Texte, auch Rezensionen brauchen einen griffigen Anfang, am besten eine knallige These, die Aufmerksamkeit erregt. Im vorliegenden Fall könnte man plakativ formulieren: Staatlichkeit sieht sich einer neuen Kritikwelle ausgesetzt! Anarchismus im Auftrieb!
So eindeutig, wie es sich in solchen Phrasen anhört, sind die Dinge zumeist nicht. Und so möchte ich lediglich zwei Bücher besprechen, deren Gemeinsamkeit in der grundsätzlichen Infragestellung von Herrschaft besteht. Interessanterweise in renommierten Verlagen publiziert – Suhrkamp das eine, Campus das andere – wird eine theoretische „Kritik der Souveränität“ (Daniel Loick) verfolgt, bzw. dem Kampf der „Demokratie gegen den Staat“ (Miquel Abensour) das Wort geredet.
Von einem „Anarchismus in Auftrieb“ kann leider zumindest insofern keine Rede sein, als dass beide Autoren das anarchistische Denken nicht diskutieren, vielmehr eine ganz andere Referenz haben: Karl Marx.
Abensour, emeritierter Professor für politische Philosophie in Paris, nimmt als Ausgangspunkt seines Buches die „Reflexion über das Schicksal der Demokratie in der Moderne“ (S.7). Unter Demokratie versteht er dabei keine Herrschaftsform, weshalb er den jungen Marx dafür lobt, „klipp und klar“ gezeigt zu haben, „dass der Kampf gegen den Staat – als Form – in das Herz der demokratischen Logik eingeschrieben ist. Die Demokratie ist antistaatlich oder gar nicht“ (S.12).
Gegen Ende des Buches heißt es in diesem Sinn dann, dass es „einen unüberwindbaren Konflikt zwischen Politik und Staat“ gebe (S.223).
Der junge Marx, den Abensour im Blick hat, ist der Verfasser der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 – einer „wegweisende[n] Untersuchung“ (S.7), hätten wir es doch mit einem „außergewöhnliche[n]“ (S.60), einem „einzigartige[n] Text“, „von einer grenzenlosen philosophischen Bedeutung“ (S.61) zu tun. Gegen Marx‘ eigene kritische Interpretation seiner frühen Schriften, verteidigt Abensour diese als Ausdruck eines Denkens, das das „Politische als Moment im Leben des Volkes“ festhalte, „damit sich die Freiheit und Universalität auf sämtliche Bereiche ausdehnen können, um sie zu durchdringen“ (S.171).
Dies sei es, was Marx als „wahre[.] Demokratie“ bezeichne (S.171) und mit dem er sich gegen die Reduktion des Politischen auf das Ökonomische und Soziale wehre. In diesem Sinne wende sich Marx auch gegen „den Weg der ethischen Anarchie von Moses Hess, der undifferenziert das Konzept des Staates und der Politik verabschieden wollte“ (S.171) und anerkenne stattdessen „die Legitimität des Konflikts in der Gesellschaft“ (S.173). Sosehr sich Marx in den folgenden Jahren tatsächlich auf die Ökonomie fokussiert habe, bleibe die 1843 formulierte Kritik der Politik „als eine versteckte und unterschwellige Dimension“ in seinem Werk bestehen (S.192), und sei „stets in der Lage“, „wieder zum Vorschein zu kommen“ (S.199) – so in Marx‘ Lob der Pariser Kommune 1871, wenngleich dort ein „Wechsel der Tonlage“ zu konstatieren sei (S.198): vom Anhänger der Wahlrechtsreform zum Sozialrevolutionär.
Die Ausführungen Abensours sind interessant, wenngleich sie in ihrer Stoßrichtung im Grunde nicht viel Neues präsentieren, auf das sich die These vom „Marx als Theoretiker des Anarchismus“ (Maximilien Rubel) stützt. Diese These mag man befürworten oder ablehnen – ich tendiere zu letzterem -,ärgerlich aber ist es, dass der eigentliche Anarchismus übergangen bzw. beiseite geschoben wird: um die eigene Marxinterpretation in einem umso helleren Licht erstrahlen zu lassen. So heißt es bspw., Marx markiere „in der Literatur zur Revolution eine neue Position“: „Sie ist weder jakobinisch, da es nicht mehr darum geht, sich des Staates zu bemächtigen, um ihn in den Dienst des Volkes zu stellen; der Jakobinismus entgeht nicht der Ironie der Geschichte: Als Revolution durch den Staat trägt er unwissentlich dazu bei, die Macht des modernen Staates zu vergrößern und zu perfektionieren. Noch ist die Position von Marx unmittelbar sozial, insofern es für ihn im Gegensatz zu bestimmten utopischen Schulen, die Martin Buber in seinem Werk über die Utopie treffend analysiert hat, nicht darum geht, die durch den Kapitalismus und den Staat zerstörte Sozialstruktur neu aufzubauen; es geht nicht darum, das Soziale zu restrukturieren, es zu erneuern, um den Staat überflüssig und hinfällig zu machen. Die Lehre der [Pariser] Kommune lautet – zumindest für Marx: Die gesellschaftliche Emanzipation der Arbeiter, der Arbeit gegen die Herrschaft des Kapitals, kann nur mittels einer politischen Form erfolgen, die Marx mehrfach als ‚Kommunalverfassung‘ bezeichnet. Eine (…) einzigartige politische Form, die aufgrund dieser Tatsache der Verselbständigung der Formen zu entkommen verspricht.“ (S.196f.)
Besteht die „neue Position“ von Marx 1871 nicht darin, sich einem Proudhon oder Bakunin anzuschließen, wie es auch ZeitgenossInnen interpretiert haben?
Gerade an dieser Stelle, an der es spannend wird – nicht zuletzt weil Abensour sich bisweilen bemüht, Marx gegenüber einem nicht näher ausgewiesen „Anarchismus“ positiv abzugrenzen (z.B. S.247; S.268) – brechen die Ausführungen Abensours ab oder werden undeutlich. Mir wurde nicht klar, welche Perspektive Abendsour vertritt: Setzt die Demokratie, bzw. der demokratische Kampf als stetiger Kampf gegen den Staat diesen grundsätzlich als „für immer“ existierend voraus? Oder ist die Demokratie Chiffre für einen staatsfreien Raum, in dem ein dauernder demokratischer Kampf gegen die Gefahr einer möglichen Wiedererstehung des Staates geführt wird? (S.265)
Mit Anarchismus scheint Abensour eine Art Friede-Freude-Eierkuchen-Harmonie-Denken zu assoziieren. Mir dagegen scheinen maßgebliche DenkerInnen des Anarchismus auch die Ansicht geteilt zu haben, dass es „immer möglich“ sei, „dass unter Menschen der Kampf ausbricht und die ursprüngliche Teilung zum Vorschein kommt, die die Gefahr der Spaltung, der Zersplitterung des Sozialen mit sich bringt“ (S.220).
Gerade deswegen setzten sie ja auf die u.a. von Abensour mit Rückgriff auf Marx stark gemachte „kommunalistische oder Rätetradition“ (S.213). Abensour schließt: „Die demokratische Revolution muss sich, will sie der modernen Idee der Freiheit gerecht werden, ständig mit dem Problem des Staates auseinandersetzen. Seit dem Sturz der bürokratischen Systeme, die vorgaben, sozialistisch zu sein, ist die Frage der Freiheit zur vordringlichsten Frage geworden, zur Grundfrage.“ (S.204f.) Womit sich dann der Kreis schließt, da „Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität ist“ (Bakunin).
Abensour hatte von der „Ironie der Geschichte“ im Fall des Jakobinismus gesprochen. Auch in Loicks Dissertation zur Kritik der Souveränität nimmt die Ironie eine wichtige Position ein. Ausgangspunkt ist für ihn: „Gewalt ist nicht selbstverständlicher Bestandteil einer anthropologischen conditio humana, einer natürlichen oder gottgewollten Ordnung. Aber der geringe Erfolg, den die Politik bei der Einhegung der Gewalt bislang erzielt hat, legt eine Überprüfung ihrer Mittel nahe – und zuerst eine Überprüfung des Axioms, die vorstaatliche Gewalt lasse sich nur selbst durch Gewalt bekämpfen.“ (S.21)
Loick erklärt: „Dass Gewalt mit Gegengewalt, Zwang mit Gegenzwang beseitigt werden kann, ist (…) eine empirische Annahme, keine apriorische, und es lassen sich an ihr empirisch beträchtliche Zweifel anmelden.“ (S.138f.) „Ironien“ ließen sich nun in den traditionellen Theorien der Souveränität (Jean Bodin, Thomas Hobbes, Immanuel Kant usw.) erkennen, als dass deren „Gewalteindämmungsversuche“ letzten Endes nur neue Rechtfertigungen für souveräne, staatliche Gewalt lieferten und diese verewigten (S.142); der vorausgesetzte „natürliche[.] Kriegszustand“ werde so nicht wirklich beendet, dessen Überwindung vielmehr „strukturell versperrt“ (S.280).
Gegen eine solche „politische Theorie, welche die Fundamente der vorgefundenen Politikformen unhinterfragt übernimmt und die ironische Absurdität ihres elementaren Prinzips nicht denunziert, sondern immer wieder ratifiziert: dass sich Gewalt durch Gewalt reduzieren lassen soll“ (142f.), wendet sich Loick mit seinem Konzept einer „kritischen Theorie der Souveränität“.
Diese bringe „die Vermutung in Anschlag“, „dass nur durch eine grundsätzliche Überwindung konventioneller Formen staatlicher Herrschaft das gesellschaftliche Gewaltaufkommen reduziert, politische Ausgrenzung und Repression vermindert werden können“ (S.22).
Eine solche Theorie nehme ihren Ausgangspunkt bei Marx. Dessen Schrift Zur Judenfrage (1843) stelle das „Gründungsdokument der Geistesgeschichte der kritischen Theorie der Souveränität“ dar (S.156).
Loick: „Zwar haben sich auch vor Marx politische Theoretiker_innen kritisch auf den Zustand der Souveränität in ihren jeweiligen Gesellschaften bezogen, aber nicht kritisch auf die Idee der Souveränität als solche“ (S.156).
Man fragt sich, was Proudhon eigentlich schon vor Marx erörtert hat. Findet sein Name auch keine Erwähnung, erfährt man nebenbei, dass Marx in mancher Hinsicht, „trotz aller zeitgenössischer Grabenkämpfe eine Nähe zum Anarchismus“ besessen habe (S.167). Hier wäre eine Erörterung der Gründe für diese „Grabenkämpfe“ interessant gewesen, stand bei diesen doch jenes von Loick kritisierte Konzept der Souveränität im Zentrum. Wenn Loick hervorhebt, dass sich „Emanzipation (…) seit Marx nicht mehr im Vokabular der Polizei, im Vokabular der Souveränität zu formulieren“ habe (S.167), könnte man anmerken, dass der anarchistische Vorwurf an Marx gerade darin bestand, Emanzipation nach wie vor „im Vokabular der Souveränität zu formulieren“. Loicks Bezug auf Marx ist nicht sonderlich ausgeführt, wie Abensour sieht sich auch er mit dem Umstand konfrontiert, Marx ein Stück weit gegen sich selbst wenden zu müssen: gegen die „reduktiven Tendenzen“, die sich „vor allem im Spätwerk von Marx“ finden würden und in denen „der Staat seine Eigenständigkeit“ als Untersuchungsobjekt immer mehr verliere (S.155).
Im Folgenden wendet sich Loick vielem zu, was Rang und Namen in der neueren politischen Philosophie hat: Michel Foucault, Giorgio Agamben, Jacques Derrida, Hannah Arendt, Walter Benjamin.
Hinzu kommen Ausführungen zur feministischen Souveränitätskritik und abschließende Diskussionen von Franz Rosenzweig und Robert Cohen.
Immer wieder sind dabei Bezüge zum anarchistischen Denken mit Händen zu greifen.
Loick: „Die Revolutionäre müssen selbst ihren Anspruch auf Souveränität, auf Entscheidungskompetenz in letzter Instanz, einbüßen, um das Ende der historischen Serie von Ersetzungen und somit die Überwindung aller Setzungen, Voraus-Setzungen und Vor-Setzungen herbeiführen zu können.“ (S.277) Und wie heißt es bei Jean Grave: „Man sieht aus dem Vorhergegangenen, dass wir weit entfernt sind, bei jeder Gelegenheit und ohne alle Ursache Diejenigen unterdrücken zu wollen, welche nicht unserer Ansicht sind, wir verlangen im Gegentheil das Recht oder vielmehr die Mittel, das natürliche, unvergängliche, menschliche Recht auszuüben, uns zu organisiren wie es uns am besten dünkt, und Diejenigen, welche nicht denken wie wir, frei lassen sich zu organisiren wie sie es für gut befinden.“
Wenn im Anschluss an Walter Benjamin davon die Rede ist, dass bei diesem „bereits in der revolutionären Praxis eine Form der kollektiven Koordination vorweggenommen“ werde, „die in der befreiten Gesellschaft an die Stelle der Heteronomie der Rechtgewalt treten kann“ (S.276), mag dies den einen oder die andere an das Jurazirkular (1871) erinnern.
Wenn Axel Honneth im Vorwort des Buches vom „aufgeklärten Anarchismus“ Loicks spricht (S.16), muss hinzugefügt werden, dass dieser Anarchismus so aufgeklärt ist, dass er einer Diskussion des (unaufgeklärten?) Anarchismus konsequent aus dem Weg geht.
Das Fazit von Loicks Untersuchung ist die „Idee eines Rechts ohne Souveränität“, dass die „normative[n] Potentiale des Rechts“- verstanden als „Institutionalisierung eines egalitär verfahrenden Regelsystems“ – gerade dadurch freisetzt, dass „das retardierende Moment – die Gewalt – aus der Rechtspraxis entfernt wird“ (S.310).
Vorgeschlagen wird: „Weil sie [die radikal demokratische Gesellschaft, die auf das Konzept der Souveränität verzichtet] ihr Recht nicht mit Zwang durchsetzt, bekommt sie den Charakter einer freiwilligen und insofern an-archischen Assoziation. Das Recht ohne Zwang hat dann die Form einer gemeinsam getroffenen Vereinbarung – mit den einer Vereinbarung eigenen persuasiven Ressourcen, aber ohne die Sanktionsgewalt, sie durchzusetzen -, es dient der Koordination kollektiver Handlungen und gesamtgesellschaftlicher Kooperation und dadurch auch der Entlastung von Entscheidungsüberforderung im Alltag und der Installation zumindest schwacher Erwartungsstabilität.“ (S.320)
Fazit
Ich denke, dass die Frage von Recht und Gesetz eine der schwierigsten und zentralsten ist, mit welcher sich eine emanzipatorische Theorie und Praxis auseinander zu setzen hat -, allein der Umstand das Gewaltproblem, bzw. die Gewaltfrage auf eine fundamental kritische Art gestellt zu haben, gibt diesem Buch einigen Wert.
Und verschwiegener Anarchismus hin oder zurechtgebogener Marx her; Bücher wie die hier besprochenen mögen in ihrer sympathischen Stoßrichtung Ausgangspunkte für Gespräche sein, bei denen alle Beteiligten etwas lernen können.
Miquel Abensour: Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 269 Seiten, 24,95 Euro
Daniel Loick: Kritik der Souveränität. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2012, 346 Seiten, 34,90 Euro