"Die elektronische Fußfessel bietet damit auch Langzeitarbeitslosen und therapierten Suchtkranken die Chance, zu einem geregelten Tagesablauf zurückzukehren und in ein Arbeitsverhältnis vermittelt zu werden." Mit diesem Satz forderte 2005 der damalige Justizminister (und heutige Vorsitzende) der hessischen CDU-Fraktion, Christean Wagner, die Repressionen gegen jene, die des Kapitalverbrechens "nichts aus sich zu machen" schuldig befunden werden, auf ein höheres Niveau zu heben. (1)
Diese Forderung löste einen Sturm der Empörung aus. „Justiz-Minister knallt durch“, titelte die „Bild“-Zeitung.
Tatsächlich sollte die Forderung weit weniger überraschen, ist doch die moralische Pflicht zu arbeiten ein Grundpfeiler kapitalistischer Ideologie.
Die Weigerung, „etwas aus sich zu machen“, sich zu verwerten, kommt einer Desertion aus dem kapitalistischen Heer gleich.
„Ein Ziel brauchens‘ immer. Ein Ziel ist, worauf man schießt“, lässt Brecht einen Protagonisten seiner Flüchtlingsgespräche zum Thema Arbeit sagen. (2) Kein Wunder also, dass gegen diese Deserteure Maßnahmen gefordert werden, die sonst Schwerverbrecher_innen vorbehalten bleiben.
Obwohl ein Großteil der menschlichen Arbeitskraft längst durch Maschinen überflüssig gemacht wurde, werden noch immer alle Register von Propaganda und Repression gezogen um den Fetisch der Lohnarbeit aufrechtzuerhalten.
Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass die Existenz der Möglichkeit, keiner Lohnarbeit nachzugehen, und trotzdem würdevoll zu leben, Ausbeutung nahezu unmöglich machen würde.
Andererseits erfüllt Arbeit den Selbstzweck eines Hamsterrades, das die Arbeitenden in Bewegung hält und so von „dummen Gedanken“ abhält.
Nietzsche stellte fest, „dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hält und die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüsts kräftig zu hindern versteht.“ (3)
In ihrer Geschichte war die Lohnarbeit immer auch ein polizeiliches Problem, dessen Durchsetzung unzählige Todesopfer kostete.
Schon im 16. Jahrhundert beauftragte der Königliche Rat in England Spezialbeamte mit der Jagd auf Arbeitsunwillige. Allein während der Regierungszeit Heinrichs VIII wurden so 12.000 „Vagabunden“ gehenkt.
Heinrichs Thronfolger Eduard VI verabschiedete einen Erlass, in dem er alle guten Bürger_innen dazu aufrief, jede Person, die seit mehr als drei Tagen keiner Arbeit nachgeht, aufzugreifen und vor zwei Richter zu schleppen, die „dem besagten Herumtreiber sofort an der Brust mit einem glühenden Eisen den Buchstaben V einbrennen lassen sollen und die besagte Person demjenigen, der sie vorgeführt hat, für den Zeitraum von zwei Jahren als Sklaven zu überlassen.“ (4)
Im 17. und 18. Jahrhundert erlangte die Amsterdamer Umerziehungsanstalt „Rasphuis“ Ruhm für ihre kreativen pädagogischen Methoden: Arbeitsunwillige wurden in einen Keller gesperrt, in den Wasser geleitet wurde. Damit wurden sie vor die Wahl gestellt, entweder zu arbeiten (i. e. das Wasser mit großer Geschwindigkeit wieder abzupumpen), oder zu ertrinken.
Die Forderung nach einer Fußfessel für Arbeitslose steht also in einer langen Tradition, auch wenn heute verstärkt auf Propaganda gesetzt wird, wie z.B. auf das mittlerweile auf allen privaten Kanälen ausgestrahlte „Hartz IV-Fernsehen“, oder Erziehungsmaßnahmen, die in Ratgebern mit Titeln präsentiert werden wie „Faulheit ist heilbar. Ein Leitfaden für Eltern“.
Ein zentrales Element dieser Propaganda ist Rassismus. Die Konkurrenzideologie ist untrennbar verbunden mit nationalistischer und rassistischer Hetze nach dem Motto: deutsche Hamsterräder nur für Deutsche. Die kapitalistischen Gesellschaften haben sich gar eine eigene „Rasse“ konstruiert, der sie die Nicht-Arbeit als Stigma zuschreiben: die „Zigeuner“ – ein Schimpfwort für Sinti und Roma, oder zeitweise für „Vagabunden“ im Allgemeinen.
Dieser Rassismus führte im „Dritten Reich“ zu einem Genozid, dem schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma zum Opfer fielen. Dieser Genozid (Porrajmos), wurde von der BRD erst 1982 anerkannt. 1956 lehnte der Bundesgerichtshof einen Entschädigungsanspruch von Roma und Sinti mit der Begründung ab, dass diese nicht aufgrund von Rassismus verfolgt wurden, sondern weil sie tatsächlich „asozial“ seien. (7)
Aktuell erfreuen sich zur Unterwerfung der Körper unter das Diktat der Lohnarbeit Aufputschmittel stetig steigender Beliebtheit. Kaffee ist ihr Klassiker. Die Kultur des Kaffeetrinkens ist eine völlig andere als beispielsweise die des Teetrinkens. Während letzterer meist in kleineren Mengen genussvoll geschlürft wird, ist eine lückenlose Kaffeezufuhr über die gesamte Arbeitszeit keine Seltenheit mehr.
Mit einer Pause ist der Kaffeekonsum längst nicht mehr verbunden. Er wird in riesigen Mengen lustlos herunter gekippt – „to go“ beim durch die Straßen Hetzen, beim Autofahren oder vor dem Bildschirm. 150 Liter werden hierzulande pro Kopf im Jahr getrunken.
Damit ist Kaffee in Deutschland das meist konsumierte Getränk überhaupt, noch vor Wasser. (5)
Der flüssige Kaffee wird jedoch zunehmend ersetzt durch Koffeeintabletten oder andere Präparate, die weniger Zeit zur Einnahme benötigen und eine stärkere Wirkung haben.
Im Internet fragen erschöpfte Menschen in verschiedenen Foren nach Empfehlungen für Aufputschmittel. Ein Beispiel eines anscheinend 18 Jahre alten Jugendlichen:
„es gibt tage da musst du bis halbzwölf abends arbeiten und am nächsten tag wieder um sechs zur frühschicht antanzen… das heisst um fünf aufstehen… also… so an nem tag wie heute (wo sie das vorher beschriebene wieder mal erreignete) trink ich gegen 5 espresso und ca 11 ristretto (die kleineren mit der glaub doppelten dosis koffein)… hab dann nach ner gewissen zeit auch ziemliches magenbrennen das sich dann jedoch nach öfterem wasserkonsum wieder verzieht. ich fühl mich während der arbeit manchmal auch bisschen komisch jedoch voll konzentriert und arbeite sicher 5 mal schneller als normal… hab mir auch schon überlegt was zu ziehen (koks etc) vor der arbeit… da ich jedoch nicht unbedingt da reinrutschen möchte wollt ich fragen ob mir koffeintabletten wohl helfen würden? so ne schicht von sechs uhr morgens bis abends manchmal bis um siebzehn oder achtzehn uhr ist ohne so viel koffein für mich der reine horror…“ (6)
Auch die politische Linke war nie gefeit vor dem Fetisch der Arbeit. Im Gegenteil ist die Geschichte des Klassenkampfes zu großen Teilen ein Kampf um das „Recht auf Arbeit“ gewesen. Lenins Ausspruch „Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen“, bringt dieses Verhältnis auf den Punkt.
Aber auch in heutigen, nicht stramm marxistisch, sondern libertär verorteten Gruppen übertragen sich die Denk- und Handlungsmuster des kapitalistischen Alltags in die politische Praxis. Diese oder jene Aktion muss um jeden Preis organisiert werden, bis die Nazis aufmarschieren oder der Castor rollt, „unreflektierte“ Ansichten in den eigenen Kontexten müssen in ihre Grenzen gewiesen werden etc.. Dabei ist die Gefahr groß, in das Handlungsschema der Effizienz und Konkurrenz zu verfallen, mit allem was dazu gehört: Der Kampf um Status findet sich in vielen Polit-Gruppen in nicht weniger starker Ausprägung als in kapitalistischen Unternehmen.
Burnout durch Überlastung ist in diesen wie jenen an der Tagesordnung.
Eine emanzipatorische Praxis muss außerhalb des Arbeitswahns liegen, muss sich dezidiert gegen das Prinzip Arbeit richten. Eine solche Praxis muss eine achtsame sein, die im gegenwärtigen Moment verankert ist und sich nicht in Projekten und Identitäts-Kämpfen verrennt; eine Praxis, die es ermöglicht, die verschiedenen Gefühle wie Wut und Ohnmacht, aber auch Freude wahrzunehmen, die in einem selbst und bei Mitstreiter_innen gerade präsent sind, anstatt sie aus Effizienzgründen beiseite zu schieben.
Eine solche Praxis benötigt Muße, die heute hart erkämpft und erlernt werden muss. Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse ist jeder absichtslose Spaziergang eine antikapitalistische Demonstration.
Das schöne dabei ist, dass wir jeden Moment damit anfangen können, ob wir allein oder in (Polit-)Gruppen sind, ob auf der Arbeit oder bei der Aktionsvorbereitung. Fast immer besteht die Möglichkeit anzuhalten.
Wir können aus dem Fenster schauen und die Wolken betrachten, einen dampfenden Tee genießen, uns die Zeit für ein ernstgemeintes „wie geht es dir?“ nehmen, das zu mehr als einer Drei-Sekunden-Antwort einlädt, oder einfach vor uns hinstarren, notfalls auf irgendwelche Dokumente, damit wir dabei nicht gestört werden. Zumindest hat eine solche Praxis der Absichtslosigkeit noch niemandem geschadet, während Lohnarbeit jedes Jahr mindestens zwei Millionen Menschen das Leben kostet. (8)
(1) www.spiegel.de/politik/deutschland/fussfesseln-fuer-arbeitslose-verrueckte-idee-oder-verunglueckte-formulierung-a-353819.html
(2) Bertolt Brecht (2005): "Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band fünf Prosa": S. 62
(3) Friedrich Nietzsche (1881): "Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile", Drittes Buch, Aphorismus 173
(4) Zit. nach Robert Castel (2008): "Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit": S. 86
(5) www.kaffeeverband.de/kaffeewissen/kaffeekultur/geschichte/kaffee-in-deutschland
(6) www.gutefrage.net/frage/koffeintabletten-waehrend-der-arbeit
(7) Ännecke Winckel (2002): "Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland": S. 38
(8) ILO (2003): Safety in numbers: S.2
Literaturtipp
Michael Seidman, Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38. Mit einem Vorwort von Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011, 477 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-939045-17-5