Adam Roberts, Timothy Garton Ash (Hg.), Civil Resistance & Power Politics. The Experience of Non-violent Action from Gandhi to the Present, Oxford (Oxford University Press) 2011, 407 Seiten
Zivile, gewaltfreie Widerstandsbewegungen sind eine Konstante des 20. Jahrhunderts. Sie haben koloniale Herrschaft beendet (oder zu beenden geholfen), haben strukturelle Diskriminierung bekämpft, Regierungen gestürzt, und im ehemaligen „Ostblock“ haben sie zum Untergang eines militärischen Machtgebildes beigetragen, der über Jahrzehnte hinweg die Weltgeschichte mitbestimmte. Sie haben spektakuläre Erfolge errungen, große Niederlagen erlitten, und teilweise wurden sie im Blut ertränkt.
Massenhafter, gewaltfreier Widerstand war und ist, um eine bekannte Metapher von Karl Marx aufzugreifen, ein „Motor der Geschichte“.
Für die Wissenschaft allerdings waren und sind solche Bewegungen oft ein „Buch mit sieben Siegeln“. Das liegt sicher auch daran, dass in der Forschung zur Gesellschaft, Politik und Geschichte „Revolution“ noch immer, stillschweigend oder eingestandenermaßen, als gewaltsamer Umsturz herrschender Verhältnisse verstanden wird: als Sturm auf die Bastille. Man belächelte gewaltfreie Proteste lange Zeit als gut gemeint, moralisch vorbildlich, aber auch als ein bisschen naiv und letztlich wirkungslos.
Wie anders wäre es zu erklären, dass wissenschaftliche Autorinnen und Autoren keinerlei Hemmungen hatten, den blutigen Sturz des Ceaucescu-Regimes in Rumänien ohne Einschränkung als „Revolution“ zu bezeichnen, während sie bei anderen, gewaltfreien Umwälzungen im ehemaligen Ostblock ihre Zuflucht zu mehr oder weniger sprechenden, pressetauglichen Adjektiven nehmen mussten?
Die Revolution in Georgien 2003 wurde so zur „Rosafarbenen Revolution“, die in der Ukraine ein Jahr später zur „Orangenen Revolution“, und immer so fort. Gewaltfreie Revolutionen scheinen in den Augen der Wissenschaften farbenfroher zu sein als gewaltsame.
Tatsächlich aber ist es vermutlich genau dieses „bunte Treiben“, das einem streng an abstrakten Kategorien geschulten Wissenschaftler den Schweiß auf die Stirn treiben kann. Ziviler, gewaltfreier Widerstand erscheint bis heute als etwas kategorial Ungehöriges, Unberechenbares oder, mit dem Historiker Timothy Garton Ash zu sprechen, beinahe „Magisches“.
In der scheinbar so alternativlos wohlgeordneten Welt der Machtpolitik mit ihren Bündnissen, Versprechungen, Drohungen und ihrer Polizei ist gewaltfreier, ziviler Widerstand oft eine Störung der ererbten Denkgewohnheiten. Nur allzu oft waren Regimes, die mit gewaltbereiten Gegnerinnen und Gegnern mühelos fertig wurden, völlig überfordert, wenn ihnen Widerstand massenhaft und friedlich entgegengesetzt wurde.
Eine streng am Bestehenden orientierte Wissenschaft kann in Schwierigkeiten geraten, wenn sie sich mit solchen Phänomenen konfrontiert sieht: Woher kommen diese Bewegungen? Welches sind ihre Ziele? Welchen Einfluss haben sie tatsächlich ausgeübt? usw.
Die verdatterten Reaktionen der akademischen Eliten nach dem Aufkommen von Occupy! und die Abkanzelungen der Bewegung durch die hohe Politik – Joachim Gauck etwa nannte sie bekanntermaßen „albern“ – boten jüngst nur ein weiteres Beispiel für diese intellektuelle Hilflosigkeit. Alexis de Tocquevilles berühmter Ausspruch, keine Revolution sei je für so unwahrscheinlich gehalten worden wie die Französische, und keine sei in der Rückschau so unvermeidlich erschienen, gilt in noch weit größerem Maße für gewaltfreie Revolutionen überall auf dem Planeten.
Ganz auf „hard power“ (sprich: militärische Gewalt) und interstaatliche Machtpolitik fokussiert, hat die politik- und geschichtswissenschaftliche Forschung zivilen Widerstand als soziohistorische Größe lange vernachlässigt.
2011 ist nun ein Sammelband erschienen, der dieses Versäumnis auf beeindruckende Weise korrigiert: „Civil Resistance & Power Politics. The Experience of Non-violent Action from Gandhi to the Present“, herausgegeben von den britischen Historikern Adam Roberts und Timothy Garton Ash.
Hervorgegangen ist das Buch aus einem an der Uni Oxford angesiedelten Forschungsprojekt, „Civil Resistance and Power Politics. Domestic and International Dimensions“, das 2006 ins Leben gerufen wurde.
Wer nun allerdings die in Zeiten von Exzellenzclustern und Eliteuniversitäten zur Landplage gewordene akademische Schwatzhaftigkeit fürchtet – nach dem Motto: „Publish or perish!“ [‚Veröffentliche oder geh‘ zugrunde!‘] -, den erwartet eine freudige Überraschung. Denn die Beiträgerinnen und Beiträger zu „Civil Resistance & Power Politics“ gehören nicht nur zu den kompetentesten Vertreterinnen und Vertretern ihres Fachs.
Sie vereinen häufig auch eigenes Erleben oder sogar aktive Beteiligung an den von ihnen vorgestellten Bewegungen mit hohen analytischen Fähigkeiten. In ihren besten Momenten offenbaren die Beiträge zu „Civil Resistance & Power Politics“ jene Mischung aus Erfahrungs- und Reflexionswissen, ohne die keine große Wissenschaft entstehen kann.
Timothy Garton Ash, der den Sturz der kommunistischen Regimes in Polen und der Tschechoslowakei hautnah miterlebte, ist nur ein Beispiel von vielen.
Die Beiträge sind allesamt knapp gehalten und trotzdem randvoll mit faszinierenden Detailinformationen. Sie fügen sich auf ebenso erstaunliche wie erfreuliche Weise inhaltlich ineinander, und ihre Lektüre wird noch dadurch erleichtert, dass der Fußnotenapparat überschaubar gehalten wurde.
Die erstaunliche Kohärenz der 22 Bewegungsportraits ist kein Zufall: Die Herausgeber hatten die gute Idee, eine Reihe von Leitfragen zu stellen (sie finden sich auf den ersten Seiten des Bandes), denen sämtliche Beiträgerinnen und Beiträger mit im akademischem Betrieb (leider) ungewohnter Disziplin folgen. So liest sich „Civil Resistance & Power Politics“ fast wie eine Monographie und entfaltet ein ebenso informiertes wie differenziertes Panorama zivilen, gewaltfreien Widerstands im 20 Jahrhundert, von Chile bis nach China, von Nordirland bis zu den Philippinen, von Südafrika bis nach Ostdeutschland.
Ein gelungenes, anregendes, kompetentes und wissenschaftlich hochwertiges Buch zur Geschichte des gewaltfreien Widerstands ist auf diese Weise entstanden, das in keinem Bücherschrank fehlen sollte.
Man muss weit zurückdenken, um sich an eine ähnlich gelungene Veröffentlichung zum Thema zu erinnern.
Zwei der interessantesten und gewiss kontroversesten Leitfragen, denen sich die Autorinnen und Autoren in „Civil Resistance & Power Politics“ widmen, sind jene nach dem Einfluss etablierter Macht- und Herrschaftsstrukturen auf den Erfolg oder Misserfolg gewaltfreier Widerstandsbewegungen (eben den titelgebenden „Power Politics“) und nach dem oft komplexen und widersprüchlichen Verhältnis solcher Bewegungen zur Gewalt – eigener, fremder oder nur möglicher Gewalt von innen und außen. Es stellt sich bei der Lektüre rasch heraus, dass nur äußerst selten Gewaltfreiheit für zivile Bewegungen ein unhintergehbares moralisches Prinzip war (die Proteste der Mönche in Burma wären hierfür ein Beispiel).
Weit öfter war die Wahl der Mittel pragmatisch und orientierte sich an dem, was innerhalb eines realen Machtgefüges Aussicht auf Erfolg haben könnte.
Die im europäischen Westen fast schon vergessenen Massenproteste in den baltischen Ländern etwa waren vor allem deswegen gewaltfrei, weil über den Köpfen der Protestlerinnen und Protestler die Drohung eines militärischen Eingreifens der Sowjetunion schwebte, dem man nichts hätte entgegensetzen können.
Die Massenproteste in Estland, Litauen und Lettland sind außerdem ein aufschlussreiches Beispiel dafür, dass extremer Nationalismus keineswegs immer zu Gewalt führen muss.
Hier sorgte, paradoxerweise, die Gewaltandrohung durch den großen Nachbarn für die absolute Friedfertigkeit der Aktionen – und damit letztlich für deren Erfolg. Gleichzeitig stärkte die Zurückhaltung der Gorbatschow-Regierung, in die Politik der sowjetischen Teilrepubliken einzugreifen, zivilen Widerstand überall im Osten.
Machtpolitik und Gewaltandrohung bestimmten das Erscheinungsbild des zivilen Widerstands und waren mit verantwortlich für den Ausgang des Konflikts.
Das komplizierte Wechselspiel zwischen Gewaltfreiheit, Gewalt und Machtpolitik auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene konnte aber auch unmittelbarer und direkter sein. In Südafrika beispielsweise kombinierte der African National Congress (ANC) auf Drängen Nelson Mandelas gewaltfreien Widerstand mit terroristischen Aktionen durch seinen bewaffneten Arm Umkhonto we Sizwe [‚Speer des Volkes‘]. Tom Lodge weist in seinem interessanten Beitrag darauf hin, dass auch am Kap der Zusammenbruch des Ostblocks mitentscheidend für den Ausgang des Kampfs gegen die Apartheid war: Präsident de Klerk stimmte Verhandlungen mit Mandela unter anderem deswegen zu, weil eine Unterstützung des ANC durch die Sowjetunion nicht länger zu befürchten sei. Die scheinbare Schwächung des Gegners in den Augen der Machthaber war es also, die ihn zu einem akzeptablen Verhandlungspartner werden ließ.
Umgekehrt nutzten gewaltfreie Bewegungen immer wieder Machtkonkurrenzen innerhalb des etablierten Herrschaftssystems zu ihren Gunsten aus.
Manchmal schufen sie diese Konkurrenzen überhaupt erst durch ihre Aktionen und deren moralisches und politisches Gewicht. Der anarchistische Traum, im Akt des Widerstands faktische Macht- und Herrschaftsstrukturen einfach übergehen zu können, ist damit ausgeträumt. Gerade der Kalte Krieg war eine Zeit, in der Sieg oder Niederlage gewaltfreien Widerstands in einem paradoxen und oft verwirrenden Mit- und Gegeneinander globaler Machtakteure mitentschieden wurde: There was always a bigger fish.
Mindestens ebenso interessant wie die Frage nach dem Verhältnis von Gewaltfreiheit, Gewalt und Machtpolitik sind in „Civil Resistance & Power Politics“ die Überlegungen zur Wirkungsweise gewaltfreier Aktionen, über die schiere Masse ihrer Beteiligten hinaus.
Von Mohandas Gandhi bis zu Václav Havel erkannten führende Köpfe des zivilen Widerstands politischen Protest immer auch als eine Form der gelebten Inszenierung im öffentlichen Raum, als einen Akt der symbolischen Kommunikation und, in den Worten Doug McAdams zu sprechen, als „strategische Dramaturgie“. Nicht umsonst war das Zentrum des tschechoslowakischen Widerstands in Prag ein Theater, die „Laterna magica“. Und was war Gandhis berühmter Salzmarsch anderes als ein genial konzipierter, organisierter und durchgeführter Akt der Inszenierung – ein veritabler Theatercoup?
Sogar die Gewalt des Gegners konnten zivile Bewegungen, wenn sie klug und die Gegner dumm genug waren, zu ihren Gunsten medienwirksam inszenieren. Doug McAdams etwa zeigt auf, dass die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. keineswegs überrascht war, als bei ihren Aktionen 1963 in Birmingham (Alabama) der dortige Polizeichef „Bull“ Connor vor den Augen der entgeisterten US-amerikanischen Öffentlichkeit Schwarze mit Wasserkanonen über die Straßen schießen und scharfe Hunde auf friedliche Passantinnen und Passanten hetzen ließ: „[They] knew a good enemy when they saw one [‚Sie wussten, was sie an ihren Feinden hatten‘]…einen, auf dessen Dummheit und natürliche Bosheit sie sich verlassen konnten.
Beides würde ihnen in die Hände spielen“ (S. 68).
Die Tatsache, dass „Bull“ Connor acht Tage lang still hielt und die Proteste ignorierte, beweist, dass ihm durchaus bewusst war, wie da mit ihm gespielt werden sollte. Zuletzt aber siegte sein Rassismus über jegliche Vernunft.
Hält man den engen Zusammenhang von politischem Protest und öffentlicher Inszenierung bewusst, so erscheint auch die Beteiligung von Künstlerinnen und Künstlern aller Schattierungen an gewaltfrei-zivilen Protesten in neuem Licht.
Einerseits bewirkt jede zeitweilige Öffnung des Sozialen durch praktischen Widerstand ohnehin eine Explosion künstlerischer Kreativität, die über professionelle Milieus hinausgeht.
Andererseits aber waren und sind es nicht selten künstlerische Aktionen, die die Repressionsorgane verwirren, den Mut der Protestierenden stärken, nationale und internationale Kommunikation ermöglichen und, letztlich, die Wirksamkeit der politischen Inszenierung vergrößern oder sogar erst hervorbringen.
Ivan Vejvoda beschreibt in seinem Beitrag über die Proteste gegen das späte Milosevic-Regime, wie hilflos die wahrlich nicht zimperliche serbische Polizei den Aktionen von Otpor (‚Widerstand‘) gegenüberstand, die das Regime in satirischen Sketchen, aufgeführt auf öffentlichen Plätzen, der Lächerlichkeit preisgab, sich auch durch die Androhung massiver Gewalt nicht einschüchtern ließ und den berühmten, schwarz-weißen Aufkleber „Er ist am Ende!“ schließlich sogar der Sicherheitspolizei vor aller Augen auf die Schilde klebte (1).
Künstlerische Kreativität ist im politischen Widerstand beileibe keine Nebensache. Auch dies machen die versammelten Beiträge überzeugend deutlich.
„Civil Resistance & Power Politics“ ist ein streng wissenschaftliches Buch und eine historiographische Studie auf höchstem Niveau.
Dass man sie trotzdem passagenweise wie eine regelrechte „Widerstandsfibel“ lesen und sich gleichzeitig von hochfliegenden Illusionen frei machen kann, ist den Herausgebern durchaus bewusst – und keineswegs unangenehm.
Timothy Garton Ash schreibt in seinem abschließenden Beitrag, wenn die versammelten Arbeiten künftige Proteste inspirieren sollten, werde man sich sicherlich freuen, wenn diktatorische Regime sie dagegen als eine Art konterrevolutionäres Handbuch verwendeten, wohl eher nicht.
Beides allerdings liege nicht in der Hand der wissenschaftlichen Forschung.
Gerade dieses Bemühen um Nüchternheit und Unvoreingenommenheit – das man keinesfalls mit der ebenso alten wie unguten Chimäre wissenschaftlicher „Objektivität“ verwechseln sollte – ist vielleicht die größte Stärke von „Civil Resistance & Power Politics“.
Es macht das Buch zu einer materialreichen und inspirierenden Diskussionsgrundlage im besten Sinne des Wortes.
(1) Eine kritischere Auseinandersetzung mit Otpor findet sich in der GWR 373, Nov. 2012, S. 10 f.