In Österreich wurde am 20. Januar 2013 in einer so genannten Volksbefragung über die Abschaffung der "Wehrpflicht" abgestimmt. Aber die "Wehrpflicht" bleibt, sie fand 59,8 Prozent Zustimmung. Am höchsten fielen die Zustimmungswerte in Vorarlberg aus (66%), nur im Bundesland Wien gab es eine Mehrheit (54,2%) gegen die "Wehrpflicht" und für eine Berufsarmee plus freiwilligen Sozialdienst. Es fragt sich allerdings, ob der Kampf gegen die Wehrpflicht in Europa, ganz unabhängig vom Abstimmungsergebnis in Österreich, aus antimilitaristischer Sicht nicht vorher schon längst verloren wurde.
Die Abschaffung der „Wehrpflicht“ war lange Zeit eine zentrale antimilitaristische Forderung. Mittlerweile ist die „Wehrpflicht“ in den meisten europäischen Staaten zugunsten reiner Berufsarmeen gestrichen worden.
Dennoch muss die Bilanz aus Sicht eines radikalen Antimilitarismus ernüchternd ausfallen. Vielleicht ist sie auch deshalb bisweilen ausgeblieben. Wenig jedenfalls war zu lesen über die fast vollständige Absenz antimilitaristischer Argumente in den Wehrpflichtdebatten. Dass es in 24 von 28 NATO-Staaten keinen Zwang zum Dienst an der Waffe oder im Sozialbereich mehr gibt, ist vor allem wirtschaftlichen und militärischen Effizienzkriterien geschuldet.
Die Abschaffung der Kriegsdienstpflicht als Einfallstor in eine Demilitarisierung der Gesellschaft, dieser Plan ging nicht auf. Pazifistische Haltungen, gewaltfreie Konfliktlösung, Entmilitarisierung des Sozialen – all das spielte bei der Abwicklung der „Wehrpflicht“ keine Rolle.
Stattdessen wurde das Kriegführen perfektioniert.
Auch wenn die so genannten Humanitären Interventionen etwas aus der Mode geraten sind, wie Jon Western und Joshua S. Goldstein in der Zeitschrift Foreign Affairs konstatieren, über Teilprivatisierungen von Militäreinsätzen sowie den Aufschwung von Sicherdiskurs und -branche hat die Kriegsindustrie deutlich an legitimatorischem Fahrtwind gewonnen. Insofern er dieser Legitimierung kaum etwas wirksam entgegensetzen konnte, ist der Antimilitarismus gescheitert.
Die Legitimation der „Wehrpflicht“ hatte neben den militärpolitischen immer zwei zivile, gewissermaßen caritative Stränge: einerseits galten die Soldaten als nette Helfer in der Not (z.B. Oder-Hochwasser 1997), andererseits wurden die Zivildienstleistenden als unersetzliche, da billige Pflegekräfte beschrieben. Als ließen sich Katastrophenhilfe und Sozialarbeit nicht anders regeln als innerhalb eines militärpolitischen Kontextes.
Demgegenüber ließen sich im Grunde nur zwei annähernd triftige Gründe für die Wehrpflicht konstruieren. Beide erwachsen ihr allerdings eher als nicht intendierte Nebenfolgen – und sind insofern auch keine plausiblen Rechtfertigungen: Wie die meisten Zwänge der Moderne gab es selbst bei der allgemeinen „Wehrpflicht“ immer schon Effekte, die nicht vollständig in Kontrolle oder Disziplinierung aufgehen.
Erstens ist das Allgemeine in der allgemeinen Wehrpflicht zwar etwas Vereinheitlichendes, aber wie die Schuluniform eben auch etwas klassenmäßig Gleichmachendes im egalitären Sinn: Bürger und Bauern haben die gleichen Pflichten, auf deren Grundlage letztere auch neue Rechte einklagen konnten. Und wie die Teflonpfanne, obwohl als Abfallprodukt im Krieg der Sterne entstanden, zweitens die alltägliche Praxis des Bratens erleichtert hat, hat es auch seinen praktischen Nutzen, dass junge Männer, obwohl unter Zwang und Demütigung, ihre Fähigkeiten im Bettmachen und Schuheputzen erwerben konnten.
Im Zivildienst sogar Pflegearbeit. Allerdings sind die Rollenmuster und Gender-Zuschreibungen stabiler, als dass sie von Zwangseinrichtungen wie der „Wehrpflicht“ nebenher aufgeweicht werden könnten.
Kaum ist die „Wehrpflicht“ abgeschafft, fällt die Care-Arbeit wieder ganz den Frauen zu.
Wie vorher schon beim Freiwilligen Sozialen Jahr (2004: 76%) und beim Freiwilligen Ökologischen Jahr (2004: 68%) ist auch beim Bundesfreiwilligendienst, der die Wehrpflicht abgelöst hat, der Trend klar: Der Prozentsatz an Frauen, die in die Altenheime, Behinderten-WGs usw. gehen, ist nur ein Jahr nach Abschaffung von Waffen- und Zivildienst in Deutschland laut einer Studie der Hertie School of Governance deutlich höher als der von Männern.
In Österreich waren der Abstimmung über die „Wehrpflicht“ eher parteitaktische als antimilitaristische Diskussionen vorausgegangen. Die Fragen, die der Bevölkerung vorgelegt wurden, lauteten wie folgt: „Sind Sie für die Einführung eines Berufsheeres und eines bezahlten freiwilligen Sozialjahres? Oder sind Sie für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht und des Zivildienstes?“
Beide Fragen sind irreführend, ja genau genommen falsch gestellt. Denn erstens gibt es seit Jahrzehnten ein Berufsheer, ob mit oder ohne Wehrpflicht. Und zweitens ist der Zivildienst Teil der allgemeinen „Wehrpflicht“ und nicht seine Alternative.
Er wurde erkämpft von Leuten, die aus Gewissengründen den Dienst an der Waffe nicht leisten wollten bzw. konnten.
Der Wehrdienst konnte nach bestandener Gewissensprüfung – man höre mal wieder Franz-Josef Degenhardts „Befragung eines Kriegsdienstverweigerers“ (1972) – damit umgangen werden, nicht aber die Wehrpflicht. Um ihr zu entgehen, konnte man vor 1989 nach West-Berlin ziehen, sich von kumpelhaften Ärzten untauglich schreiben lassen oder, in der politischen Variante, totalverweigern.
TKDV
Die Totale Kriegsdienstverweigerung (TKDV) – die tätige Ablehnung von „Wehr“- und Zivildienst – hatte ihre Hochphase in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Es gab Bundestreffen der Totalverweigerer (TKDVer) mit bis zu 100 Teilnehmern, zwei bundesweite Totalverweigerer-Kollektive – Gruppen von Leuten, die sich nicht nur gegenseitig bei den gegen sie geführten Prozessen besuchten – und sogar ein eigenes publizistisches Organ, Ohne Uns. Zeitschrift zur Totalen Kriegsdienstverweigerung (als Rundbrief 1984 gegründet, seit Ende der 1990er Jahre nur noch sporadisch erschienen).
Die argumentativen Grundlagen waren unterschiedliche.
Zum einen stand die Ablehnung des so genannten NATO-Rahmenkonzepts zur zivil-militärischen Zusammenarbeit und Gesamtverteidigung im Vordergrund (Imperialismusargument).
Dies machte unmissverständlich klar, dass auch Zivildienstleistende einen Kriegsdienst leisten, weil auch sie im Zweifelsfall – Heiner Geißler hatte das damals betont – zur Minenräumung eingesetzt werden könnten.
Zum anderen ging es aber auch um Grundsätzliches: Verweigerung gegenüber dem staatlichen Zugriff (Zwangsarbeitsargument), Gegnerschaft zur systematischen physischen und psychischen Zurichtung (Disziplinierungsargument) und/oder die Ablehnung von Männlichkeitsritualen (Patriarchatsargument).
Als der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) 1992 seine „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ erließ, sah man sich vor allem im Antiimperialismus bestätigt. Unverholen hieß es darin, die Bundeswehr habe der Wahrung und Durchsetzung der „legitimen nationalen Interessen“ Deutschlands zu dienen, wozu explizit auch die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ gezählt wurden.
Dass das Ministerium bis heute als eines der „Verteidigung“ ausgegeben wird, ist vor diesem Hintergrund eine saubere Neusprech-Errungenschaft, wie George Orwell sie in seinem Roman 1984 beschrieben hatte. Anders als im Bereich der so genannten „Kernenergie“, die semantisch an die Gefahren der Atombombe angelehnt und alltagssprachlich als „Atomenergie“ durchgesetzt werden konnte, ist es den antimilitaristischen sozialen Bewegungen nicht gelungen, hier effektiv sprachpolitisch zu intervenieren.
Und als Wolfgang Schäuble (CDU) Mitte der 1990er Jahre begann, seinen diskursiven und bis heute währenden Feldzug für den Einsatz des Militärs im Inneren des Landes zu führen, waren ihm die Wehrpflichtigen schon egal. Zuverlässige Arbeit inmitten der eigenen Bevölkerung geht schließlich auch besser mit Profis statt mit gezwungenen Jungmännern aus dieser Bevölkerung. Aber trotzdem: Von Institutionen ist nicht erst seit den Jahren nach 1968 bekannt, dass sie die Leute, die in ihnen tätig sind, tendenziell mehr verändern als die Leute die Institutionen transformieren können.
Das gilt auch für das Militär.
Warum und wie sollten ausgerechnet die Schwächsten in einer durch und durch hierarchischen Organisation verhindern, dass sich ein „Staat im Staat“ herausbildet?
Dass die Durchschnittseinberufung das Heer demokratisiert und zivilisiert, war schon immer eine müde und kaum belegbare Behauptung.
In Wirklichkeit wurden Generationen junger Männer schlicht zum Schießen und zu männerbündischem Saufen erzogen (inklusive der genannten, aber kurzlebigen reproduktionsarbeitsbezogenen Nebeneffekte).
Die aufgeführten Argumente gegen die Wehrpflicht sind auch heute noch stichhaltig. Nur hat man sie sich, haben wir sie uns zu sehr aneinander gekoppelt gedacht. In der Analyse hieß das, Staat braucht Militär braucht Zwang braucht Disziplinierung braucht männliche Zurichtung.
In der Strategie bedeutete es: Wenn die Wehrpflicht fällt, sind wir nicht nur einen Zwang los, sondern direkt damit verbunden auch kleine Schritte weiter im Kampf gegen Imperialismus, Disziplinierung und Patriarchat. Schritte, die wir uns selbst erkämpft hätten. Dass das Militär dann aber in eine andere Richtung marschierte, dass also die Wehrpflicht aus ganz anderen, nämlich wirtschaftlichen Gründen abgeschafft werden könnte, damit war nicht zu rechnen. Wir hatten die Rechnung ohne die Ökonomie gemacht.
Gescheitert ist der Kampf gegen die Wehrpflicht also nicht bloß in Österreich, sondern schlechthin. Gescheitert ist der Antimilitarismus aber nicht, weil „Analysen und Training“ durch „pazifistische und anarchistische Rhetorik“ ersetzt worden sind.
Das hatte der Friedensforscher Theodor Ebert 2001 in seinem Buch Opponieren und Regieren mit gewaltfreien Mitteln behauptet und damit vor allem gegen die 1989 ins Leben gerufene Kampagne „Bundesrepublik ohne Armee“ (BoA) polemisiert. Vielmehr ist die Flexibilität des Gegners unterschätzt worden. Staatliche Herrschaft selbst ist mobiler geworden.
Sie braucht die enge Verknüpfung von nacktem Zugriff auf die Bevölkerung und bemäntelnder Pädagogik nicht mehr. Das Militär der Gegenwart ist nicht mehr so eng an die politischen Staatsapparate gebunden. Die Bedeutung, die es in der Erfüllung staatlich-erzieherischer Aufgaben innehatte, ist geschrumpft. Didaktische Manöver sind der effizienten Eingreiftruppe eher hinderlich.