Nach Klassikern wie „Anarchie!“ von Horst Stowasser oder „Gelebtes Leben“ von Emma Goldman trägt der neueste publizistische Beitrag der Edition Nautilus zur anarchistischen Bewegung den Titel „Anarchistische Welten“.
Herausgeber des Sammelbandes ist der in Wien lebende Publizist und Autor Ilija Trojanow.
Wirft man einen Blick in das Inhaltsverzeichnis, findet man in anarchistischen Kreisen einerseits bekannte Namen wie Osvaldo Bayer, Uri Gordon, Gerhard Senft und David Graeber, andererseits aber auch Leute wie Vandana Shiva, die man zwar mit progressivem Aktivismus, nicht jedoch sofort mit dem Anarchismus in Verbindung bringen würde.
Der Herausgeber schreibt im einleitenden Artikel (im Grunde das Vorwort), dass in der „libertären Tradition […] genügend Anregungen“ existierten, „die Welt anders zu organisieren, den Kapitalismus kritisch zu analysieren, um ihn zu überwinden.“ (S. 22) Dabei schlössen sich „[u]topisch-revolutionär und konkret-pragmatisch, naturnah und technikversiert, Kopfarbeit und Handarbeit“ (S. 22) nicht aus. So vielfältig, wie diese Schlagworte hier klingen, sind tatsächlich auch die Texte dieses Sammelbandes.
Hier wird einiges abgehandelt das thematisch stellenweise recht weit voneinander entfernt liegt und sich fallweise inhaltlich Unkonventionellem widmet. Manchmal wird an alte anarchistische Diskussionen aus dem 19. Jahrhundert mit Argumenten aus dem 21. Jahrhundert angeknüpft. Rebecca Solnit und Frans de Waal diskutieren zum Beispiel Themen, die stark an Peter Kropotkin und sein Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ erinnern.
Dabei diskutiert Solnit den recht spezifischen Fall, wie (Natur-)Katastrophen Menschen – entgegen der Meinung von Mainstreammedien wie beispielsweise im Fall „Katrina“ in New Orleans dargestellt – häufig dazu veranlassen das zu praktizieren, was Kropotkin „gegenseitige Hilfe“ nannte und eben nicht das „Jeder-gegen-Jeden-Chaos“ ausbricht. Obwohl sie eingesteht, dass seit dem Postmodernismus Begriffe wie „menschliche Natur“ problematisch geworden seien, argumentiert sie, dass „durch die Außerkraftsetzung der gewöhnlichen Ordnung“ aufgrund von Katastrophen und „durch das Versagen der meisten Systeme“ darauf zu reagieren, die Menschen „frei werden, anders zu leben und zu handeln“ (S. 65) und sich so quasi „[a]us der Hölle ein Paradies“ (so auch der Titel des Texts) bauten. Auf den Punkt gebracht: Fällt das staatliche Korsett temporär weg, kann beobachtet werden, dass die Leute solidarisch sind, sich helfen und nicht damit beginnen, sich wie wild die Schädel einzuschlagen, wie uns immer versucht wird einzureden.
Einige Texte behandeln Fragen der Ökologie und Nachhaltigkeit (Shiva, Gordon, Boeing, Fremeaux/Jordan).
Wer hier gleich an Anarchoprimitivismus denkt, liegt glücklicherweise falsch, denn der wird von keinem der AutorInnen als anzustrebende Alternative in Erwägung gezogen – Niels Boeng bezeichnet Derrik Jensens Buch „Endgame“, das in dieser Szene recht beliebt ist, zum Beispiel als ein „verstörende[s] Pamphlet“ (S. 191).
Uri Gordon wählt aber ähnlich drastische Worte und schreibt von einem „Endkampf zwischen dem zwangsläufigen Bedürfnis des neoliberalen Kapitalismus nach unendlichem Wachstum und den begrenzten Ressourcen eines einzelnen Planeten.“ (S. 200) Gleichzeitig läutet er auch den „unvermeidlichen Zusammenbruch“ des kapitalistischen Systems und die „Wende“ ein, dessen „Geburtswehen“ unsere Generation nun miterlebe. (ebd.)
Diese Einschätzung scheint mir doch etwas sehr optimistisch, denn den „Zusammenbruch des globalen Kapitalismus“ (ebd.) haben schon viele Generationen prophezeit – nur beeindrucken ließ sich der globale Kapitalismus davon scheinbar nicht wirklich. Er treibt sein Unwesen bis heute munter weiter.
Weitere Beiträge beschäftigen sich zum Beispiel mit Anarchismus in Argentinien (Bayer) und Bulgarien (Konstantinov; der Beitrag ist aber eher eine anarchistische Abrechnung mit dem sog. „Staatssozialismus“), mit anarchistischen Positionen zu ökonomischen Fragen (Senft, Graeber) …
Wer den roten Faden im Sammelband sucht, wird Schwierigkeiten haben, diesen zu finden. So liest man beispielsweise nach den philosophische Polit-Reflexion Luz Schulenburgs einen Erlebnisbericht eines Klimacamps in England, gefolgt von einem Artikel mit dem Titel „Ökonomie, Herrschaft und Anarchie“ des Wiener Wirtschaftsprofessors Gerhard Senft.
Das muss nicht notwendigerweise ein Kritikpunkt sein. Anarchistische Welten können viele verschiedene Gesichter haben und unterschiedlichste Themenfelder beackern und dennoch zusammenhängen. Eben das scheint in etwa der Zugang des Buches zu sein.
Dennoch kann ein fehlender roter Faden in einem Sammelband auch irritieren. Der thematischen Heterogenität der Beiträge ist es zu verdanken, dass vermutlich für alle LeserInnen auch etwas dabei ist, das sie richtig interessiert. Die Kehrseite dessen ist, dass die Chance nicht gering ist, sich bei dem einen oder anderen Text eher schwer zu tun einen Zugang zu finden oder Interesse zu entwickeln.
Verstärkt wird das dadurch, dass es thematisch dann und wann sehr speziell wird. Ob das gefällt oder nicht, ist aber wiederum reine Geschmacks- und Interessensache, denn wer zum Beispiel Interesse an libertären Positionen zu spezifischen Fragen von Technologie (wie im Text von Boeing) oder archäologisch-historischen Ausführungen mit libertärem Einschlag (Der Text von Douglas Park trägt den Titel: „Timbuktu und die selbstorganisierenden Zivilisationen der Vorzeit“) hat, wird hier definitiv fündig.
Der Untertitel des ersten Aufsatzes des Bandes, verfasst vom Herausgeber selbst, beschreibt recht gut, welchen Eindruck der Sammelband hinterlässt: Er wirkt wie eine „kurze Reise durch die glorreiche Vielfalt anarchistischen Denkens und Wirkens“ (S. 5).
Insofern ist diese bunte Mischung an Texten mit seinen vielschichtigen und speziellen Zugängen zu diversen Themen sicher ein Band, der nicht in die Kategorie „08/15-Anarchismus-Buch“ gehört.
Ilija Trojanow (Hg.): Anarchistische Welten. Edition Nautilus, Hamburg 2012. 224 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-89401-764-4