderborn) und Mitherausgeber der "OSSIETZKY". Er war einer der Sprecher der frühen Ostermarschbewegung, damals Herausgeber der antimilitaristischen Jugendzeitschrift "pläne" und Mitverleger einer den Überwachungsstaat kritisch behandelnden Schrift von Heinrich Hannover: "Diffamierung der Opposition im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat", Dortmund 1962.